Der Sozialismus ist anderswo

07.08.2007
Christa Wolf und ihre Dichterfreunde zog es einst nach Mecklenburg, die Polit-Prominenz des Westens in die Toskana. Städter, die es sich erlauben konnten, sind immer gern geflohen. Nur raus aus dem Lärm der Metropolen, weg vom Chaos, aufs Land, in die Abgeschiedenheit, hinein ins Idyll.
Georgi Danailov flüchtete vor dreißig Jahren aus Sofias Plattenbauten in ein entlegenes Rhodopen-Dorf. Der Autor, 1936 geboren, ist in Bulgarien sehr angesehen; hierzulande kennt man ihn noch wenig. In der endlos langen Ära Schiwkow, unter den Kommunisten, litten die Danailovs.

Der Vater – ein oppositioneller Politiker – durfte nicht als Anwalt arbeiten, die Familie wurde aus der Hauptstadt verbannt. "Ich war sozusagen der Sohn eines volksfeindlichen Elements", sagt Danailov heute. "Wir waren sicher keine Dissidenten, aber wir wurden in diese Rolle gedrängt." Georgi durfte später trotzdem studieren, Chemie und Physik. Er wurde Laborleiter in einer Konservenfabrik, dann folgte er seiner Neigung und schrieb – Prosa, Drehbücher, Dramen. Seine Stücke liefen in Moskau, Prag, Bratislava.

Seit der Kindheit hatte Georgi Danailov ein Sehnsuchtsbild: Winterwald mit Hütte, des Abends leuchtet ein Fenster. Wann immer er das Bild sah, spürte er ein sanftes, trauriges Rufen. An einem Wochenende in den Siebzigern ist der Schriftsteller dem Ruf gefolgt, einem Weg tief hinein in die Berge.

"Plötzlich schien es, als öffne sich der Wald, das Gebirge veränderte sich vor unseren Augen, verbreiterte sich, stieg eindrucksvoll an und wahrhaftig, an einem der Hänge zeigten sich die steinernen Dächer des Dorfes. Von weitem sah es aus, als würde es sich in die Felsen hinein ducken. Und über all dem erhob sich ein Glockenturm, weiß und schlank."

Kovačevica heißt das Dorf; Gassen mit Kopfsteinpflaster, die Häuser Mauer an Mauer gebaut und in den Gassen, in den Häusern kauzige Damen und alte Herren, die einander "Baj", Gevatter, rufen. Dann das Haus, das Danailov billig kaufen wird: die überdachte Veranda mit Kamin, Backofen, Wandbank, die Deckenbalken, mehr als zehn Meter lang, und – reizvolles Detail – in mancher Kammer ein verborgenes Türchen, durch das die Bewohner einst vor den Türken fliehen konnten. Der Wirt (er soll im Haus wohnen bleiben) ist ein bärtiger Alter mit Schirmmütze und Krückstock, "Baj Kiro, wie geht’s?"

Der Städter, im Sozialismus aufgewachsen, fühlt zum ersten Mal Besitzerstolz, "von hier bis hier, und von dort bis dort", die alte Pforte, die Feldsteinmauern, die wilde Kirsche – alles sein und eigen. "Der Plattenbau-Mensch ist geschädigt. Er hat sich daran gewöhnt, in einem Heim aus Beton zu leben und zu sterben, nur sollte als Folge dieser Anpassung nichts Gutes erwartet werden."

Mit Danailov kommt eine wahre Invasion von Hauptstädtern in das sterbende Dorf – ein Tolstoi-Übersetzer, ein Mathematiker, der beste Mechaniker des Landes, ein Professor für Geologie, dann gar ein Deutscher, Gerd aus West-Berlin; sie schieben durch die Gassen, steigen durch die Häuser, bis die Dörfler überzeugt sind, es müsse Gold im Ort geben. "Sonst würden die doch nicht aus zweihundert Kilometer Entfernung her kommen."

Die Fremden suchen anderes. Im Staat regieren "Unordnung, Schwüle und Finsternis"; weitab von diesem Staat wollen die Nonkonformisten ihre eigene Ordnung schaffen. "Neben all seinen Reizen war der zweifellos größte Vorteil dieses Rhodopendorfes, daß hier niemand den Sozialismus errichtete; die Hunde bellten, bis sie es überdrüssig waren, die Vögelein sangen bis zur Besinnungslosigkeit..." Es ist die uralte, reine, bukolische Utopie; irgendwann muß sie zerbrechen: Der erste "Verräter" bringt einen Fernseher in den Ort, einen Kühlschrank, ein Telefon, schon bröckelt das Idyll.

"Ein Haus jenseits der Welt": Langsam ticken die Uhren in Kovačevica. Die Ödnis macht stoisch, auch wunderlich, und sie schärft den Blick. Danailov sammelt seine Eindrücke. Zu Prosa verdichtet, wird aus den Notizen ein nostalgischer Bericht, verfasst im Stil der Bauernschnurren und Kalendergeschichten. Der Autor schreibt in betont schlichtem Ton, mit Schalk und Sentiment. (Manchmal wirkt er belanglos, geschwätzig.) Er überrascht mit feinsinnigen Porträts und deftigen Dialogen. Das Buch erscheint 1997, dann 2003 in einer neuen Ausgabe (der nun die Übersetzung folgt). Sein Verfasser wird daheim gefeiert; der Roman sei "das bulgarischste Buch" seit Ivan Vasov (1850-1921), dem Übervater der modernen Literatur des Landes.

In der Tat: Dies ist eine sehr bulgarische Geschichte, samt ihrem Abschluß in der Gegenwart. Die Wende von 1989 erlebt der Autor erst als Befreiung, dann als Katastrophe, einem Erdrutsch vergleichbar, der alle Gewißheiten fortspült – im Land und fernab zwischen den Felsen. Im Ort wachsen Neid, Gier, Haß. "Freiheit", erkennt der Dichter, "kann man weder essen noch trinken." Nachts hört er bisweilen ein Dröhnen, Mauern stürzen und Dachplatten aus grobem Stein.

Am Tag sieht der einstige Zuwanderer neue Leute in Kovačevica, Männer in teuren Autos, "Snobs" nennt er sie, Leute mit zweifelhaftem Geld und zweifelhaftem Geschmack. Für Georgi Danailov sind sie die Fremden, die Bösen, und er vergißt, daß auch er so ein Fremder war. Am Ende, bei Rundblick und Rückschau, wird der Erzähler demütig und bescheiden. "Ich weiß, daß ich mit einer wunderbaren Reise beschenkt worden bin. Ich weiß, daß ich auf dem Weg Philosophen getroffen und von ihnen gelernt habe. Ich weiß nicht, ob ich ein guter Schüler war."


Rezensiert von Uwe Stolzmann

Georgi Danailov: Ein Haus jenseits der Welt
Aus dem Bulgarischen von Ines Sebesta.
Wieser Verlag, Klagenfurt 2007, 230 Seiten, 21 Euro