Der Ruf des Feuerbergs

Von Thomas Kruchem · 21.01.2010
Der Merapi gilt als einer der gefährlichsten Berge der Welt. Er gehört zu den 129 aktiven Vulkanen in Indonesien. Dazu gehört der weit über den Inselstaat hinaus bekannte Krakatau, dessen Ausbruch im Jahr 1883 Tausende Menschen in den Tod riss.
Für die Menschen, die an den Hängen von Vulkanen leben, sind die Berge göttlich. Am Merapi bringen sie den Geistern des Vulkans regelmäßig Opfergaben, die sie in den Krater werfen.

Der Wind trägt den Ruf des Muezzins herüber von Kaliurang, dem Städtchen jenseits der Schlucht.

Aber auch den Lärm der Schaufeln und Lastwagen, die 300 Meter tiefer wie Spielzeug im grauen Sand der Talsohle wühlen. Grauer Sand auch hier oben, befestigt durch junge Bäume entlang des Abgrunds.

Etwas entfernt, umwuchert von Efeu, Bambus und dornigem Gestrüpp, rußgeschwärzte Ruinen niedriger Betonhütten.

"Der Weg bergab ist rutschig", hat Yusup gesagt und doch immer wieder auf Chinarinden- und Zimtbäume gedeutet, auf goldene Käfer und harlekinfarbene Schmetterlinge – bunte Tupfer im Graugrün ringsum, in dem sich schließlich jenes Haus abzeichnet, in dem am 22. November 1994 ein Naturereignis zur Katastrophe wurde.

Sudadi: "Dies ist das Haus, in dem damals gerade eine Hochzeitsfeier begann, als eine Glutlawine den Hang herunter gerast kam und über das Haus hinweg fegte. Die Frau, die dort vorne mit ihrem Mann sitzt, ist die jüngere Schwester der Braut. Sie hatte Glück, weil sie noch unterwegs war, um auf dem Markt einzukaufen für die Feier.

Hier hatten sich derweil schon viele Gäste eingefunden, um zu gratulieren, Geschenke zu überreichen und zusammen zu kochen. 43 Personen befanden sich im Haus; und alle wurden getötet. Von den Gästen außerhalb des Hauses schafften es einige zu entkommen; andere starben ebenfalls."

Turgo, ein Dorf mit 2000 Einwohnern am Südhang des Gurung Merapi, des Feuerbergs.
"Der Merapi, gelegen im Südosten der indonesischen Insel Java, gilt als einer der gefährlichsten Vulkane der Welt. Die 129 aktiven Vulkane Indonesiens fördern zumeist sehr zähes Magma, das rasch erkaltet und den Vulkankrater verstopft. Dort wächst nun der Druck von unten, bis er sich irgendwann in einer Eruption entlädt, die Gestein, Aschen und Gase aus dem Krater schleudert, gefolgt von flüssiger Lava.

Solche deshalb auch Strato- oder Schichtvulkane genannten Feuerberge entfalten besonders zerstörerische Wirkung, wenn sie über JahrTausende Kraft gesammelt haben: Die Eruptionen etwa des Tambora 1815 und des Krakatau 1883 katapultierten so viel Staub in die Atmosphäre, dass es – infolge verringerter Sonneneinstrahlung – weltweit zu Missernten kam."
Der Merapi zeigt den Charakter eines halbstarken Randalierers – meint Birger Lühr, Mitarbeiter des Deutschen Geo-Forschungszentrums in Potsdam. In einem Prozess, der regelmäßig nur wenige Jahre dauert, verfestigt sich nach oben drängendes Magma im Bereich der Krateröffnung und bildet dort eine Art Pfropf, den die Experten Staukuppe oder Dom nennen – bis schließlich der Dom zerbricht und infolge der Druckentlastung Glutlawinen die Hänge hinunter rasen; pyroklastische Ströme.

Lühr: "Wenn ein Dom, also eine Staukuppe, abrutscht über den Gipfelrand und die Flanke hinunter rast, dann zerfällt dieses Gestein bis hin zu staubkleinen Körnchen, aber auch zu großen Blöcken; und diese Blöcke und dieser Staub und sehr gashaltiges Material, das rast dann mit sehr hohen Geschwindigkeiten, mit Rennwagen-Geschwindigkeit, die Flanken hinunter.

Es gibt Beispiele, wo 300 Kilometer pro Stunde gemessen worden sind. Das heißt, so ein pyroklastischer Strom ist wie ein Orkan, der, wenn er dann auf Bäume oder auf Häuser trifft, diese abradiert. Und dazu kommen noch die heißen Gase. Das heißt, selbst wenn Menschen versuchen, sich zu schützen, und sie atmen in dieser heißen Gase ein, die ohne Weiteres Temperaturen bis fünf-, sechshundert Grad haben können, dann sterben sie allein durch diese Gase."

Im Städtchen Kaliurang am Fuß des Merapi betreibt das staatliche vulkanologische Institut Jogjakartas eine Beobachtungsstation: Vor geologischen Karten und dramatischen Vulkanfotos an den Wänden registrieren flimmernde Bildschirme und riesige Papierrollen Ausschläge von Messinstrumenten, deren Signale Antennen auf dem stählernen Beobachtungsturm draußen auffangen; Signale von Instrumenten am Kraterrand und auf dem nahebei liegendem Plawangan-Hügel, einem 200 Meter hohen, dicht bewaldeten Lavabrocken, der vor 40.000 Jahren hier liegen blieb.

Der Katastrophenvorsorge dienen nicht zuletzt schlichte Regenmessgeräte am Kraterrand, sagt – blitzwach über dicke Brillengläser hinweg schauend – Techniker Panot. Bei mehr als 50 Millimetern Regen binnen einer Stunde besteht akute Gefahr, dass Lahars, Schlamm- und Schuttlawinen, zu Tale stürzen. Diese Lawinen aus locker am Hang liegender Hinterlassenschaft pyroklastischer Ströme können noch zerstörerischer wirken als die Glutlawinen selbst.

Lahars reichen nicht, wie jene, maximal 15 Kilometer, sondern bis zu hundert Kilometer weit und transportieren wesentlich mehr festes Material. Der erfahrene Techniker hat mit Hilfe seiner Geräte, sagt er, schon einige dramatische Ereignisse am Merapi vorausgesehen – zuletzt den Ausbruch von 2006.

Panot: "Am 13. Mai 2006 hatten wir gerade die höchste Alarmstufe vier ausgelöst, als ein gewaltiger pyroklastischer Strom 4,5 Kilometer weit den Krasak-Fluss hinunter stürzte. Zwei Wochen später kam es in der Gegend von Jogjakarta zu einem Erdbeben der Stärke 6,3, bei dem 6.000 Menschen starben.

Infolge wohl dieses Bebens kollabierte schließlich am 6. Juni die verbliebene Staukuppe des Vulkans; und ein weiterer pyroklastischer Strom von acht bis neun Millionen Kubikmetern Asche, Gestein und Gas raste die Südflanke des Merapi hinab. Zugleich öffnete sich im südöstlichen Gipfelbereich ein neuer rissartiger Krater – sodass seitdem der nun erneut wachsende Dom eindeutig nach Süden geneigt ist."

Vulkane sind gewaltige Umweltverschmutzer, erklärt Panot; sie sind nach dem Menschen, zum Beispiel, die größten Emittenten von Treibhausgasen. So pustet der Merapi, in Zeiten der Ruhe, 150 Tonnen Schwefeldioxid pro Tag in die Luft – und 700 Tonnen Kohlendioxid, so viel wie Hunderttausende Autofahrer im Berufsverkehr. Vulkanbedingter saurer Regen gehört zum Alltag in Indonesien; und viele Leute haben schlechte Zähne, weil sie fluoridbelastetes vulkanisches Grundwasser trinken. Andererseits sind Vulkane auch ein Segen für die Umwelt.

Verwitternde Lava setzt zahlreiche Mineralien frei und ergibt deshalb extrem fruchtbare Böden – Böden, auf denen artenreiche Wälder gedeihen, drei Ernten Reis pro Jahr, feines Gemüse, Tee, Kaffee; Kokosnüsse, leuchtend rote Chili-Schoten, Papayas. Und die reiche Flora bedingt eine reiche Fauna: Zahlreiche Affenarten leben am Merapi, Wildschweine, Leoparden und sogar Tiger.

Im vulkanologischen Institut der Großstadt Jogjakarta ist urplötzlich Hektik an der Grenze zur Panik ausgebrochen. Wissenschaftler, Sekretärinnen und Hilfskräfte sind aus ihren Büros die Treppen hinunter gestürzt – hinaus ins Freie. Ein Erdbeben. Fast eine Minute lang war auch im zweiten Stock des Gebäudes ein leichtes Schwanken spürbar.

Erdbeben, hat Birger Lühr gesagt, kommen oft völlig überraschend – weil sie vielerlei Ursachen an vielerlei Orten haben können. Ausbrüche eines engmaschig überwachten Vulkans wie des Merapi dagegen schicken Warnzeichen voraus. Aus Erfahrungen in der Vergangenheit lässt sich die Gefahr einschätzen. Entsprechend klären das Institut und die Behörden die Menschen auf – Kinder in den Schulen, Erwachsene auf Dorfversammlungen. Evakuierungen werden geübt, detaillierte Katastrophenschutzpläne erarbeitet.

Lühr: "Am Merapi haben wir vier Alarmstufen. Die erste Stufe bedeutet, dass der Vulkan relativ ruhig ist; die zweite Stufe, dass sich bestimmte Parameter auf eine bestimmte Art und Weise geändert haben; und das bedeutet, dass der Gipfelbereich zum Beispiel gesperrt wird für Touristen, dass bestimmte Hänge nicht mehr von der Bevölkerung genutzt werden dürfen, zum Beispiel zur Heuernte.

Wenn dann die dritte Stufe kommt, dann müssen die Menschen nur noch in den Dörfern bleiben. Die vierte Stufe bedeutet: Vorhersage eines Ausbruchs. Und das führt dazu, dass die Menschen evakuiert werden. Wenn dann kein pyroklastischer Strom, zum Beispiel, die Hänge herunter rast, dann wird die ganze Aktion fragwürdig und man verliert an Vertrauen."

Im Umfeld des Merapi leben mehr als eine Million Menschen, 80.000 in jenen Zonen, die eine Glutlawine binnen zehn Minuten erreichen kann. Die meisten dieser Menschen setzen wenig Vertrauen in ihre Behörden – weil dort allzu oft Ineffizienz und Korruption herrschen. Ist dann noch, nach einer Evakuierung, das Vieh verschwunden oder das Haus geplündert, stößt der nächste Evakuierungsaufruf auf taube Ohren. Hinzu kommt, dass die am Merapi lebenden Bauern ein ganz anderes Verhältnis zum Vulkan haben als die Behörden.

Im Dorf Turgo, zum Beispiel, das die Glutlawine von 1994 in eine Aschewüste verwandelte, ließen sich nur wenige Menschen umsiedeln – in eine neue Siedlung namens Sidomoro außerhalb der gefährdeten Zone. Turgo ist heute ein still wirkendes Dorf, in dessen bescheidenen Häuschen aus Bambus und Palmblättern zumeist Rinderzüchter leben; ein Dorf, in das barfüßige Männer und Frauen immer neue Bündel am Vulkanhang geernteten Heus tragen. Schwerstarbeit, die sich in Milch und Kälbern auszahlt. – Die Menschen hier sind eng verbunden mit den Geistern des Merapi, um die viele Legenden kreisen, hat Yusup Sudadi gesagt, ein in der Stadt lebende Intellektueller und Tourismusunternehmer.

Sudadi: "Eine überaus populäre Legende thematisiert das Verhältnis des Merapi zum indischen Ozean, der hier "das Meer des Südens" genannt wird. Die Menschen glauben, dass der erste König des Reiches Mataram, des Vorgängerreiches Jogjakartas, dass König Senopati eine spirituelle Ehe schloss mit Ratu Kidul, der Königin des südlichen Meeres. Auf einem Felsblock an der Küste hätten sich Senopati und Ratu Kidul vereinigt. – Überliefert wird weiter, dass der Geist des Vulkans, Kyai Sapujagad, zuvor ein Diener König Senopatis war.

Senopati bekam danach von Ratu Kidul ein Ei geschenkt, das ihn, sobald er es gegessen hätte, in ein rein spirituelles Wesen verwandeln würde – vereint in ewiger Liebe mit Ratu Kidul. Zufällig jedoch fand der Diener das Ei, aß es und verwandelte sich in einen Dämon. Diesem Dämon befahl der König daraufhin, fortan im Bauch des Merapi zu leben und, im Namen des Reiches Mataram, Hüter des Vulkans zu sein."

Hüter des Vulkans, seiner Wälder, Quellen und Tiere – unterstützt von Geistern wie Nyai Kadungblati, dem Hüter der Tiere und Gyai Premadi, dem Schmied – der, wenn er einen Kris, einen Krummdolch, schmiedet, den Merapi rauchen lässt. Diese bunte Geisterwelt ist entstanden im Laufe von JahrTausenden – aus einem tief verwurzelten Glauben, dass Mensch, Gesellschaft, Natur und Kosmos untrennbar verbunden sind und in steter Kommunikation miteinander stehen. Deshalb haben die Javaner, wie viele Völker weltweit, Naturgewalten anthropomorphisiert.

Sie haben den Gewalten, um ihnen nicht völlig machtlos ausgeliefert zu sein, menschliche Persönlichkeiten verliehen, mit denen der Mensch Kontakt aufnehmen, die er mit Hilfe von Ritualen auch beeinflussen kann. Diese Geisterwelten Javas haben sich immer wieder gewandelt; sie haben sich verbunden mit Hinduismus und Islam; und bis heute spielt die Kommunikation mit den Geistern eine wichtige Rolle im Alltag; eine Kommunikation, für die Leute wie Mbah Marijian zuständig sind.

Mbah Marijian lebt in Kinaredjio, einem Nachbardorf Turgos. Ein freundlicher alter Mann, der, auf einem geblümten Sofa sitzend, einen Scherz nach dem anderen erzählt.

Nur am fast unterwürfigen Respekt, den ihm die Dorfbewohner entgegen bringen, erkennt der Besucher den Würdenträger. Mbah Marijian ist der vom Sultan in Jogjakarta persönlich ernannte Juru Kunci, der Botschafter beim Geist des Merapi Kyai Sapujagad – eine Position, die schon sein Vater innehatte.

Und weil der Glaube gerade an den Geist des Merapi tief verwurzelt ist auf Java, ist der alte Mann sehr populär. Er ist bekannter als viele Minister und posiert auf Plakatwänden wie im Fernsehen als Werbefigur für Stärkungsmittel. Für allzu bedeutend jedoch hält sich Mbah Marijian nicht.

"Ich bin nur ein unwissender einfacher Bauer, der vom Sultan beauftragt ist, unsere Beziehung zum Geist des Vulkans zu pflegen und einmal im Jahr die Labuan-Zeremonie abzuhalten. Diese meine Pflicht erfülle ich gegenüber dem Sultan und den hier lebenden Menschen, gegenüber den Seelen der Verstorbenen und dem Kyai Sapujagad. Weshalb deshalb so viele hoch gebildete Leute aus der Stadt kommen, um mich zu befragen, ist mir ein Rätsel."

Die alljährlich stattfindende Labuan-Zeremonie gilt als eine der wichtigsten religiösen Zeremonien auf Java überhaupt. Unter Führung des Mbah Marijian bringt eine lange Prozession von Honoratioren dem Geist des Merapi feine Speisen, Blumen, edle Stoffe und Essenzen als Opfer dar – während zeitgleich Mbah Marijians weniger bekannter Kollege Pak Nono der Göttin der südlichen See Ratu Kidul opfert. Die Gewalten des Meeres und des Vulkans sollen gnädig gestimmt werden.

Kommt es trotzdem zu einer Katastrophe, haben sich Menschen falsch verhalten. Und sie fragen sich, warum gerade jetzt und hier das Verhängnis hereingebrochen ist. Eine moralische Krise ist ausgebrochen; Politiker haben ihre Macht missbraucht oder Menschen haben die Natur, die Wohnung der Geister, beschädigt – heißt es dann.

Und dafür mussten die Menschen von den Geistern bestraft oder zumindest verwarnt werden. Erbitterte Diskussionen, welches menschliche Fehlverhalten ein Erdbeben oder einen Vulkanausbruch ausgelöst hat, prägen die Zeit nach solchen Katastrophen; und alle möglichen Sektenführer und Politiker versuchen, den Glauben des Volkes vor ihren Karren zu spannen.

Im Dorf Kinaredjio jedoch ...

" ... singt der alte Mbah Marijian ein uraltes Volkslied und freut sich, dass die am Merapi lebenden Menschen viele Wälder hier nicht antasten, weil sie den Geistern gehören; dass sie etliche Tierarten nicht jagen, weil auch sie unter der Obhut der Geister stehen."

"Wenn wir in Demut leben und keine Verbrechen begehen, wird der Geist des Merapi uns niemals bedrohen, sondern uns – im Gegenteil – schützen vor Armut und Hunger. Schauen Sie doch auf all die Gemüsegärten und Kartoffelfelder, auf die Obstbäume und Kaffeesträucher an den Hängen des Berges. Dann wird Ihnen rasch klar, dass der Gurung Merapi unser aller Wohltäter ist."

Indonesiens Regierung versucht derweil bis heute, am Merapi einen Begriff von Sicherheit durchzusetzen, der allein darauf fixiert ist, zerstörerische Auswirkungen des Vulkans auf den Menschen zu minimieren. Die Behörden haben weite Regionen der Vulkanhänge zu verbotenen Zonen erklärt, sie haben Dorfgemeinschaften zwangsweise umgesiedelt und verfolgen bis heute das Ziel, die Merapi-Region in einen Nationalpark zu verwandeln – gegen erbitterten Widerstand der Bevölkerung.

Nur sehr allmählich verstehen die staatlichen Katastrophenexperten den viel breiteren Sicherheitsbegriff der am Merapi lebenden Bauern. Sicherheit heißt für sie zuerst, dass sie genügend fruchtbares Land haben, um ihre Familien zu ernähren.

Sicherheit heißt, dass sie verwurzelt sind in einer Heimat, wo sie unter dem Schutz Allahs und lokaler Geister ihre Traditionen pflegen. Und die Gefahr, dass ausgerechnet sie Opfer eines pyroklastischen Stroms werden, halten diese Menschen für beherrschbar – solange sie ein anständiges Leben führen.