Der schillernde Rebell

28.01.2010
Anhand des Lebens des 68er-Rebellen Dieter Kunzelmann beschreibt Aribert Reimann die Geschichte der Avantgardebewegungen in der Bundesrepublik. Reimann geht vor wie ein guter Kriminalist: Er ermittelt in alle Richtungen, penibel, leidenschaftlich, aber nie distanzlos.
Eine ganze Habilitation auf einen Gegenstand zu verwenden, heißt zwangsläufig, ihn zu nobilitieren. Das kann fatal sein, wenn der Forschungsgegenstand eine moralisch dubiose Person der Zeitgeschichte ist und obendrein noch lebt. Der Historiker Aribert Reimann entgeht dem Dilemma, indem er nicht einfach eine Biografie erforscht. Vielmehr begreift er Dieter Kunzelmann als symptomatisch, wenn nicht exemplarisch für die ganze komplexe Geschichte der künstlerischen und politischen Avantgardebewegungen in der Bundesrepublik nach 1945.

Kunzelmann, geboren 1939 als Sohn katholisch-liberaler, eben nicht nazibelasteter Eltern in Bamberg, ist sicher die schillerndste Figur der 68er-Generation. Polit-Clown für die einen, antisemitischer Terrorist für die anderen. Hyperaktiv, mediengeil und mediennotorisch dank der "Kommune 1" und deren "sex and drugs and subversion". Ein Gaudi-Anarcho, der erst Pudding zu Sprengstoff umwidmet, dann bierernst ein palästinensisches Terrortraining absolviert, Spaßguerillero, Kader-Kommunist, Grünen-Abgeordneter in Berlin wird, zwischen Knast und Untergrund oszilliert und 1998 seinen eigenen Tod inseriert, um ein Jahr später wieder aufzukreuzen. Für Reimann ist all das kein genetischer Zufall, sondern ein zu entwirrendes Netz individueller und kultureller Faktoren. Wie wird jemand "Avantgardist, Protestler, Radikaler" - so der Untertitel – und woraus speist sich so ein Weg? Denn keine Anti-Haltung lebt allein von dem, wogegen sie ist.

Reimann recherchiert also die Modernitätssplitter der 1950er-Jahre. Aufregend zu lesen: Bamberg, der Sport, das Kino. So sorgfältig ist die Bedeutung der unabhängigen Programmkinos als Matrix für die Generation Aufbruch vermutlich noch nie untersucht worden. Dort ballte sich in bewegten Bildern nicht nur des französischen Films, was die Deutschen durch die Nazizeit an Kultur, Haltung und Lebensstil verpasst hatten. Dass Kunzelmann 1959 nach Paris trampt, ist ironischerweise also kein revolutionärer Absprung, auch wenn er da als antibürgerlicher Saison-Clochard auftritt: Es ist aktive Restauration - nachholende Aneignung bürgerlicher Kultur. Und wird dennoch ebenso dialektisch zur Matrix für Kunzelmanns weiteres Leben.

Paris ist seine zweite Sozialisation, die ästhetisch-politische durch die Situationisten, eine quasi-stalinistisch geführte Anti-Bohème-Bohème. Der gilt schon Kunstmachen als reaktionär - revolutionär dagegen sind "dérive" (Umherschweifen) und "détournement" (Zweckentfremdung/Umwidmung). Voilà - zwei Leitmotive für Kunzelmanns Aktionismus, von den Schwabinger Krawallen und der Künstlergruppe "Spur" über die "Umherschweifenden Haschrebellen" bis zur bewaffneten subversiven Gewalt der "Tupamaros Westberlin".

Reimann geht vor wie ein guter Kriminalist: Er ermittelt in alle Richtungen, penibel, leidenschaftlich, aber nie distanzlos. Er destilliert den verwinkelten Lebenslauf des Individuums Kunzelmann aus den oft widersprüchlich-vertrackten Bewegungen seiner Zeit und umgekehrt. Er legt damit aufregende neue Blickschneisen frei. Das macht die 300 sehr klein gedruckten Seiten trotz manchen Schnitzers äußerst informativ und lesenswert. Und es macht Lust auf mehr, zum Beispiel ein Thema, das Reimann selbst ins Spiel bringt: die Figur des männlichen Revoluzzers und das zutiefst Männerbündlerische am ganzen "Unternehmen 68ff".

Besprochen von Pieke Biermann

Aribert Reimann: Dieter Kunzelmann - Avantgardist, Protestler, Radikaler
Reihe Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009
392 Seiten, 29,90 Euro