Der Schmerz der Entwurzelten

„Vertriebene“ – das ist Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vielfach nur ein Schlagwort in politischen Debatten, in denen kaum sichtbar wird, welche Schicksale sich dahinter verbargen und welche Traumata bis in die Gegenwart wirken. Über zehn Millionen Deutsche waren nach 1945 von Flucht und Vertreibung betroffen.
Hilke Lorenz, selbst aus einer Familie stammend, die ihre Heimat verloren hat, stellt in zehn Kapiteln zehn Familienschicksale vor – beginnend mit der Geschichte ihrer eigenen Großeltern: Meist sind es Frauen, die von einer Stunde zur anderen mit ihren Kleinkindern und nicht viel mehr als einem Koffer voll Habseligkeiten den Weg an ein ungewisses Ziel im Westen antreten mussten.

Lorenz erzählt von einem jungen Mädchen, das dazu eingeteilt war, die toten Kinder an den Straßenrändern der Flüchtlingswege aufzulesen; sie berichtet von traumatischen Fluchterlebnissen eines Kindes zwischen Erschöpfung und Fliegerangriffen, die prägend für ihr ganzes Leben wurden. Die Familiengeschichten stellt sie aus dem Blickwinkel derer dar, die als Kinder oder Jugendliche die Flucht erlebt haben: Geschichten von jahrelangen Alpträumen, von der Sehnsucht nach der geborgenen Welt vor der Katastrophe, von dem Gefühl, in der neuen Heimat Bundesrepublik Außenseiter gewesen zu sein. Dennoch – im Laufe der Jahre haben sie sich in der neuen Heimat eingerichtet und haben zumeist beruflich und privat Erfolg gehabt.

Diese heute betagten Menschen haben der Autorin auch von den die Traumata ihrer Eltern erzählt und den Auswirkungen auf sie, die Kinder. Dabei reagierten die Eltern sehr unterschiedlich auf das Erlittene: Die einen empfanden das Erzählen als beste Therapie, andere verschlossen die Gedanken an die Vergangenheit tief in sich und verdrängten die Erinnerung an das schönere Leben vor der Katastrophe, wieder andere verklärten die Existenz in der alten Heimat und weigerten sich, in der neuen Wurzeln zu schlagen.

Dementsprechend unterschiedlich erlebten die Kinder aus solchen Familien ihre Eltern: Die einen bekamen immer wieder dieselben Geschichten zu hören und verweigerten sich alsbald den Erzählungen und alten Bräuchen, mit denen sie nichts anzufangen wussten. Andere wollten mehr über die Kindheit und Jugend ihrer Eltern im unerreichbar fernen Land wissen, stießen aber auf eine Mauer des Schweigens.

Schließlich erfasst Hilke Lorenz auch die Perspektive der Enkel und erfährt: mitunter wirken die Folgen des durch Flucht und Vertreibung ausgelösten Schmerzes bis in die übernächste Generation. Den einen ist die Heimat ihrer Großeltern immer fremd geblieben, in anderen fanden die Großeltern jene wissbegierigen Zuhörer und Forscher nach den eigenen Wurzeln, die sie in den eigenen Kindern vermissen mussten.

Der Autorin gelingt es, die Schicksale plastisch darzustellen, den Schrecken der Flüchtlingstrecks ohne Rührseligkeit und Schuldzuweisung darzustellen. Man merkt der Anteilnahme in ihren Texten an, dass auch sie selbst etwas abzuarbeiten hat, dass auch sie sich in ihrer Kindheit vielfach ausgeschlossen gefühlt hat und ihre Familie, wie es vielen Aussiedlern erging, zunächst die Ablehnung der Alteingesessenen zu spüren bekam. Ihr Buch ist ein ebenso engagierter wie besonnener Beitrag zur Diskussion um Flucht und Vertreibung.

Besprochen von Stefan May

Hilke Lorenz: Heimat aus dem Koffer – vom Leben nach Flucht und Vertreibung
Ullstein, Berlin 2009
304 Seiten, 19,90 Euro