Der russische Diktator als junger Mann

19.12.2007
Der britische Journalist Simon Sebag Montefiore hat für seine Biografie über den jungen Stalin vor allem da recherchiert, wo kaum einer das vorher versucht hat: im Kaukasus. Dort wurde der, der sich später Stalin, der Stählerne nannte, als Kaukasier Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili 1878 geboren und besuchte eine Priesterschule.
Schon die erste Geschichte des Buches zieht den Leser mitten hinein ins Geschehen – und macht ihn zugleich misstrauisch: An einem schwülen Morgen, am 13. Juni 1907 um 10 Uhr 30, sei ein schneidiger Kavalleriehauptmann in Stiefeln und Reithosen auf dem Hauptplatz von Tiflis aufgetreten, habe einen großen Tscherkessensäbel auf dem Pferderücken geschwungen, mit zwei hübschen, gut gekleideten georgischen Mädchen gescherzt, während sie die in ihren Kleidern verborgenen Mauser-Pistolen berührt hätten.

Das klingt wie der Anfang eines Romans, doch es ist eine Biografie. Die Biografie des späteren Generalissimus Stalin, damals noch Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili. Der britische Historiker Simon Sebag Montefiore schildert einen Banküberfall im Jahr 1907. Das Besondere daran war das Ziel: denn diese sehr spezielle "Expropriation" wurde für Lenins Partei der Bolschewiki organisiert, und von jenem Kaukasier Dschugaschwili, der sich ein paar Jahre danach "Stalin" nannte, der Stählerne. Wer war er? Der "graue Fleck", wie ihn Leo Trotzki abfällig charakterisierte; geistiges Mittelmaß, der Mann, der die (Oktober-) Revolution verpasste? Oder der höchst begabte, aber moralisch defekte Mensch, der skrupellos alles aus dem Weg räumen ließ, was ihm im Wege stand?

Simon Sebag Montefiore macht nach seinem ersten Buch über Stalin ("Am Hof des roten Zaren") den Versuch, die Jugend des Diktators zu beschreiben. Eine Jugend, über die wenig bekannt war. Die Archive waren verschlossen. Und Stalin selbst hatte dafür gesorgt, dass Menschen wie Unterlagen über seine Vergangenheit nur in seinem Sinne enthüllt wurde. Der spätere Stalin-Kult zeichnete zudem ein Bild, das mit der Wirklichkeit kaum etwas zu tun hatte. Aber muss deshalb alles, was bisher über ihn geschrieben wurde, falsch sein, fragt Montefiore. Nach eigenen Angaben hat er 10 Jahre für das Buch recherchiert, in halb Europa und vor allem da, wo kaum einer das vorher versucht hat: im Kaukasus. Und er nennt in seiner Danksagung am Ende des Buches zahlreiche Historiker und Prominente, die ihm geholfen haben, vom georgischen Staatspräsidenten bis zu seiner Durchlaucht Fürst Schwarzenberg.

Montefiore erzählt eine spannende Geschichte. Die Geschichte des Jungen Josef, der 1878 im kaukasischen Städtchen Gori als Sohn eines gewalttätigen Schusters geboren wird, und einer Mutter, die ihn vergötterte. Er wächst auf in einer Kultur der Gewalt und Armut, aber mit dem Wunsch seiner Mutter, der einzige Sohn möge studieren. Sie schafft es, ihn im entfernten Tiflis an der Priesterschule unterzubringen. Anfangs geht alles gut. Der Sohn scheint gelungen, er ist fleißig, wird gelobt und "Sosso", wie sie ihn nennt, schreibt sogar Gedichte. Doch dann kommt er – ausgerechnet an der Priesterschule – in Kontakt mit marxistischer Literatur, sein Leseeifer führt ihn in Zirkel, die den Umsturz des Zaren planen.

Eine Hinrichtung zweier Bauern, zu der er wie seine Mitschüler von seinen Lehrern geführt wird, wird zum einprägsamen Erlebnis. Der Widerspruch zwischen dem "Du sollst nicht töten" und diesem Tod durch den Strang, dem er beiwohnt, hätte kaum größer sein können. Danach verschärfen sich die Konflikte im Seminar, er wird es ohne Abschluss verlassen. Dennoch schildert Montefiore nicht etwa die politischen Gründe, die ihn möglicherweise zum Verlassen des Seminars gebracht haben, er bringt stattdessen eine Liebschaft ins Spiel. Denn den eigentlichen Grund konnte er nicht belegen.

Es sind überhaupt eher die privaten, die sexuellen Ausschweifungen, die den Historiker mehr zu interessieren scheinen als die politischen Ansichten. Vielleicht waren letztere auch noch schwerer herauszufinden. Denn sein Buch stützt sich auf zahlreiche Akten, aber auch auf Memoiren von Zeitgenossen, die teilweise Jahrzehnte später und unter dem Eindruck der Taten des späteren Stalin, wie er sich erst seit 1912 nannte, entstanden.

Stalin als "intellektuelle unbedarft" zu beschreiben, wie Leo Trotzki das später tat, das sei jedoch grundfalsch, sagt Montefiore. Er beschreibt ihn als Janusgesicht, als eine Art Mafiaboss mit Wurzeln in der Bandenkultur des Kaukasus und zugleich als Intellektuellen nach den Maßstäben der führenden Bolschewiken. Ein durchaus widersprüchliches Bild.

Das Buch ist spannend geschrieben und wurde hoch gelobt. Der Eindruck, dass Montefiore aber eher ein Alexandre Dumas sein wollte, und nichts mehr gefürchtet hat, als Autor eines trockenen wissenschaftlichen Buches zu sein - der jedoch bleibt.

Rezensiert von Liane von Billerbeck

Simon Sebag Montefiore: "Der junge Stalin",
S. Fischer Verlag, Preis € 24,90, 544 Seiten, gebunden
Aus dem Englischen übertragen von Bernd Rullkötter