Der Schwarzmaler

Von Siegfried Forster |
Der fast 90-jährige Maler Pierre Soulages ist ein Meister der Abstraktion. Er hat ein Faible für die Radikalität der Farbe Schwarz. Sie ist sein Markenzeichen von der Kunst bis zur Kleidung.
Die Vernissage beginnt mit dem Blitzlichtgewitter der Fotografen. Der Schwarzmaler umgeben von seinen Werken als Motiv für die Blackbox der Pixeljäger – oder die Kunst, Licht ins Dunkel zu bringen. Am 24. Dezember, an Heilig Abend, wird Pierre Soulages 90 Jahre alt. Doch er fühlt sich weder als Methusalem der schwarzen Farbe, noch als Heiliger oder Revoluzzer der Kunst. Für ihn zählen einzig und allein Präsenz und Gegenwart.

Pierre Soulages: "Die Kuratoren wollten einen chronologischen Ausstellungsrundgang. Normalerweise sorge ich dafür, dass die Besucher zuerst die heutigen Werke sehen und anschließend die Zeit zurückgehen. Das ist meine Sicht der Dinge. Denn wenn man mit dem Anfang anfängt und dann zu den letzten Werken kommt, dann denken alle, das ist das Ende. Das stört mich. Denn für mich ist das nicht das Ende. In meinem Atelier sind Leinwände, die noch nicht trocken sind."

Soulages ist groß gewachsen, gutaussehend, wirkt unglaublich jung und hat mit seinem markanten Gesicht ein Schauspielerprofil à la Cary Grant. Schwarz ist sein Markenzeichen: von der Kunst bis zur Kleidung: von den blitzblankpolierten Schuhen bis zum Hemd mit offenem Kragen. Bis heute steigt er für seine bis zu drei Meter hohen Leinwände auf Leitern: Er bedeckt, malträtiert, schraffiert sie mit dem seit Jahrzehnten gleichen Elfenbeinschwarz. Die neuesten Werke sind gerade ein paar Monate alt: schwarze Flächen mit visuellen Fugen, Tälern und Flüssen für Lichtspiegelungen, Schatten und vor allem gedankliche Reflexionen.

"Ich mache mir einen Spaß daraus, festzustellen, dass vor 340 Jahrhunderten die Menschen in der Chauvet-Höhle mit Schwarz gemalt haben. Die Menschheit hat lange Zeit in Grotten, an den dunkelsten Orten, mit Schwarz gemalt. Das ist umwerfend."

Soulages kommt 1919 als Sohn eines Kutschenbauers im südfranzösischen Rodez auf die Welt. Ein Provinz-Sprössling, der im Alter von fünf Jahren seinen Vater verliert und schon als Kind leidenschaftlich malt. Als 19-Jähriger entdeckt er Paris und die Kunstwelt. Die Hochschule für Künste missfällt ihm und so bleibt er sein Leben lang Autodidakt und Einzelgänger. Während des Kriegs versteckte er sich mit gefälschten Papieren als Weinbauer in Montpellier. Ausgerechnet ein Band über "Entartete Kunst" bedeutet für ihn die Offenbarung, bemerkt Soulages-Spezialist und Kurator Alfred Pacquement:

"Er hat zufällig in einem Buch ein Werk von Mondrian entdeckt. In einem Artikel über die 'entartete Kunst'. Paradoxerweise hat dies sein Interesse für die moderne Kunst geweckt."

Bereits im Jahr 1948 schmückt eines seiner Werke das Plakat für eine große "Ausstellung der französischen abstrakten Malerei" mit Stationen in Stuttgart, München, Düsseldorf, Hannover, Frankfurt, Hamburg, Freiburg. Soulages tourt durch Europa und die USA, schafft den Einzug in die Kunstgeschichte. Auf die Frage: Warum Schwarz, antwortet er stets: "deshalb". Auch wenn er sein Faible eingesteht für die Autorität, den Tiefgang, die Radikalität der Farbe Schwarz.

Pierre Soulages: "Ich habe bereits als Kind meinen Pinsel immer in schwarze Tinte getaucht – was die Erwachsenen, die mir viele Farben geschenkt hatten, immer enttäuschte. Die Erwachsenen fragten mich, was die Striche auf dem Blatt bedeuten sollten – und ich antwortete: Schneeflocken."

Sein Geheimrezept formulierte er einmal mit den Worten: "Malerei ist eine Organisation, ein Ensemble von Beziehungen zwischen Formen, auf denen der Sinn entsteht oder vergeht, den man ihnen schenkt."

In den Ausstellungssälen laden weiße Sofas zum Verweilen ein. Ein Clin d’œil dafür, dass viele Betrachter im Schwarz seiner Gemälde förmlich versinken. Schwarze Löcher, die sich von der Leinwand bis zum Auge des Betrachters erstrecken, in denen die Seele baumeln und der Esprit hin und her schaukeln kann.

"Manche sagen, dass ich die Malerei revolutioniert habe. Ich habe die Dinge nie so gedacht. Das entspricht nicht meiner Art zu denken: Revolution, Kontinuität. Nein, ich weiß, was mir entspricht, was ich tun muss. Wenn sich das dem Rest entgegenstellt, dann ist das eben so."

Die Retrospektive umfasst Werke aus über 60 Jahren und erhellt, wie gleichmäßig seine Karriere verlief. Anders als viele annehmen, jedoch nicht eintönig. Anfangs bringt er kalligraphieähnliche Formen auf weißem Hintergrund zum Leuchten oder Nussbeize auf Papier. Später trägt er Braun, Rot oder Blau auf die Leinwand auf, bevor er es mit Schwarz übertüncht und erst hinterher stellenweise mit einer Lederklinge wieder freikratzt oder wegbürstet. Erst seit den 90er-Jahren präsentieren sich die meisten seiner Werke schwarz wie die Nacht. Die Farbe zentimeterdick aufgetragen und kraftvoll mit Streifen und Formen-Relief versehen. Dass diese riesigen Leinwände himmlisch von der Decke hängen und knapp über dem Boden schweben, erleichtert das räumliche Eintauchen in diese Welt des "Outrenoir". Ein Phänomen, das er "Überschwarz" oder "Jenseits des Schwarz" nennt. Schwarz nicht als monochrome Angelegenheit, sondern als vielfarbig schimmernde
Einfarbigkeit:

"Outrenoir, dieses Wort habe ich erfunden. Wichtig ist, was man dadurch empfindet. Was in uns angesprochen wird. Der mentale Raum … Das Outrenoir ist ein anderes Land als das einfache Schwarz. Denn dieses Schwarz ist im Grunde nicht mehr schwarz."