Der schöne Geist und die Ferne zur Politik

Vorgestellt von Rolf Schneider |
Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels wird in diesem Jahr an den Soziologen Wolf Lepenies verliehen. Rechtzeitig vor der Preisverleihung und der Frankfurter Buchmesse hat Lepenies sein neues Buch "Kultur und Politik" auf den Markt gebracht. Darin untersucht er die Geschichte der Beziehungen zwischen diesen beiden Sphären und konstatiert, dass sich Kultur in Deutschland beinahe immer durch eine natürlich erscheinende Distanz zur Politik definiert habe.
In diesem Jahr wird der Friedenspreis des deutschen Buchhandels an Wolf Lepenies verliehen. Der in Berlin ansässige Soziologe ist Verfasser zahlreicher Bücher, deren erstes den Titel "Melancholie und Gesellschaft" trug, während sich das vorletzte dem französischen Kritiker Charles-Auguste Saint-Beuve widmete. Rechtzeitig zu Frankfurter Buchmesse und Festakt in der Paulskirche legt er nun eine neue Arbeit vor, die "Kultur und Politik" heißt.

Nicht bloß hier, auch in früheren Veröffentlichungen, zu denen allerlei stilistisch beeindruckende Texte für Tages- und Wochenblätter gehören, zeigt sich Lepenies’ starkes Interesse fürs Kulturelle. Wenn der Begriff im Titel eines 440-Seitenbuches aufscheint, möchte man eine einigermaßen präzise Definition erwarten, um anschließend etwas über die Geschichte der Beziehungen von Kultur und Politik zu erfahren, über wechselseitige Inanspruchnahme, partielle Verweigerung und verbreitete Ignoranz. Das Buch handelt davon bloß unter anderem. Schon der Untertitel, er lautet "Deutsche Geschichten", macht aufmerksam auf die Heterogenität der Texte und ist nicht einmal zutreffend, da lange Passagen mit französischen und US-amerikanischen Themen befasst sind. In der Geisteslandschaft beider Länder kennt Lepenies sich aus, auch da er dort Hochschullehrer war.

Sein Buch erweist sich, bei genauerem Hinsehen, als Versammlung von allerlei Einzelbetrachtungen, deren Zusammenhalt außer durch den Passepartout-Titel durch die Person des Verfassers und dessen Vorlieben hergestellt wird. Manches kehrt ständig wieder, bis zur Redundanz, voran Thomas Mann und von dem vornehmlich die "Betrachtungen eines Unpolitischen", jene skandalumwitterte Charta des deutschen Kulturkonservatismus, von der, kaum dass sie erschienen war, ihr Autor offiziell nichts mehr wissen wollte, obschon er sie auch niemals zurücknahm, denn an vielen der dort geäußerten Überzeugungen hielt er lebenslang fest.

Überhaupt reduziert sich, ohne dass es ausdrücklich so erklärt wird, Lepenies’ Kulturbegriff auf Literatur und Geisteswissenschaft, unter besonderer Berücksichtigung der Soziologie. Musik kommt kaum, Bildende Kunst kommt überhaupt nicht vor. Selbst die schöne Literatur tritt nur selektiv auf. Gehandelt wird von Lessing, Goethe, Friedrich Schlegel, von Novalis, Fontane, Gottfried Benn und Mitgliedern der Familie Mann, außer Thomas sind das noch Heinrich und Klaus.
Insgesamt wird dem schönen Geist bei den Deutschen eine grundsätzliche Politikferne bescheinigt.

"Kultur war in Deutschland lange Zeit ein Ort der Kompensation für vorenthaltene politische Partizipation. Die Politikferne hatte wenig mit dem deutschen Nationalcharakter - und viel mit deutscher Geschichte zu tun. Als ihnen die Mitwirkung an den Angelegenheiten der polis verwehrt wurde, wandten sich viele Geistesarbeiter von der Politik ab und sahen von nun an in politischer Indifferenz das Merkmal, das sie als Kulturträger auszeichnete."

Das klingt griffig, aber stimmt das denn so? Hat es nicht immer wieder, seit Schubart, seit Forster, auch die direkte politische Teilhabe gegeben, in Gegnerschaft zu den bestehenden Verhältnissen wie auch in Affirmation dazu? Bei Ferdinand Freiligrath und Richard Wagner findet sich das eine und das andere. Von Lepenies wird eine ganze Reihe belangvoller Namen überhaupt nicht genannt, nicht Georg Büchner noch Ludwig Börne noch einer der Autoren des Vormärz noch die linke Literatur zwischen Mühsam und Toller, von den Kommunisten zu schweigen.

"'Kultur' definiert sich im Deutschen immer noch durch eine beinahe natürlich erscheinende Distanz zur 'Politik'. (...) In der deutschen Sprache klingt 'Kultur' ebenso positiv, warm und viel versprechend, wie 'Politik' einen ambivalenten, kalten und verdächtigen Klang hat."

Sagt Lepenies und folgert:

"Manches Mal konnte es scheinen, als sei Deutschland ein Land ohne Politik, ein Staat mit Untertanen, aber ohne Bürger. Ein Staat ohne Kultur aber wollte Deutschland nie sein. In Deutschland konnten lange Zeit sowohl der Nationalismus als auch der Anti-Nationalismus durch die bewusste Überschätzung von Kulturleistungen charakterisiert werden."

Das ist, wenn es denn jemals flächendeckend zutraf, die deutsche Gemütslage der fünfziger Jahre, eher noch die der bürgerlichen Zustände um 1900. Spätestens mit der Revolte von 1968 wurde dies zur Gänze obsolet. Im deutschen Osten verhielten sich die Dinge seit 1945 ohnehin völlig anders.

"Innerhalb der deutschen kulturellen Eliten gab es weitgehende Übereinstimmung darin, dass die Demokratie den Deutschen ebenso wesensfremd sei wie die Auffassung von Politik als der Kunst des Möglichen. Die kunstfremde Kultur des politischen Kompromisses auszubilden wurde als Schwäche angesehen."

Es ist der unerschütterliche Geist von Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen", der aus solchen Sätzen spricht, und wenn Wolf Lepenies so beharrlich darauf zurückgreift, hat es mit der eigenen Neigung zu tun. Sein Buch ist eine Anthologie seiner geistigen Vorlieben, die er manchmal nur kurz aufscheinen lässt, manchmal detailliert ausbreitet, ohne dabei auf zwingende Zusammenhänge immer zu achten; manchmal plaudert sich das auch einfach so dahin. Der Autor schreibt über deutsch-jüdische Symbiose. Er schreibt über die intellektuelle Einflussnahme von Deutschen auf Denker in den USA. Er äußert sich über Texte eines aus Deutschland in die Vereinigten Staaten emigrierten protestantischen Geistlichen. Manchmal verliert er sich in bloßem Name-Dropping und im Zusammenstellen einander bestätigender Zitate. Anderes ist dann wieder recht speziell und betrifft innerdisziplinäre Ereignisse im Faches Soziologie, wie das Verhältnis zwischen Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen.

Lepenies ist ein guter Erzähler. Nicht nur seine im Vorwort mitgeteilten Erinnerungen an das Bombardement Dresdens 1945 beweisen es, auch die Art, wie er vom Schicksal des Maurice Halbwachs erzählt.

Dieser französische Soziologe, Schüler des bedeutenden Émile Durkheim, war ein Zeitlang in Berlin Korrespondent für die sozialistische Tageszeitung "L’Humanité" und wurde 1910 von den deutschen Behören des Landes verwiesen. Während der Besetzung Frankreichs nach 1940 nahmen die Nazis ihn fest. Er war mit einer Jüdin verheiratet, und seine beiden Söhne kämpften in der Résistance. Halbwachs wurde ins KZ Buchenwald deportiert, wo er umkam; Jorge Semprun hat sein Sterben begleitet und literarisches Zeugnis davon gegeben. Derart einen wichtigen Vertreter der eigenen Zunft ausführlich zu würdigen, ist eine gute Tat.

So beträchtlich Lepenies’ Kenntnisse der französischen und nordamerikanischen Zustände sind, so fremd ist ihm das östliche Europa. Er scheint ernsthaft der Ansicht, die Ironie sei ein westliches oder westeuropäisches Privileg. Hat er sich nie mit polnischer Belletristik befasst? Weiß er nicht, dass Anton Tschechow ein ironisches Genie von Weltrang war?

Den um 1985 in der politischen Diskussion virulenten Begriff "Mitteleuropa" ordnet er Friedrich Naumann zu. Aber die Sache verhielt sich anders. Der Begriff wurde seinerzeit in Österreich und dort zumal von dem konservativen ÖVP-Politiker Erhard Busek in Umlauf gebracht. Es sollten sentimentale Erinnerungen an das alte Habsburgerreich geweckt und als Konterbande wider die kommunistischen Diktaturen benutzt werden, was Dissidenten wie Václav Havel und György Konrád sofort begriffen und dankbar übernahmen.

Der Abschnitt über den Zusammenbruch der DDR und die Rolle der dortigen Intellektuellen ist das schwächste Stück im Buch.

"Es war für die Intellektuellen der DDR schmerzlich, ihre Fehleinschätzung zu erkennen. Am schlimmsten war: Sie hatten auf dem Feld ihrer ureigensten Kompetenz geirrt. Sie hatten weder eine politische Struktur verkannt noch falsche ökonomische Voraussagen abgegeben. Sie hatten die Bedeutung von Worten missverstanden."

Das trifft für einen kleinen Teil der DDR-Intelligentsia zu, für Leute wie Stefan Heym, Heiner Müller und Christa Wolf, die eine gewisse Systemnähe pflegten. Für andere wie Jens Reich, Richard Schröder und Bärbel Bohley stimmt es keinesfalls. Ansonsten enthält dieser Aufsatz nichts, was andere nicht früher, detaillierter und besser beschrieben haben.

Der 1941 geborene Lepenies ist ein typischer Vertreter seiner Generation in seinem Milieu. Er ist westorientiert und wurde erkennbar geprägt von kulturellen Leistungen aus Ländern der ehemaligen Westalliierten. Einmal bringt er es auf eine hübsche Formel:

"Im Westen Deutschlands wurde nach 1945 die Kultur zur Kriegsgewinnlerin - und die Politik profitierte davon. Die kulturelle Westorientierung nahm die Integration in das politische Bündnis vorweg und trug später zu seiner Stabilisierung nicht unwesentlich bei."

Das ist so meines Wissens noch nie gesagt worden, und auch wenn Zweifel bestehen, ob dergleichen für die Generation der Wirtschaftswunder-Westdeutschen, die sich abends im Kino Heimatfilme ansahen und gegen englischsprachige Schlager im Radio wüteten, wohl gleichermaßen zutrifft, für die intellektuellen Avantgarden stimmt es allemal.

Wolf Lepenies steht für einen modernen Liberalkonservatismus, wie ihn auch Joachim Fest, Michael Stürmer, Peter Sloterdijk und Frank Schirrmacher vertreten. Sie alle sind eloquent und kenntnisreich, kunstsinnig, skeptisch und weltläufig. Derzeit bestimmen sie den intellektuellen Diskurs im Land, da die intellektuellen Linken, voran ihr Guru Habermas, vergrätzt im Eck hocken. Wie lange solche Vorherrschaft der Mitte-Rechts-Denker anhält, wollen wir sehen.

Wolf Lepenies: Kultur und Politik
Deutsche Geschichten
Carl Hanser Verlag, München 2006