Der Richter in uns allen

Von Sebastian Wessels · 16.08.2012
Wie wir Entscheidungen treffen, hängt nicht nur mit der eigenen Persönlichkeit zusammen, sondern auch mit vielen externen Faktoren – bis hin zur Zimmertemperatur eines Raumes. Das gilt auch für die Sphäre der Politik, erklärt der Sozialwissenschaftler Sebastian Wessels.
"Kritisiert sie nicht; sie sind nur das, was wir unter ähnlichen Umständen auch wären." So mahnte US-Präsident Abraham Lincoln während des amerikanischen Bürgerkriegs seine Landsleute. "Sie", das waren die Menschen in den abgespaltenen Südstaaten, die von 1861 bis 1865 Kriegsgegner des von Lincoln geführten Nordens waren. Dazu gehörte eine gute Portion Weisheit – eine Weisheit, die immer wieder schwer aufzufinden ist. Etwa, wenn man hierzulande den Griechen voller Überzeugung Korruption vorwirft, sich selbst aber seit Jahren weigert, die UN-Konvention gegen Korruption zu ratifizieren, während 160 Länder das bereits getan und deutsche Konzernchefs den Bundestagsparteien inzwischen sogar schriftlich gegeben haben, wie peinlich ihnen das ist.

Will man Lincolns Weisheit aber theoretisch verallgemeinern, gerät man in Schwierigkeiten. Wenn wir unter ähnlichen Umständen auch wären, was "sie" sind, dann entscheiden die Umstände darüber, was wir sind. Wie kann man dann noch irgendjemanden für irgendetwas verantwortlich machen? Könnte ein Richter guten Gewissens einen Straftäter verurteilen, wenn er davon ausginge, dass er selbst in dessen Lage dasselbe getan hätte? Es ist die uralte Frage nach der Willensfreiheit, die hier lauert und unter Philosophen so umstritten ist wie eh und je.

In der Praxis haben wir weniger Mühe, damit zu Rande zu kommen. Der Richter, auch der Richter in uns allen, geht einfach davon aus, dass er in ähnlicher Lage etwas anderes getan hätte, obwohl er das genaugenommen nicht wissen kann. Indem wir Annahmen über Persönlichkeit und Absichten von Handelnden treffen, können wir sie be- und verurteilen. Ob diese Annahmen stimmen, steht auf einem anderen Blatt.

Experimente haben gezeigt, dass die Zuhörer eines Redners oft sogar dann glauben, er sei von seinen Aussagen überzeugt, wenn sie wissen, dass ihm der Redetext für das Experiment willkürlich vorgegeben war. Diese Verwechslung von situativen Umständen mit Persönlichkeitseigenschaften als Gründen für ein Verhalten ist in der Psychologie als "fundamentaler Attributionsfehler" bekannt.

Wenn etwa Tony Blair der deutschen Bundeskanzlerin "Mut und Standhaftigkeit" in der Eurokrise attestiert, wie in diesen Tagen geschehen, dann trifft er Aussagen über ihren Charakter. Dabei kann er eigentlich nicht wissen, welche Gründe Merkel in welcher Situation zu welchem Handeln veranlasst haben. Jeder Mensch, erst recht eine Bundeskanzlerin, steht unter einer Vielzahl von Zwängen, die aus der Distanz nicht ohne weiteres sichtbar sind.

So auch Merkels Amtsvorgänger Gerhard Schröder. Er wird heute weltweit zu Vorträgen eingeladen, weil man es auf die Agenda 2010 zurückführt, dass Deutschland trotz aller Krisen wirtschaftlich relativ gut dasteht. Die Agenda verbindet sich mit seiner Person, auch wenn er damals unter erheblichem Druck aus Wirtschaft und Opposition handelte und die Agenda maßgeblich von einem Forderungskatalog der Bertelsmann-Stiftung geprägt war. Wenn man böswillig ist, eine Variation des Experiments mit dem vorgegebenen Redetext.

Personen werden zu Symbolen, die für bestimmte Eigenschaften und Handlungsweisen stehen, und diese Symbole helfen, uns über die komplexen Vorgänge in einer Millionengesellschaft zu verständigen. Wir brechen die Ereignisse auf eine überschaubare Zahl von Akteuren und Handlungen herunter, die dann für weit mehr stehen als nur für sich selbst. Ob Merkel nun psychologisch gesehen wirklich aus Mut und Standhaftigkeit handelt, was Schröder wirklich zu seiner Politik motiviert hat und ob Lincolns Mahnung nicht eher von diplomatischem Geschick als von Weisheit zeugte, ist dabei völlig egal.

Welches Urteil wir fällen, hat oft vor allem mit unseren Sympathien und Interessen zu tun. Wollen wir entschuldigen, verweisen wir auf zwingende soziale Umstände. Wollen wir anklagen, betonen wir die persönliche Verantwortung. Wie wir das Verhältnis der beiden Seiten einschätzen, kann sich deshalb immer wieder schlagartig ändern. Nach einer langlebigeren Theorie dieses Verhältnisses suchen in der Regel nur Wissenschaftler und Philosophen – und auch die nur, wenn sie gerade nicht entschuldigen oder anklagen wollen.

Sebastian Wessels, geboren 1976 in Bremen, studierte Sozialwissenschaften in Hannover und Cardiff (Wales). Seit 2009 arbeitet er im Forschungsprojekt "Autonomie - Handlungsspielräume des Selbst" am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Gemeinsam mit Harald Welzer stellte er im September 2011 in der Zeitschrift "Merkur" erstmals Ergebnisse des Projekts vor. Neben der Konformitätsforschung gehören Gesellschaftstheorie und Nachhaltigkeit/Klimawandel zu seinen Arbeitsschwerpunkten.
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