Der Schlamassel, der sich Leben nennt

19.05.2011
Ein Krimi, wie es noch keinen gab: Sallis lässt die Handlung organisch entstehen, scheinbar wuchernd wie im wirklichen Leben, zusammengesetzt aus wechselnden Zeitebenen und Perspektiven, aus Träumen, Erinnerungsfetzen und Phantasien.
James Sallis schert sich nicht um Genres und hält nichts von literarischen Schubladen. Er hat in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts Science-Fiction geschrieben, arbeitete 20 Jahre lang als Atemtherapeut und Rettungsspezialist, hat Lyrik, musiktheoretische Werke und Biografien verfasst, bevor er 1992 seinen ersten Kriminalroman veröffentlichte. All diese Erfahrungen und Grenzüberschreitungen schlagen sich jetzt in seinem bislang außergewöhnlichsten Buch nieder: "Der Killer stirbt" ist ein Kriminalroman, wie es noch keinen gab.

Da ist zunächst ein in die Jahre gekommener, namenloser Profikiller, von Medikamenten und vom Tod gezeichnet, der seinen letzten Job übernimmt. Er soll den unscheinbaren Buchhalter Rankin umbringen. Er geht vor wie immer, späht die Zielperson aus, belauert sie. Doch dann kommt ihm ein Konkurrent zuvor – und vermasselt den Auftrag. Der Buchhalter überlebt, und der Killer hat fortan das Gefühl, dass er verfolgt wird.

Dann ist da Jimmie, ein Junge, von beiden Eltern verlassen, der sich mit Internet-Geschäften durchs Leben mogelt und seltsame Träume hat, die denen des Killers verdächtig ähneln. Und schließlich ist da der von seiner sterbenskranken Frau verlassene Polizist Sayles, der gemeinsam mit seinem Partner Graves den Mordversuch auf den Buchhalter aufklären will und sich in eine schier aussichtslose Fahndung per Internet und Laufarbeit verbeißt. Und über allem schwebt die Bloggerin Traveller mit ihren Prophezeiungen, angeblich eine Soldatin aus dem Jahr 2063, "in geheimer Mission unterwegs".

Einsamkeit und Tod, Beziehungslosigkeit und Verwahrlosung, aber auch Sterben in Würde, der Wert der Erinnerung und die Notwendigkeit von Beistand und Trost, um den unberechenbaren Schlamassel, der sich Leben nennt, halbwegs heil zu überstehen – das sind die großen Themen, die James Sallis auch in seinen früheren Büchern aufgegriffen hat, aber noch nie so konsequent in einen Roman umgesetzt hat wie hier. Die Psychologie der Figuren entsteht zwischen den Zeilen, in lakonischen Dialogen und trocken knisternder Prosa, die in ihrer ganzen schmucklosen Nüchternheit eine ungemein poetische Kraft entfaltet: "Der Killer stirbt" ist ein im Grundton tief melancholisches, im Laufe der Erzählung aber auch ungemein tröstliches und menschliches Buch.

Einen Plot im herkömmlichen Sinn gibt es nicht. Das ist Sallis’ große Kunst: Er lässt die Handlung organisch entstehen, scheinbar wuchernd wie im wirklichen Leben, zusammengesetzt aus wechselnden Zeitebenen und Perspektiven, aus Träumen, Erinnerungsfetzen und Phantasien. Die Protagonisten umkreisen einander, sei es im Internet oder auf den Straßen von Phoenix, Arizona, um sich letzten Endes nur kurz und zufällig tatsächlich zu begegnen. Ein klassischer Krimi ist "Der Killer stirbt" nicht, wohl aber ein hinreißender Roman noir, eine hardboiled novel vom Feinsten: auf jeden Fall große Literatur.

Besprochen von Georg Schmidt

James Sallis: Der Killer stirbt
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeld
Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2011
251 Seiten, 18,90 Euro
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