Der Richter aus Klasse 10
Gurke hat der andere Junge gesagt, und da hat A. zugeschlagen. Gurke, sagt jetzt die Richterin, der A. gegenübersitzt, immer wieder: Gurke! Dass es cooler gewesen wäre, wenn A. gelacht hätte anstatt auszurasten, sagt sie auch. Das ist dem Angeklagten verdammt peinlich.
Während Politik und Medien über die gefährlichste Spezies der Welt nachdenken, über Warnschussarrest und Haftstrafen für unter 14-Jährige, sitzen in Hamburg Jugendliche über Jugendliche zu Gericht. Weil es mehr bewirken kann, wenn Gleichaltrige den straffällig gewordenen Jugendlichen sagen, was sie falsch gemacht haben, als wenn Erwachsene den Zeigefinger erheben, sagen die einen: Die Rückfallquote ist deutlich geringer als in üblichen Jugendstrafverfahren. Kritiker sprechen von kriminalpolitischem Blödsinn. Was kann das Jugend-Gericht bewirken, was nicht?
Das Hohe Gericht war noch schnell bei H&M und hat ein Top gekauft, rot, mit weißen Tupfen. Es liegt jetzt, mit Nagellack und Haarschleifen in einer Tüte verstaut, auf der Fensterbank.
Das Hohe Gericht rückt Stühle zusammen. Die Richterinnen tragen Jeans, eine eine Zahnspange. Sie tuscheln, warten. Dann kommt der Beschuldigte.
Er sagt leise Hallo und setzt sich. Rahel, 14, fragt, ob er gut hergefunden hat. Anne, 17, erklärt die Regeln:
„Ganz wichtig: Wir sind keine Richter, wir sind genauso wie du Schüler und versuchen jetzt, mit dir über deine Tat zu reden. Und dann wollen wir am Ende des Gesprächs eine Lösung oder Maßnahme entwickeln oder bestimmen, die du dann erfüllen musst.“
Der Beschuldigte nickt. Charly, 15, ergänzt: Keine Gewalt, keine Beschimpfungen, und jeder lässt den anderen ausreden. Einverstanden?, fragt Anne. Der Beschuldigte nickt. Super, sagt das Gericht.
Anne: „Dann erzähl doch mal: Warum bist du hier?“
Murat, Hände im Schoß, die Beine ausgestreckt, zum Tatzeitpunkt 15 Jahre alt, erzählt:
„Im letzten Sommer, Juli oder so, hab ich so eine Frau ein bisschen getreten. Vielleicht ein bisschen mehr sogar. Ich hab ein Stück Kaugummipapier auf den Gehweg geschmissen, und die ist vorbeigekommen mit ihrem Mann. Ihr Mann hat mich angemacht, dass ich das aufheben soll. Ich meine: Wer macht das nicht, Kaugummi auf den Gehweg schmeißen, das macht doch jeder, ist doch egal.“
Anne, Rahel und Charly hören zu. Sie haben eine Polizeiwache besucht, mit einem Staatsanwalt und einem Vertreter der Jugendgerichtshilfe gesprochen und viele Rollenspiele gemacht; selbstverständlich sind sie noch nie strafrechtlich in Erscheinung getreten. Sie machen sich Notizen und sachliche, nicht unfreundliche Gesichter.
Murat: „Ihr Mann hat dann Stress gemacht. Irgendwie kam es zu ’ner Diskussion über Ausländer. Ob das was damit zu tun hätte?, meinte mein Vater.“
Der Fall ist klar, der Täter geständig, außerdem hat er sich damit einverstanden erklärt, vor dem Schüler-Gericht zu erscheinen. Anne, Charly und Rahel müssen keine Ermittlungsarbeit leisten, wenn sie Diebstähle verhandeln, Nötigungen oder Körperverletzung, wie im Fall von Murat.
Rahel: „Hab ich das richtig verstanden: Du hast Sachen ins Auto geräumt mit deinem Vater, dann hast du dein Kaugummipapier auf den Boden geschmissen, dabei sind gerade zwei Leute gekommen und haben sich beschwert, und deshalb kam es zur Diskussion, und du hast der Frau in den Bauch getreten?“
Anne: „Während der Mann dabei war?“
Murat: „Nee, der war schon weggegangen. Sie wollte dann noch klarstellen, dass das überhaupt nichts mit Ausländern zu tun hatte oder so… Ich weiß das auch nicht mehr so ganz genau. Sie wollte irgendwie klarstellen, dass es nur um das Papier ging und alle das Gleiche machen müssen. Auf jeden Fall kam es irgendwie weiter zum Streit, keine Ahnung, und irgendwie habe ich einfach ja … – zugetreten. Ich weiß nicht, wie mir das passiert ist.“
Anne: „Was ist danach passiert, nachdem du zugetreten hast?“
Murat: „Da ist mein Vater voll durchgedreht, hat mich geschlagen, ins Auto gebracht, ist schnell weggefahren, weiß nicht … war ganz schlimm.“
Der Fall ist nachgestellt, ein Rollenspiel, doch er hat so ähnlich in anderer Besetzung vor dem Teen-Court stattgefunden. Verstößt ein strafmündiger Jugendlicher gegen das Gesetz, stellt die Staatsanwaltschaft bei Bagatelldelikten üblicherweise das Verfahren ein, bei schwerwiegenderen Verstößen bestellt ein Jugendstaatsanwalt den Täter zum Ermahnungsgespräch doch darf er keine Sanktionen verhängen, das darf nur ein Richter, und in gravierenden Fällen wird Anklage erhoben.
Zwischen Gespräch und ordentlicher Verhandlung stehen Teen-Courts. Seit September 2006 verweist die Hamburger Staatsanwaltschaft geeignete Fälle an einen Teen-Court. 11 Schüler aus Gymnasien, Haupt-, Real- und Gesamtschulen verhandeln inzwischen. Rolf Lieberich von der Hamburger Staatsanwaltschaft:
„Diese Schüler sind – obwohl uns kein besserer Ausdruck eingefallen ist als Schüler-Richter – keine Richter. Sie sind Jugendliche wie der Jugendliche, der vor ihnen sitzt auch, und sie sollen mit der ihnen eigenen, vielleicht größeren Überzeugungskraft klarmachen, was sie davon halten. Und das ist auch der Unterschied der verschiedenen Schüler-Richter-Projekte, die es in Deutschland gibt, zu den Teen-Court-Verfahren, die es in Amerika gibt, wo die Schüler dann tatsächlich als Gericht in Roben in einem Saal in der Schule auftreten und quasi ein Erwachsenengericht nachempfinden.“
Martin: „Mein allererster Fall, der war gleich vierzehn Tage nach meiner Ausbildung.“
Martin, 17, ist seit Sommer 2007 beim Teen-Court.
„Das war anfangs ein komisches Gefühl: Jetzt gehst du da hin, es ist dein allererster Fall, und du weißt nicht, was auf dich zukommt. Du hast es in Rollenspielen durchgeprobt, aber da warst du unter Personen, die du recht gut kennst, da war niemand, den du nicht kennst – also den Täter dürfen wir ja nicht kennen, sonst dürfen wir an der Verhandlung nicht teilnehmen. Als es dann anfing, war die Angst oder Aufregung total verflogen. Es war recht normal. Weil die Atmosphäre auch schön ruhig gehalten werden soll, so dass der Täter auch keine Angst hat oder was nicht erzählen will.“
Ein Junge hatte einen anderen verprügelt, zwei Freunde hatten gefilmt.
„Der eine, der es gefilmt hat, hat anfangs nicht richtig eingesehen, dass es eine Straftat war, was er gemacht hat – dass er nicht eingeschritten ist und dem Opfer geholfen hat und gleichzeitig auch noch ’ne Gewalttat gefilmt hat. Aber wir haben ja auch ein paar Tricks und Kniffe gelernt in der Ausbildung, und da haben wir versucht, den dann selbst in die Position zu bringen: Wenn er geschlagen werden würde und es würde jemand daneben stehen und das filmen, wie er das finden würde? Ich finde, wenn man den Täter in die Opferposition bringt, dass die dann auch immer recht redefreudig werden.“
Lilly: „Es ging superschnell, ich habe wenig gedacht in dem Moment.“
Sie nennt sich Lilly, ist 15, und war dabei, als ihre beste Freundin einer Frau die Handtasche stahl.
„Dann sind wir schnell weggelaufen. Wir sind in eine Bäckerei geflüchtet, haben uns da sicher geglaubt. Dann kam aber die Polizei rein und hat uns mit zur Wache genommen, und wir mussten ein paar Stunden in Haft sitzen. Ich war mir gar nicht klar, dass ich so im Unrecht war, ich dachte, ich bin da einfach so reingerutscht, ich kann gar nicht richtig was dafür. Aber als die uns im Teen-Court gefragt haben, warum wir das gemacht haben, kam mir schon der Gedanke, dass ich das nicht rechtfertigen kann, dass ich auf jeden Fall was dafür kann, dass ich das hätte verhindern können und mit meiner Freundin hätte reden sollen.“
Peter Wetzels: „Die meisten, die Kinder in diesem Alter haben, werden schnell nachvollziehen können, dass der Einfluss von Gleichaltrigen ernorm hoch ist.“
Peter Wetzels, Kriminologe an der Universität Hamburg.
„Auch was die Frage anbelangt: Woran orientiere ich mich, was finde ich richtig, was ist falsch, was muss man tun, um wieder zur Gemeinschaft zu gehören? All diese Prozesse sind in dieser Altersgruppe sehr stark in die Gleichaltrigengruppe verlagert. Das ist der Grundgedanke überhaupt eines solchen Modells.“
Murat sitzt auf seinem Stuhl, den Schüler-Richterinnen gegenüber, zwischen ihnen knapp ein Meter Abstand. Die Gesichter der Mädchen sind noch immer nicht unfreundlich, aber schwer zu lesen. Sie wissen alles, was über den Fall Murat bekannt ist, ein Sozialpädagoge, der sich während der Verhandlung im Hintergrund hält, hat sie anhand der Akte informiert. Murat studiert das Muster auf dem Fußboden.
Murat: " Das ist überhaupt nicht schön, vor Leuten zu sitzen, die im gleichen Alter sind, vielleicht auch die gleichen Hobbys haben, abends weggehen usw., und dann zu wissen: Das einzige, was mich als Jugendlichen unterscheidet, ist eine Straftat, die ich gemacht habe, und dann noch so eine schwere.“
Charly: „Die sind im selben Alter, die könnten auch Freunde sein. Das ist unangenehm, wenn man der ist, der was Blödes gemacht hat, und die anderen, die sind vernünftiger. Man kommt ein bisschen komisch rüber. Man hat auch nicht irgendwelche Kumpels, die einen unterstützen, sondern die Täter sind dann ja alleine, auf sich allein gestellt, haben drei andere vor sich sitzen… – das ist unangenehm.“
Charly beobachtet Murat. Auch Anne schaut ihn an, mit ausgesprochen coolem Augenaufschlag. Dass Täter sie nicht ernst nehmen, weil sie so jung ist – das ist nicht ihr Problem...
Anne: „Wir können ja immer zu den Tätern sagen: Der Fall geht zurück an die Staatsanwaltschaft und dann wird das vor Gericht verhandelt, und dann kommen die garantiert härter davon. Das stellt eigentlich die meisten ruhig.“
Jugendliche nähmen eher Gleichaltrige ernst als einen Staatsanwalt, sagt der Kriminologe Peter Wetzels, weil der kaum Zeit, keine Ahnung und ergo kein Verständnis habe. Ein Hamburger Jugendstaatsanwalt bekommt jeden Monat 120 bis 130 neue Fälle auf den Tisch.
Hast du zum ersten Mal jemanden geschlagen?, fragt Charly. Ja, sagt Murat; Teen-Courts verhandeln nur Fälle von Ersttätern.
Murat: „Mir passiert so was eigentlich nicht. Aber irgendwie… Es waren schwere Wochen für mich. Meine Mutter war gerade gestorben, und mein Vater wollte das alles nicht machen mit der Beerdigung, keine Ahnung, und hat mir das alles zugesteckt. Ich war auch total fertig davon. Da hab ich das dann wohl einfach nicht verkraftet, oder so.“
Wann war das?, fragt Rahel. Fünf Fälle hat sie schon verhandelt. Ich versuche, die Täter zu verstehen, sagt sie. Jugendstrafrecht zielt nicht auf Strafe, sondern Erziehung, frühzeitiges Unterbinden krimineller Karrieren durch Einsicht.
Anne: „Als du mit dieser Frau geredet hast: Hast du sie überrascht, indem du sie getreten hast, oder konnte sie merken, dass du sie gleich treten wirst?“
Murat: „Das kam einfach so. Ich hab irgendwann getreten, das war nicht so, dass ich ihr gedroht hätte oder so was.“
Anne: „Weißt du, dass dieser Frau die Gebärmutter entfernt werden musste?“
Murat: „Ja, ich hab irgendwie gehört, dass sie bleibende Schäden im Bauch hatte. Aber so genau wusste ich das nicht.“
Anne: „Was meinst du denn, wie sie sich in dem Moment gefühlt hat?“
Murat: „Wahrscheinlich nicht so gut.“
Wetzels: „Dass sie sich artikulieren können und sagen ‚Ich versuche jetzt mal zu erklären, warum ich das getan habe‘, das ist eine wichtige Voraussetzung um die Feststellung ‚Das war aber nicht in Ordnung‘ als gerecht überhaupt erleben zu können. Erwachsene erleben das auch: Wenn Sie in ein Gerichtsverfahren gehen und können Ihre Position überhaupt nicht erläutern, dann erleben Sie in der Tendenz ein Verfahren als unfair und sind wenig geneigt, ein Urteil als ein gerechtes Urteil zu akzeptieren. Sie sind gegebenenfalls geneigt, es notgedrungen hinzunehmen, aber wenn es um Einsichtsprozesse geht, und bei jungen Menschen geht es um Einsichts- und Lernprozesse, sie sind in der Phase des Lernens, dann ist dieses Notgedrungen-hinnehmen-aber-eigentlich-wirklich-falsch-finden ein ungünstiger Vorgang.“
Lilly: „Es war mir schon ziemlich unangenehm ihnen gegenüber, und ich habe mich… schon auch geschämt. Obwohl sie ziemlich sachlich waren. Ich hatte nicht unbedingt das Gefühl, dass sie mich verurteilt haben, aber trotzdem habe ich mich geschämt.“
Martin: „Wir sollen ja eine Vorbildfunktion haben, aber ich persönlich, wenn ich in ’ner Verhandlung bin, sehe ich mich nicht als Vorbild. Ich versuche mit ihm über seine Tat zu reden und ihm zu zeigen, dass es auch anders geht.“
Angelaufen ist es schleppend. 2006 fanden kaum Verhandlungen statt. Die Zusammenarbeit von Polizei, Jugendgerichtshilfe und Staatsanwaltschaft wurde neu organisiert – inzwischen haben die Hamburger Schüler-Richter knapp fünfzig Fälle verhandelt.
Wetzels: „Wir haben weniger Jugendkriminalität! Das wissen viele Menschen nicht oder glauben es nicht, jedenfalls ist die Jugendkriminalität gesunken. Angesichts der Diskussion um Mehrfach- und Intensivtäter und um Gewaltkriminalität gerät das sehr schnell aus dem Blick.“
Der Kriminologe Peter Wetzels, der das Hamburger Teen-Court-Projekt wissenschaftlich begleitet.
„Die Quote derer, die wir als Mehrfach- und Intensivtäter bezeichnen können, bezogen auf die Gesamtgruppe aller Täter, – die liegt bei knapp zehn Prozent. Das heißt, der weit überwiegende Teil junger Menschen ist kurzzeitig delinquent, mit wenig eingriffsintensiven Delikten delinquent, ist eher einmal, allenfalls zweimal delinquent und hört dann mit solchen Verhaltensweisen auf, aufgrund dessen, dass er aus diesem Verhalten auch lernt.“
Oft sind es einmalige Ausrutscher, pubertätsbedingt.
„Die Tatsache, dass eine Norm existiert, wird dadurch gelernt, dass ich sie verletzte und merke, dass hat eine Reaktion.“
Murat soll sich überlegen, was er tun kann, um seine Tat wiedergutzumachen – und sinkt tiefer in seinen Stuhl.
„Ich weiß ja nicht so genau, was ihr da so festsetzt, aber irgendwie ’ne Entschuldigung oder so was muss schon sein, denke ich mal.“
Dann muss der Beschuldigte den Saal verlassen.
Das Hohe Gericht, das nicht wirklich eines ist, berät.
Anne: „Ich finde, dass er erzählt hat, dass sein Vater ihn da gleich total geschlagen hat usw., ist schon heftig. Und dass seine Mutter vorher gestorben ist. Ich hatte auch den Eindruck, dass er es schon bereut, oder? Was meint ihr?“
Rahel und Charly: „Ja …“
Anne: „Wir könnten sonst einen Täter-Opfer-Ausgleich machen, wenn die Frau das will. Und wenn sie es nicht will, sagen wir: schriftliche Entschuldigung plus Blumenstrauß.“
Rahel und Charly: „Ja.“
Rolf Lieberich: „Mir ist kein Fall bisher bekannt geworden, weder aus meinem Dezernat noch von Kollegen, wo ein Kollege gesagt hat: Nein, die Schüler-Richter sind mir da zu milde gewesen, und ich klage es jetzt trotzdem an.“
Oberstaatsanwalt Rolf Lieberich.
„Und dann akzeptieren wir das, was die Schüler-Richter gemacht haben. Auch wenn es vielleicht bei einer Ermahnung geblieben ist – aber in der Tat, die Auseinandersetzung mit drei ungefähr Gleichaltrigen ist in der Regel unangenehm genug für den Betroffenen, und dabei soll es dann auch bleiben.“
Wetzels: „Es sind schon Maßnahmen, wo man sagen muss: Sie sind dem Verhalten und der Person, um die es geht, angemessen. Es hat in der Vergangenheit einzelne Fälle gegeben, in denen Teen-Court-Mitglieder zu Maßnahmen greifen wollten, die in unserer Rechtsordnung nicht zulässig sind, zum Beispiel – ist nicht in Hamburg passiert, ist an einem anderen Ort passiert – wollten sie einem Jugendlichen, der einen Ladendiebstahl begangen hat, als Maßnahme verordnen, dass er ein großes Pappschild schreibt: Ich bin ein Ladendieb. Und mit diesem Pappschild mehrere Stunden lang die Einkaufszone rauf und runter geht. Diese Form von Prangerstrafen sind in unserer Rechtsordnung nicht zulässig und auch aus pädagogischen Gründen sinnlos.“
Täter müssen sich entschuldigen, ein Opfer ins Kino einladen, Schadensersatz oder Sozialstunden leisten, meist Gartenarbeit in Grünanlagen. Die Jugendgerichtshilfe achtet darauf, dass die Maßnahmen erfüllt werden.
Rahel: „Einmal war es so, dass hier eine saß, wo auch die anderen dachten, dass sie überhaupt nicht einsichtig war. Dass wenn sie dafür cool ist, sie das einfach noch mal machen würde. Sie hatte bei H&M für 100 Euro was gestohlen, mit ihrer Freundin. Ich hab es nicht verstanden, warum sie so uneinsichtig war. Sie hat auch so geguckt: Is’ mir eigentlich auch egal, Hauptsache, das geht hier schnell vorbei, und nächstes Mal lasse ich mich halt nicht erwischen. Da hatte ich Zweifel. Ich weiß es nicht, ob sie das nicht noch einmal macht… – ich weiß es einfach nicht.“
Der Beschuldigte kommt wieder in den Saal, setzt sich.
Anne: „Wir haben uns entschieden, dass wir einen Täter-Opfer-Ausgleich versuchen wollen mit der Frau. Weißt du, was ein Täter-Opfer-Ausgleich ist?“
Murat: „Nein, nicht so richtig.“
Anne: „Da kommen du und das Opfer hier zusammen, und dann redet ihr darüber und versucht, das Ganze zu reflektieren. Das kann aber nur passieren, wenn die Frau damit einverstanden ist. Wenn sie nicht einverstanden ist, dann wollen wir gern, dass du eine schriftliche Entschuldigung schreibst. Und einen Blumenstrauß zusätzlich, auch zum Täter-Opfer-Ausgleich.“
Bist du einverstanden?, fragt Rahel; lehnen Beschuldigte eine Sanktion ab, geht ihr Fall zurück an die zur Staatsanwaltschaft. Murat sagt: Ja, einverstanden. Das wars, sagt Charly.
Auch Lilly und ihre Freundin mussten der Frau, der sie die Handtasche gestohlen hatten, Blumen schicken und Entschuldigungsbriefe schreiben
Lilly: „Am Anfang saß ich davor und hatte keine Ahnung, was ich schreiben soll. Ich habe mich auch so geschämt in dem Augenblick, weil ich dachte, die denkt ja, ich bin ein Schwerverbrecher oder die kann das ja gar nicht verstehen. Ich habe mich total für mich geschämt, weil ich dabei war und so was zugelassen habe – viel mehr als es mir in dem Moment, wo wir die Tat begangen haben, bewusst war. Ich habe dann immer wieder geschrieben, wie leid es mir tut – aber ich kam mir irgendwie lächerlich dabei vor. Weil ich wusste gar nicht, wie ich das wiedergutmachen sollte oder gutmachen hätte können.“
In Bayern ergab die erste Bilanz eines ähnlichen Projekts niedrigere Rückfallquoten. Für solide wissenschaftliche Aussagen sind die Fallzahlen – dort und in Hamburg – noch zu klein. Momentan monieren Kritiker, dass Bagatelldelikte, die vor Teen-Courts gebracht werden, unnötig aufgebauscht würden. Kritiker der Kritiker halten dagegen: Jugendlichen klarzumachen, dass sie Unrecht begangen hat, sei klüger, als ein Verfahren ohne Folgen einzustellen.
Einige Kollegen, so Staatsanwalt Lieberich, zögerten noch, andere nutzten die Möglichkeit bereits. Insgesamt könnten die Teen-Courts in der Hamburger Staatsanwaltschaft gern selbstverständlicher werden. Von den ordentlichen Hamburger Jugend-Richtern will sich niemand zum Projekt Teen-Court äußern.
Der Beschuldigte geht, und das Hohe Gericht, das nicht wirklich eines ist, rückt Stühle, zieht Parka und Jacken an. Charly nimmt ihre H&M-Tüte mit dem roten Top mit den weißen Tupfen, und alle gehen nach Hause. Morgen früh müssen sie wieder in die Schule.
Das Hohe Gericht war noch schnell bei H&M und hat ein Top gekauft, rot, mit weißen Tupfen. Es liegt jetzt, mit Nagellack und Haarschleifen in einer Tüte verstaut, auf der Fensterbank.
Das Hohe Gericht rückt Stühle zusammen. Die Richterinnen tragen Jeans, eine eine Zahnspange. Sie tuscheln, warten. Dann kommt der Beschuldigte.
Er sagt leise Hallo und setzt sich. Rahel, 14, fragt, ob er gut hergefunden hat. Anne, 17, erklärt die Regeln:
„Ganz wichtig: Wir sind keine Richter, wir sind genauso wie du Schüler und versuchen jetzt, mit dir über deine Tat zu reden. Und dann wollen wir am Ende des Gesprächs eine Lösung oder Maßnahme entwickeln oder bestimmen, die du dann erfüllen musst.“
Der Beschuldigte nickt. Charly, 15, ergänzt: Keine Gewalt, keine Beschimpfungen, und jeder lässt den anderen ausreden. Einverstanden?, fragt Anne. Der Beschuldigte nickt. Super, sagt das Gericht.
Anne: „Dann erzähl doch mal: Warum bist du hier?“
Murat, Hände im Schoß, die Beine ausgestreckt, zum Tatzeitpunkt 15 Jahre alt, erzählt:
„Im letzten Sommer, Juli oder so, hab ich so eine Frau ein bisschen getreten. Vielleicht ein bisschen mehr sogar. Ich hab ein Stück Kaugummipapier auf den Gehweg geschmissen, und die ist vorbeigekommen mit ihrem Mann. Ihr Mann hat mich angemacht, dass ich das aufheben soll. Ich meine: Wer macht das nicht, Kaugummi auf den Gehweg schmeißen, das macht doch jeder, ist doch egal.“
Anne, Rahel und Charly hören zu. Sie haben eine Polizeiwache besucht, mit einem Staatsanwalt und einem Vertreter der Jugendgerichtshilfe gesprochen und viele Rollenspiele gemacht; selbstverständlich sind sie noch nie strafrechtlich in Erscheinung getreten. Sie machen sich Notizen und sachliche, nicht unfreundliche Gesichter.
Murat: „Ihr Mann hat dann Stress gemacht. Irgendwie kam es zu ’ner Diskussion über Ausländer. Ob das was damit zu tun hätte?, meinte mein Vater.“
Der Fall ist klar, der Täter geständig, außerdem hat er sich damit einverstanden erklärt, vor dem Schüler-Gericht zu erscheinen. Anne, Charly und Rahel müssen keine Ermittlungsarbeit leisten, wenn sie Diebstähle verhandeln, Nötigungen oder Körperverletzung, wie im Fall von Murat.
Rahel: „Hab ich das richtig verstanden: Du hast Sachen ins Auto geräumt mit deinem Vater, dann hast du dein Kaugummipapier auf den Boden geschmissen, dabei sind gerade zwei Leute gekommen und haben sich beschwert, und deshalb kam es zur Diskussion, und du hast der Frau in den Bauch getreten?“
Anne: „Während der Mann dabei war?“
Murat: „Nee, der war schon weggegangen. Sie wollte dann noch klarstellen, dass das überhaupt nichts mit Ausländern zu tun hatte oder so… Ich weiß das auch nicht mehr so ganz genau. Sie wollte irgendwie klarstellen, dass es nur um das Papier ging und alle das Gleiche machen müssen. Auf jeden Fall kam es irgendwie weiter zum Streit, keine Ahnung, und irgendwie habe ich einfach ja … – zugetreten. Ich weiß nicht, wie mir das passiert ist.“
Anne: „Was ist danach passiert, nachdem du zugetreten hast?“
Murat: „Da ist mein Vater voll durchgedreht, hat mich geschlagen, ins Auto gebracht, ist schnell weggefahren, weiß nicht … war ganz schlimm.“
Der Fall ist nachgestellt, ein Rollenspiel, doch er hat so ähnlich in anderer Besetzung vor dem Teen-Court stattgefunden. Verstößt ein strafmündiger Jugendlicher gegen das Gesetz, stellt die Staatsanwaltschaft bei Bagatelldelikten üblicherweise das Verfahren ein, bei schwerwiegenderen Verstößen bestellt ein Jugendstaatsanwalt den Täter zum Ermahnungsgespräch doch darf er keine Sanktionen verhängen, das darf nur ein Richter, und in gravierenden Fällen wird Anklage erhoben.
Zwischen Gespräch und ordentlicher Verhandlung stehen Teen-Courts. Seit September 2006 verweist die Hamburger Staatsanwaltschaft geeignete Fälle an einen Teen-Court. 11 Schüler aus Gymnasien, Haupt-, Real- und Gesamtschulen verhandeln inzwischen. Rolf Lieberich von der Hamburger Staatsanwaltschaft:
„Diese Schüler sind – obwohl uns kein besserer Ausdruck eingefallen ist als Schüler-Richter – keine Richter. Sie sind Jugendliche wie der Jugendliche, der vor ihnen sitzt auch, und sie sollen mit der ihnen eigenen, vielleicht größeren Überzeugungskraft klarmachen, was sie davon halten. Und das ist auch der Unterschied der verschiedenen Schüler-Richter-Projekte, die es in Deutschland gibt, zu den Teen-Court-Verfahren, die es in Amerika gibt, wo die Schüler dann tatsächlich als Gericht in Roben in einem Saal in der Schule auftreten und quasi ein Erwachsenengericht nachempfinden.“
Martin: „Mein allererster Fall, der war gleich vierzehn Tage nach meiner Ausbildung.“
Martin, 17, ist seit Sommer 2007 beim Teen-Court.
„Das war anfangs ein komisches Gefühl: Jetzt gehst du da hin, es ist dein allererster Fall, und du weißt nicht, was auf dich zukommt. Du hast es in Rollenspielen durchgeprobt, aber da warst du unter Personen, die du recht gut kennst, da war niemand, den du nicht kennst – also den Täter dürfen wir ja nicht kennen, sonst dürfen wir an der Verhandlung nicht teilnehmen. Als es dann anfing, war die Angst oder Aufregung total verflogen. Es war recht normal. Weil die Atmosphäre auch schön ruhig gehalten werden soll, so dass der Täter auch keine Angst hat oder was nicht erzählen will.“
Ein Junge hatte einen anderen verprügelt, zwei Freunde hatten gefilmt.
„Der eine, der es gefilmt hat, hat anfangs nicht richtig eingesehen, dass es eine Straftat war, was er gemacht hat – dass er nicht eingeschritten ist und dem Opfer geholfen hat und gleichzeitig auch noch ’ne Gewalttat gefilmt hat. Aber wir haben ja auch ein paar Tricks und Kniffe gelernt in der Ausbildung, und da haben wir versucht, den dann selbst in die Position zu bringen: Wenn er geschlagen werden würde und es würde jemand daneben stehen und das filmen, wie er das finden würde? Ich finde, wenn man den Täter in die Opferposition bringt, dass die dann auch immer recht redefreudig werden.“
Lilly: „Es ging superschnell, ich habe wenig gedacht in dem Moment.“
Sie nennt sich Lilly, ist 15, und war dabei, als ihre beste Freundin einer Frau die Handtasche stahl.
„Dann sind wir schnell weggelaufen. Wir sind in eine Bäckerei geflüchtet, haben uns da sicher geglaubt. Dann kam aber die Polizei rein und hat uns mit zur Wache genommen, und wir mussten ein paar Stunden in Haft sitzen. Ich war mir gar nicht klar, dass ich so im Unrecht war, ich dachte, ich bin da einfach so reingerutscht, ich kann gar nicht richtig was dafür. Aber als die uns im Teen-Court gefragt haben, warum wir das gemacht haben, kam mir schon der Gedanke, dass ich das nicht rechtfertigen kann, dass ich auf jeden Fall was dafür kann, dass ich das hätte verhindern können und mit meiner Freundin hätte reden sollen.“
Peter Wetzels: „Die meisten, die Kinder in diesem Alter haben, werden schnell nachvollziehen können, dass der Einfluss von Gleichaltrigen ernorm hoch ist.“
Peter Wetzels, Kriminologe an der Universität Hamburg.
„Auch was die Frage anbelangt: Woran orientiere ich mich, was finde ich richtig, was ist falsch, was muss man tun, um wieder zur Gemeinschaft zu gehören? All diese Prozesse sind in dieser Altersgruppe sehr stark in die Gleichaltrigengruppe verlagert. Das ist der Grundgedanke überhaupt eines solchen Modells.“
Murat sitzt auf seinem Stuhl, den Schüler-Richterinnen gegenüber, zwischen ihnen knapp ein Meter Abstand. Die Gesichter der Mädchen sind noch immer nicht unfreundlich, aber schwer zu lesen. Sie wissen alles, was über den Fall Murat bekannt ist, ein Sozialpädagoge, der sich während der Verhandlung im Hintergrund hält, hat sie anhand der Akte informiert. Murat studiert das Muster auf dem Fußboden.
Murat: " Das ist überhaupt nicht schön, vor Leuten zu sitzen, die im gleichen Alter sind, vielleicht auch die gleichen Hobbys haben, abends weggehen usw., und dann zu wissen: Das einzige, was mich als Jugendlichen unterscheidet, ist eine Straftat, die ich gemacht habe, und dann noch so eine schwere.“
Charly: „Die sind im selben Alter, die könnten auch Freunde sein. Das ist unangenehm, wenn man der ist, der was Blödes gemacht hat, und die anderen, die sind vernünftiger. Man kommt ein bisschen komisch rüber. Man hat auch nicht irgendwelche Kumpels, die einen unterstützen, sondern die Täter sind dann ja alleine, auf sich allein gestellt, haben drei andere vor sich sitzen… – das ist unangenehm.“
Charly beobachtet Murat. Auch Anne schaut ihn an, mit ausgesprochen coolem Augenaufschlag. Dass Täter sie nicht ernst nehmen, weil sie so jung ist – das ist nicht ihr Problem...
Anne: „Wir können ja immer zu den Tätern sagen: Der Fall geht zurück an die Staatsanwaltschaft und dann wird das vor Gericht verhandelt, und dann kommen die garantiert härter davon. Das stellt eigentlich die meisten ruhig.“
Jugendliche nähmen eher Gleichaltrige ernst als einen Staatsanwalt, sagt der Kriminologe Peter Wetzels, weil der kaum Zeit, keine Ahnung und ergo kein Verständnis habe. Ein Hamburger Jugendstaatsanwalt bekommt jeden Monat 120 bis 130 neue Fälle auf den Tisch.
Hast du zum ersten Mal jemanden geschlagen?, fragt Charly. Ja, sagt Murat; Teen-Courts verhandeln nur Fälle von Ersttätern.
Murat: „Mir passiert so was eigentlich nicht. Aber irgendwie… Es waren schwere Wochen für mich. Meine Mutter war gerade gestorben, und mein Vater wollte das alles nicht machen mit der Beerdigung, keine Ahnung, und hat mir das alles zugesteckt. Ich war auch total fertig davon. Da hab ich das dann wohl einfach nicht verkraftet, oder so.“
Wann war das?, fragt Rahel. Fünf Fälle hat sie schon verhandelt. Ich versuche, die Täter zu verstehen, sagt sie. Jugendstrafrecht zielt nicht auf Strafe, sondern Erziehung, frühzeitiges Unterbinden krimineller Karrieren durch Einsicht.
Anne: „Als du mit dieser Frau geredet hast: Hast du sie überrascht, indem du sie getreten hast, oder konnte sie merken, dass du sie gleich treten wirst?“
Murat: „Das kam einfach so. Ich hab irgendwann getreten, das war nicht so, dass ich ihr gedroht hätte oder so was.“
Anne: „Weißt du, dass dieser Frau die Gebärmutter entfernt werden musste?“
Murat: „Ja, ich hab irgendwie gehört, dass sie bleibende Schäden im Bauch hatte. Aber so genau wusste ich das nicht.“
Anne: „Was meinst du denn, wie sie sich in dem Moment gefühlt hat?“
Murat: „Wahrscheinlich nicht so gut.“
Wetzels: „Dass sie sich artikulieren können und sagen ‚Ich versuche jetzt mal zu erklären, warum ich das getan habe‘, das ist eine wichtige Voraussetzung um die Feststellung ‚Das war aber nicht in Ordnung‘ als gerecht überhaupt erleben zu können. Erwachsene erleben das auch: Wenn Sie in ein Gerichtsverfahren gehen und können Ihre Position überhaupt nicht erläutern, dann erleben Sie in der Tendenz ein Verfahren als unfair und sind wenig geneigt, ein Urteil als ein gerechtes Urteil zu akzeptieren. Sie sind gegebenenfalls geneigt, es notgedrungen hinzunehmen, aber wenn es um Einsichtsprozesse geht, und bei jungen Menschen geht es um Einsichts- und Lernprozesse, sie sind in der Phase des Lernens, dann ist dieses Notgedrungen-hinnehmen-aber-eigentlich-wirklich-falsch-finden ein ungünstiger Vorgang.“
Lilly: „Es war mir schon ziemlich unangenehm ihnen gegenüber, und ich habe mich… schon auch geschämt. Obwohl sie ziemlich sachlich waren. Ich hatte nicht unbedingt das Gefühl, dass sie mich verurteilt haben, aber trotzdem habe ich mich geschämt.“
Martin: „Wir sollen ja eine Vorbildfunktion haben, aber ich persönlich, wenn ich in ’ner Verhandlung bin, sehe ich mich nicht als Vorbild. Ich versuche mit ihm über seine Tat zu reden und ihm zu zeigen, dass es auch anders geht.“
Angelaufen ist es schleppend. 2006 fanden kaum Verhandlungen statt. Die Zusammenarbeit von Polizei, Jugendgerichtshilfe und Staatsanwaltschaft wurde neu organisiert – inzwischen haben die Hamburger Schüler-Richter knapp fünfzig Fälle verhandelt.
Wetzels: „Wir haben weniger Jugendkriminalität! Das wissen viele Menschen nicht oder glauben es nicht, jedenfalls ist die Jugendkriminalität gesunken. Angesichts der Diskussion um Mehrfach- und Intensivtäter und um Gewaltkriminalität gerät das sehr schnell aus dem Blick.“
Der Kriminologe Peter Wetzels, der das Hamburger Teen-Court-Projekt wissenschaftlich begleitet.
„Die Quote derer, die wir als Mehrfach- und Intensivtäter bezeichnen können, bezogen auf die Gesamtgruppe aller Täter, – die liegt bei knapp zehn Prozent. Das heißt, der weit überwiegende Teil junger Menschen ist kurzzeitig delinquent, mit wenig eingriffsintensiven Delikten delinquent, ist eher einmal, allenfalls zweimal delinquent und hört dann mit solchen Verhaltensweisen auf, aufgrund dessen, dass er aus diesem Verhalten auch lernt.“
Oft sind es einmalige Ausrutscher, pubertätsbedingt.
„Die Tatsache, dass eine Norm existiert, wird dadurch gelernt, dass ich sie verletzte und merke, dass hat eine Reaktion.“
Murat soll sich überlegen, was er tun kann, um seine Tat wiedergutzumachen – und sinkt tiefer in seinen Stuhl.
„Ich weiß ja nicht so genau, was ihr da so festsetzt, aber irgendwie ’ne Entschuldigung oder so was muss schon sein, denke ich mal.“
Dann muss der Beschuldigte den Saal verlassen.
Das Hohe Gericht, das nicht wirklich eines ist, berät.
Anne: „Ich finde, dass er erzählt hat, dass sein Vater ihn da gleich total geschlagen hat usw., ist schon heftig. Und dass seine Mutter vorher gestorben ist. Ich hatte auch den Eindruck, dass er es schon bereut, oder? Was meint ihr?“
Rahel und Charly: „Ja …“
Anne: „Wir könnten sonst einen Täter-Opfer-Ausgleich machen, wenn die Frau das will. Und wenn sie es nicht will, sagen wir: schriftliche Entschuldigung plus Blumenstrauß.“
Rahel und Charly: „Ja.“
Rolf Lieberich: „Mir ist kein Fall bisher bekannt geworden, weder aus meinem Dezernat noch von Kollegen, wo ein Kollege gesagt hat: Nein, die Schüler-Richter sind mir da zu milde gewesen, und ich klage es jetzt trotzdem an.“
Oberstaatsanwalt Rolf Lieberich.
„Und dann akzeptieren wir das, was die Schüler-Richter gemacht haben. Auch wenn es vielleicht bei einer Ermahnung geblieben ist – aber in der Tat, die Auseinandersetzung mit drei ungefähr Gleichaltrigen ist in der Regel unangenehm genug für den Betroffenen, und dabei soll es dann auch bleiben.“
Wetzels: „Es sind schon Maßnahmen, wo man sagen muss: Sie sind dem Verhalten und der Person, um die es geht, angemessen. Es hat in der Vergangenheit einzelne Fälle gegeben, in denen Teen-Court-Mitglieder zu Maßnahmen greifen wollten, die in unserer Rechtsordnung nicht zulässig sind, zum Beispiel – ist nicht in Hamburg passiert, ist an einem anderen Ort passiert – wollten sie einem Jugendlichen, der einen Ladendiebstahl begangen hat, als Maßnahme verordnen, dass er ein großes Pappschild schreibt: Ich bin ein Ladendieb. Und mit diesem Pappschild mehrere Stunden lang die Einkaufszone rauf und runter geht. Diese Form von Prangerstrafen sind in unserer Rechtsordnung nicht zulässig und auch aus pädagogischen Gründen sinnlos.“
Täter müssen sich entschuldigen, ein Opfer ins Kino einladen, Schadensersatz oder Sozialstunden leisten, meist Gartenarbeit in Grünanlagen. Die Jugendgerichtshilfe achtet darauf, dass die Maßnahmen erfüllt werden.
Rahel: „Einmal war es so, dass hier eine saß, wo auch die anderen dachten, dass sie überhaupt nicht einsichtig war. Dass wenn sie dafür cool ist, sie das einfach noch mal machen würde. Sie hatte bei H&M für 100 Euro was gestohlen, mit ihrer Freundin. Ich hab es nicht verstanden, warum sie so uneinsichtig war. Sie hat auch so geguckt: Is’ mir eigentlich auch egal, Hauptsache, das geht hier schnell vorbei, und nächstes Mal lasse ich mich halt nicht erwischen. Da hatte ich Zweifel. Ich weiß es nicht, ob sie das nicht noch einmal macht… – ich weiß es einfach nicht.“
Der Beschuldigte kommt wieder in den Saal, setzt sich.
Anne: „Wir haben uns entschieden, dass wir einen Täter-Opfer-Ausgleich versuchen wollen mit der Frau. Weißt du, was ein Täter-Opfer-Ausgleich ist?“
Murat: „Nein, nicht so richtig.“
Anne: „Da kommen du und das Opfer hier zusammen, und dann redet ihr darüber und versucht, das Ganze zu reflektieren. Das kann aber nur passieren, wenn die Frau damit einverstanden ist. Wenn sie nicht einverstanden ist, dann wollen wir gern, dass du eine schriftliche Entschuldigung schreibst. Und einen Blumenstrauß zusätzlich, auch zum Täter-Opfer-Ausgleich.“
Bist du einverstanden?, fragt Rahel; lehnen Beschuldigte eine Sanktion ab, geht ihr Fall zurück an die zur Staatsanwaltschaft. Murat sagt: Ja, einverstanden. Das wars, sagt Charly.
Auch Lilly und ihre Freundin mussten der Frau, der sie die Handtasche gestohlen hatten, Blumen schicken und Entschuldigungsbriefe schreiben
Lilly: „Am Anfang saß ich davor und hatte keine Ahnung, was ich schreiben soll. Ich habe mich auch so geschämt in dem Augenblick, weil ich dachte, die denkt ja, ich bin ein Schwerverbrecher oder die kann das ja gar nicht verstehen. Ich habe mich total für mich geschämt, weil ich dabei war und so was zugelassen habe – viel mehr als es mir in dem Moment, wo wir die Tat begangen haben, bewusst war. Ich habe dann immer wieder geschrieben, wie leid es mir tut – aber ich kam mir irgendwie lächerlich dabei vor. Weil ich wusste gar nicht, wie ich das wiedergutmachen sollte oder gutmachen hätte können.“
In Bayern ergab die erste Bilanz eines ähnlichen Projekts niedrigere Rückfallquoten. Für solide wissenschaftliche Aussagen sind die Fallzahlen – dort und in Hamburg – noch zu klein. Momentan monieren Kritiker, dass Bagatelldelikte, die vor Teen-Courts gebracht werden, unnötig aufgebauscht würden. Kritiker der Kritiker halten dagegen: Jugendlichen klarzumachen, dass sie Unrecht begangen hat, sei klüger, als ein Verfahren ohne Folgen einzustellen.
Einige Kollegen, so Staatsanwalt Lieberich, zögerten noch, andere nutzten die Möglichkeit bereits. Insgesamt könnten die Teen-Courts in der Hamburger Staatsanwaltschaft gern selbstverständlicher werden. Von den ordentlichen Hamburger Jugend-Richtern will sich niemand zum Projekt Teen-Court äußern.
Der Beschuldigte geht, und das Hohe Gericht, das nicht wirklich eines ist, rückt Stühle, zieht Parka und Jacken an. Charly nimmt ihre H&M-Tüte mit dem roten Top mit den weißen Tupfen, und alle gehen nach Hause. Morgen früh müssen sie wieder in die Schule.