Der schöpferische Akt der Fragestellung

Vorgestellt von Michael Stürmer · 17.12.2006
"Allensbach sagt voraus..." - das war für Politik und Wirtschaft seit Konrad Adenauers Kanzlerjahren Schicksalsweisung für die Zukunft und ist es noch. Nur dass die Grand Old Lady der deutschen Demoskopie nunmehr in die Vergangenheit schaut, die eigene. Ihr Buch heißt einfach "Die Erinnerungen", und lebt von dem Markenzeichen Noelle-Neumann.
320 Seiten sind nicht nur Chronik eines bewegten und bewegenden Lebens, sondern auch Reflexion über die Deutschen, ihre Werte im Wandel, und ab und zu erlauben die Kapitel auch einen Blick in tiefere Seelenschichten - erstaunlich für eine Wissenschaftlerin, deren Handwerk das Fragen und Beobachten, Messen und Zählen ist. Zum Beispiel Engel:

"Seit 5000 Jahren glauben Menschen an Engel. Bildlich dargestellt wurden sie zuerst von den Sumerern und Babyloniern als geflügelte monumentale Wesen. Das frühe Christentum stellte die Engel erdnah dar, ohne Flügel und männlich. Erst seit dem 5. Jahrhundert erhalten auch christliche Engel ihre Schwingen. Mit der Frührenaissance wurde der Eros populär, Frauen und nackte Kinderengel tauchten auf. In der Neuzeit schließlich entwickelte sich große Freiheit in den Vorstellungen und Darstellungen der Engel. Bei dem Maler William Blake wurde der Engel zum Lichtwesen und bestätigte damit den heiligen Augustinus, der auf die Frage, aus welchem Stoff Engel seien, erklärte: Licht und Äther. Das war auch die Auffassung des Papstes Johannes Paul II., der sagte, Engel seien geistige, körperlose Wesen. Oder, bei anderer Gelegenheit: Engel seien Licht."

Shakespeare sagt durch den Mund Hamlets, es gebe mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Von Elisabeth Noelle-Neumann kommt kein Einspruch. Im Gegenteil, sie erinnert sich bis heute an eine Licht-Erscheinung ihrer Kinderzeit:

"Man kann kaum beschreiben, welche Bedeutung das für mich hatte. Wenn ich später gefragt wurde, woher ich mein Selbstbewusstsein habe, antwortete ich: Vom Besuch der Engel."

Sie war ein eigenwilliges, widerborstiges Kind, schwierig für sich selbst und alle, die ihr nahe standen. Allein zu sein, machte ihr nichts aus, und bis heute hält sie das einsame Zelt im Garten des Elternhauses für den richtigen Platz zum Nachdenken. Solche Überzeugungen festigten sich früh und befähigten sie, ihren eigenen Weg zu gehen. Nicht nur durch die Schule, sondern auch im Studium, wo sie noch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg ein Stipendium für die USA gewann. Das wurde für sie lebensentscheidend, erlernte sie doch dort die von Professor Gallup entwickelten Methoden der repräsentativen Umfrageforschung, die nicht mehr möglichst alle Leute befragte, sondern einen Querschnitt der Bevölkerung.

Mit solchem Wissen allerdings konnte sie im Deutschland der Diktatur wenig anfangen, und als sich die Chance bot und Goebbels, der böse Geist des Regimes, sie als Assistentin haben wollte, fiel sie zur Abwehr in eine schwere Krankheit. Sie schrieb im Krieg, solange das noch möglich war, für die altehrwürdige Frankfurter Zeitung, dann für "Das Reich", manchmal mit erstaunlicher Offenheit ihre Distanzen markierend, was ihr dann Schreibverbot einbrachte. Die Zeit der ernsthaften Meinungsforschung kam erst nach dem Krieg.

"Wir begannen sofort mit der Arbeit, mieteten eine Garage in Allensbach, direkt am See, wenige Grundstücke von unserem Wohnhaus entfernt, stellten die ersten Mitarbeiter ein und entwickelten Fragebögen. Am 8. Mai, genau zwei Jahre nach Kriegsende, fanden die ersten Interviews im Auftrag der französischen Militärregierung in der Volksschule von Ludwigshafen am Bodensee statt."

Alles begann in einer Garage - wie später für Bill Gates und Microsoft. Man erfährt in diesen Erinnerungen viel über Handwerk und Methoden der Umfrageforschung, aber das Buch ist kein Manual, keine Gebrauchsanweisung, sondern sehr viel mehr. Denn immer wieder geht es um den schöpferischen Akt der Fragestellung, an der alles hängt. Denn die Werteforschung, die Allensbach von den meisten anderen, später entstandenen Instituten unterscheidet, will ja nicht nur wissen, was den Menschen bewusst ist, sondern auch in das Unbewusste eindringen, gewissermaßen die Seele. Das ist es, was die Ergebnisse über den Tag hinaus wertvoll macht, und vergleichbar über lange Zeitreihen und über die Landesgrenzen hinaus. Niemand wird die Geschichte der zweiten deutschen Republik, der Einheit und der Jahre seitdem schreiben können, ohne im Bergwerk dieses deutschen Mentalitätsarchivs die erzführenden Adern aufzuspüren.

Elisabeth Noelle hätte auch eine große Journalistin werden können, bis zum 30. Lebensjahr schien ihr dieser Weg vorgezeichnet, und sie hat in der Tat viel geschrieben, Bücher und wissenschaftliche Aufsätze, Zeitungsartikel, darunter ihr am wichtigsten die Theorie der "Schweigespirale", mittlerweile in über 30 Sprachen übersetzt. Das beruhte auf der Erkenntnis, dass die Menschen sich fürchten, mit ihrer Meinung alleinzustehen. Vorherrschende Meinungen werden dadurch verstärkt, unpopuläre Meinungen verschwiegen. Die Political Correctness regiert. Das demoskopische Bild wird dadurch verzerrt.

"Dieser Prozess ist nicht immer und überall anzutreffen, sondern nur bei Themen, die starke moralische Aufladung haben, also wo Ideologie, Aufregung und Emotion im Spiel sind. Ohne moralische Begründung kommt der Prozess der öffentlichen Meinung nicht in Gang. Wer anders denkt, ist nicht dumm, sondern schlecht. Aus dem moralischen Element zieht die öffentliche Meinung ihre Kraft, ihre Isolationsdrohung, welche die Schweigespirale in Gang setzt."

Ebenso wichtig wie die Schweigespirale war die Erkenntnis der Motive, die die politischen Wahlen bestimmen - oder nicht bestimmen.

"In der Politikwissenschaft wie auch in der öffentlichen Diskussion wurde landauf, landab das irreführende Ideal des rationalen Wählers gezeichnet, der seine Entscheidung auf der Grundlage sachlicher Informationen über die Parteien, ihre Programme und ihre Gestaltungsmöglichkeiten kühl wie bei einer ökonomischen Kosten-Nutzen-Rechnung abwägte."

Elisabeth Noelle hat immer darum gekämpft, die Demoskopie zu einer anerkannten Sozialwissenschaft zu machen. Zum einen, indem das Unternehmen in Allensbach stets in Grundlagenforschung investierte, zum anderen durch ihre Veröffentlichungen zu Methodenfragen.

Vieles bleibt in diesen Erinnerungen nur angedeutet, was man gern genauer wüsste - so am wichtigsten die Frage, was Glück ist.

"Aktives Handeln, die selbständige Reaktion auf Herausforderungen, das zupackende Bewältigen von Aufgaben zählen zu den wichtigsten Glücksquellen. Mit dem Erfolg wachsen das Selbstbewusstsein des Einzelnen und damit das positive Lebensgefühl ... Glück wird nicht gefördert durch besonders viel Freizeit, möglichst große soziale Sicherheit oder eine Vielzahl von Freizeitangeboten ..., sondern durch die Chance selbständig und eigenverantwortlich zu handeln."


Elisabeth Noelle-Neumann: Die Erinnerungen
Herbig Verlag, München 2006
Elisabeth Noelle-Neumann: Die Erinnerungen (Coverausschnitt)
Elisabeth Noelle-Neumann: Die Erinnerungen (Coverausschnitt)© Herbig Verlag