"Der Scherz ist noch nicht vorbei"

Von Tobias Wenzel · 03.11.2010
Eigentlich wollte William Boyd Maler werden. Doch das erlaubte ihm sein Vater nicht. Also wurde er Schriftsteller, behielt die Kunstszene aber immer im Blick. Er war schockiert, wie mäßig talentierte Maler gehypt wurden. Boyd erfand Nat Tate, um dem wahnwitzigen Kunstbetrieb den Spiegel vorzuhalten.
Der Londoner Stadtteil Chelsea. Schmucke viktorianische Häuser, zahlreiche Galerien. Hier wohnt ein renommierter britischer Schriftsteller, der zugleich ein ausgesprochener Kunstkenner ist. Das Schlagen mit dem Türklopfer aus Messing dringt bis zu William Boyds Arbeitszimmer. Er sei gerade in einem Telefongespräch, müsse sich deshalb noch kurz entschuldigen.

Im Flur hängen fünf gerahmte Zeichnungen in Reihe. Seit diesem Jahr, dem 50. Todestag des amerikanischen Künstlers Nat Tate, rufen etliche Journalisten bei Boyd an. Denn er veröffentlichte 1998 eine Biographie über den, wie es schien, vergessenen Maler.

William Boyd kommt zurück in seinen Hausflur und deutet an die Wand:

"Diese fünf Zeichnungen stammen von Nat Tate, alle aus den Fünfzigern. Die so genannten 'Studien für die Weiße-Gebäude-Serie', aus denen größere Bilder entstanden, die nun aber verloren sind. Denn Nat Tate hat 99 Prozent seiner Werke zerstört."

Stolz blickt der 58-jährige William Boyd auf die Zeichnungen an der Wand. Stolz und gerührt. Ein guter Schauspieler wäre er sicher geworden oder ein guter Maler. Denn alle Zeichnungen und Bilder von Nat Tate stammen von Boyd selbst. Nat Tate, dieser amerikanische Künstler, der seine Eltern auf tragische Weise verlor und sich 1960 das Leben nahm, ist die Erfindung von William Boyd. Eine Erfindung, die nicht als solche erkannt wurde am 1. April 1998 im New Yorker Atelier des Künstlers Jeff Koons. Dort las David Bowie aus Boyds Biographie über Nat Tate. Und dorthin waren Kunstkritiker, Galeristen und Sammler eingeladen, um Nat Tate "wiederzuentdecken":

"Jeder auf der Party schien von der Existenz dieses vergessenen Malers überzeugt zu sein. Nur wenige waren eingeweiht, darunter ein englischer Journalist. Und der sprach mit Besuchern der Party. Und wie die Menschen nun mal so sind, sagten sie ihm: 'Ja, wie traurig, dass Nat Tate nur so kurz gelebt hat.' − 'Ich mag sein Werk wirklich sehr und weiß noch genau, wie ich zu seinen Lebzeiten eine seiner Ausstellungen besucht habe.' Die Menschen behaupteten also, sie hätten ihn gekannt, sie wüssten, wer Nat Tate war."

Nur wenige Tage blieb der Scherz unentdeckt. Bis der eingeweihte Journalist zum großen Ärger von William Boyd öffentlich machte, dass Nat Tate nur ein Gag war. Jetzt, da die fiktive Biografie auch auf Deutsch erschienen ist, mag man kaum glauben, dass Kunstkritiker reihenweise auf Boyds Coup hereingefallen sind. Da ist der seltsame Adoptivvater Nat Tates, der anfangs alle Bilder seines Sohnes kaufte und verhindern wollte, dass sie auf den Kunstmarkt gelangen. Und da ist die Episode, derzufolge Nat Tate versuchte, seine Werke von Galeristen und Bekannten zurückzukaufen, nachdem er gesehen hatte, wie Georges Braque ein viele Jahre altes Werk überarbeitete:

""Logan Mountstuart im Tagebuch: 4. Dezember. Letzte Nacht kam Nat Tate vorbei. Er bot mir 6000 Dollar für meine zwei Gemälde, was ich ablehnte. Er wollte sie überarbeiten, sagte er, daher überließ ich sie ihm mit einigem Zögern.""

Auszüge aus dem Tagebuch einer ebenfalls erfundenen Person, die Boyd wiederum vier Jahre später in dem Roman "Eines Menschen Herz" zur Hauptfigur machte. Das Spiel mit Dichtung und Wahrheit und die Frage nach der Identität, der falschen, der echten, der eigenen – all das wurde zum Leitmotiv in Boyds Büchern.

Er wurde in Ghana von schottischen Eltern geboren, lebt heute in London und Frankreich. Er wisse selbst nicht, woher er stamme, wer er sei. Wie solle er das dann von anderen Menschen wissen? Solche Probleme gab es beim Schreiben der Nat-Tate-Biografie gerade nicht:

"Ich kann Ihnen ganz genau sagen, was Nat Tate gedacht hat. Und es ist wahr, weil ich es erfunden habe. In der Wirklichkeit funktioniert das nicht. Menschen erkennt man nie ganz, man blickt auf ihre Oberfläche, erhält Hinweise, kann aber nicht mit Recht behaupten: 'Ich kenne einen Menschen voll und ganz.' Der einzige Ort, an dem man im Klaren ist hinsichtlich des Verhaltens, der Beweggründe und der Gefühle von Menschen, ist der Roman."

Die abgedruckten Zeichungen, die Fotos, die angeblich Nat Tate zeigen, die Boyd aber auf Flohmärkten gekauft hatte, Zitate eines eingeweihten angesehenen Kunstkritikers verliehen dem ganzen eine außerordentlich authentische Wirkung. Ebenso wie die Behauptung, Nat Tate habe sich durch einen Sprung von der Staten-Island-Fähre das Leben genommen:

""Am Ende war das Ertrinken sein einziges Thema, da bin ich mir sicher. Nat war am Ertrinken – im wörtlichen und übertragenen Sinn –, daher zog es ihn aufs Meer, in Richtung New Jersey, wo alles begann, wo er gezeugt wurde – möglicherweise.""

Man stelle sich die betroffenen Gesichter während der Buchvorstellung am 1. April 1998 in New York vor. Genau das scheint William Boyd gerade zu tun, wenn man wenigstens seinem verschmitzten Blick trauen darf:

"Der Scherz ist noch nicht vorbei. Demnächst werde ich mal eine Zeichnung von Nat Tate bei Christie's oder Sotheby's versteigern lassen. Ich bin sehr gespannt darauf zu sehen, ob zwölf Jahre nach meinem Scherz 100 oder 1000 oder vielleicht 10.000 Pfund für einen echten Nat Tate gezahlt werden, wenn man ihn dann zum ersten Mal kaufen kann. Denn es gab bisher noch keinen auf dem Kunstmarkt."

William Boyd: "Nat Tate: Ein amerikanischer Künstler 1928-1960"
Aus dem Englischen von Chris Hirte, Berlin Verlag, 96 Seiten, 24 Euro

Informationen des Berlin Verlags zu diesem Buch und William Boyd

William Boyd liest am 4.11.2010 um 20 Uhr in der Berliner Galerie Sprüth Magers, Titel der Veranstaltung: "Das wahre Leben im Fälscher". Boyd spricht außerdem mit Holger Liebs, Chefredakteur der Zeitschrift "Monopol", über Kunst, Lüge, Fälschung und Identität.
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