Der Roman zum Tschetschenienkrieg

04.05.2011
Mit beeindruckender Detailkenntnis schildert Wladimir Makanin den Konflikt in Tschetschenien. Hauptfigur des Romans ist ein korrupter russischer Major auf einem Versorgungsposten, zuständig für den Treibstoffnachschub.
Dem kaukasischen Thema, "Russlands offener Wunde", entgeht kaum ein russischer Schriftsteller von Rang: Gribojedow, Puschkin, Lermontow, Tolstoi. Die konfliktträchtige Region wirft immer wieder Fragen auf, die nach literarischer Verarbeitung rufen. Von geopolitisch-historischen und anthropo-kulturellen Reibungsflächen ließe sich da sprechen, literarisch heruntergebrochen auf eine individualisierte, oft poetisierte Ebene.

Das ist bei Wladimir Makanin nicht anders. Es geschieht indes unter radikal veränderten Umständen. War das gedruckte Wort im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts ein höchst privilegiertes Kommunikationsmedium, das einzige beinahe, in dem Information und Interpretation der Geschehnisse zueinander fanden, so ist die Vielfalt der Medien in heutiger Zeit kaum mehr überschaubar. An die Paradoxie, dass mit der Zahl der Informationen auch deren Oberflächlichkeit und damit der Grad der Unübersichtlichkeit gestiegen ist, hat man sich beinahe gewöhnt, und doch bleibt ein Unbehagen.

Im Fall des jüngsten - und bis heute andauernden - Tschetschenienkonflikts muss dieses Unbehagen bei einem russischen Literaten besonders tief sein. Aus dem medialen Getrommel der Meldungen und Reportagen im Minimalformat, der schnellen Bilder, die von Kampfhandlungen und Zerstörungen, Grausamkeiten und schlimmsten Schicksalen erzählen, ergibt sich kein Gesamtbild, das ein annäherndes Verständnis dieses Konflikts erlauben würde. Und so hat sich Makanin auf die Tugend der alten Meister, seiner Vorläufer, besonnen und sich eine epische Durchdringung dieses komplizierten Konflikts zum Ziel gesetzt, die jenem Gesamtbild deutlich näher kommt als die Flut der schnellen Informationen.

Es fehlt nicht an Grausamkeiten in Makanins Roman. Und doch konzentriert er sich spürbar stärker auf den Alltag dieses Krieges ohne Front, auf die mühsam organisierte und immer wieder durchbrochene Balance zwischen den Parteien. "Business" ist ein zentrales Wort in der Weltsicht der Hauptfigur, Major Schilin, der als Chef eines Versorgungsstützpunktes insbesondere für den Treibstoffnachschub für die in Tschetschenien stationierten russischen Truppen zuständig ist. Jedes zehnte Fass der Lieferungen zweigt er für sich ab, und gewiss fließt ein Teil des damit erzielten Geldes in seine eigene Tasche, um für sich und seine kleine Familie ein Haus irgendwo in Russland bauen zu können.

Aber wichtiger ist etwas anderes: Dieser abgezweigte Treibstoff wird auch als Verhandlungs- und Manövriermasse gebraucht, um den im Prinzip prorussischen Bauern der Gegend etwas davon zu geben, auf dass sie ihre Feldarbeiten verrichten können. Ebenso dient er als Lockmittel oder Bezahlung für die berüchtigten tschetschenischen Feldkommandeure, die bei Aussichten auf Sprit mit sich verhandeln lassen. Nicht zuletzt kann er für Sonderzuteilungen an die russischen Hubschrauberstaffeln verwendet werden, sollten solche Verhandlungen zu keinem Erfolg führen. Dieser auf den ersten Blick nur korrupte Major agiert als ein Chaos-Dämpfer in einer chaotischen Welt.

Mit beeindruckender Detailkenntnis leuchtet Makanin in die Lebenswelt dieses Konflikts, in sein krankes, vielleicht unheilbar krankes Herz, und schildert dabei ein Dilemma, das keine Lösung zu haben scheint. Der Ruf nach dem Roman, der ein historisches Großereignis literarisch bannt, ist recht eigentlich absurd. Wer freilich den Roman zum russisch-kaukasischen Konflikt an der Jahrtausendwende sucht, wird Makanins "Benzinkönig" in Betracht ziehen müssen.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Wladimir Makanin: Benzinkönig
Aus dem Russischen von Annelore Nitschke
Luchterhand Literaturverlag, München 2011
480 Seiten, 22,99 Euro