Der Religionsunterricht als Politikum

Von Beate Strenge |
Der Religionsunterricht ist im eher weltlich geprägten Berlin zu einem Politikum geworden. Der Grund: Seit vor zwei Jahren das Pflichtfach Ethik eingeführt wurde, wählen immer weniger Schüler die zusätzlichen Religionsstunden. Gegen diesen Abwärtstrend hat sich die Initiative „Pro Reli“ aufgestellt. Die Initiative „Pro Ethik“ hält dagegen.
Schülerumfrage: „Weil die Schule auch generell immer länger wird und ich auch noch einige freizeitliche Aktivitäten habe, hab ich jetzt im nächsten Halbjahr keine Religion gewählt. Ich hab’s also nur aus rein zeitlichen Gründen abgewählt. – Einmal der zeitliche Aspekt. Aber es ist auch so, dass mich Religion einfach nicht mehr interessiert. – Anfangs war es der zeitliche Aspekt, aber jetzt ist es so, dass ich seit eineinhalb Jahren aus eigener Überzeugung Atheist bin.“

Religionsunterricht hat in Berlin einen schweren Stand, vor allem in den Oberschulen. Besonders mau sieht es im Ostteil aus und in den innerstädtischen Multikulti-Bezirken. Reli-Hochburgen waren bisher die Gymnasien in den bürgerlichen West-Bezirken. Aber nun bröckelt es auch hier. Das hat zwei handfeste Gründe: die Aufstockung des Stundenplans, weil aus 13 Schuljahren 12 wurden, und: die Einführung des Pflichtfaches Ethik vor zwei Jahren – für alle Schüler von Klasse 7 bis 10. Wer Religionsunterricht möchte, muss zusätzlich an zwei Wochenstunden teilnehmen. Regine Seidel, evangelische Religionslehrerin am Gymnasium, hat erlebt, wie ihr Fach an den Rand rückte.

„Zuerst einmal hat sich die Anmeldezahl zu den 7. Klassen so ungefähr um 50/60 Prozent reduziert. Und wenn die dann den Stundenplan gesehen haben, wenn die sehen, das ist in der achten/neunten Stunde, die sagen dann: Das ist mir zu anstrengend, oder da hab ich Klarinette. Das heißt, dass da noch mal 50 Prozent gehen.“

Die Evangelische Kirche unterrichtet als größter Anbieter noch rund ein Viertel aller Berliner Schüler. Seit der Einführung des Unterrichtsfachs Ethik verzeichnet sie in Klassenstufe sieben einen deutlichen Rückgang: im Durchschnitt 27 Prozent weniger Anmeldungen. An vorderster Front gegen diesen Trend kämpft Christoph Lehmann, Gründer der Initiative „Pro Reli“, Anwalt in einer Kanzlei am Kudamm, Vater von vier Kindern, aktiver Katholik und CDU-Lokal-Politiker. Hinter ihm stehen die CDU und die FDP und die beiden großen Kirchen. „Pro Reli“ will religiöse Bindungen stärken und kämpft für einen Volksentscheid.

Christoph Lehmann: „Wir möchten, dass alle Schüler verpflichtet sind, entweder am Ethikunterricht oder am Religionsunterricht teilzunehmen, und zwar egal welcher Konfession. Das kann christlich sein, das kann jüdisch sein, dass kann muslimisch sein. Und zwar das auch nicht erst ab der siebten Klasse, sondern wir wollen, dass Ethikunterricht sogar gestärkt wird – ab der ersten Klasse unterrichtet wird, aber in einem Wahlpflichtverhältnis zu Religion.“

Gegen diesen Vorstoß hat sich „Pro Ethik formiert“. Die Initiative lehnt eine Wahlmöglichkeit Religions- oder Ethikunterricht ab. Ihr Frontmann heißt Gerhard Weil, gelernter Lehrer, Seminardirektor für interkulturelle Fragen, ehemals Seefahrer, praktizierender Buddhist. Er leitet den Landesausschusses für multikulturelle Angelegenheiten der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Hinter ihm stehen die regierenden Parteien SPD, Die Linke – und auch die Grünen. Sie wollen, dass Ethik Pflichtfach für alle bleibt – aber nur von Klasse sieben bis zehn.

„Das Hauptargument ist, dass wir hier in einer multikulturellen Stadt leben mit sehr vielen Weltanschauungen, Religionen, aber vielen Leuten, die damit gar nichts zu tun haben wollen. Wir wollen, dass sich alle Schüler, und zwar gemeinsam, mit den Fragen der Ethik, philosophischen Fragen und des Lebenssinns beschäftigen.“

Der Ethikunterricht versteht sich als weltanschaulich neutral. Minimalkonsens sind die Menschenrechte und das Grundgesetz. Er soll alltägliche, philosophische und religiöse Aspekte einbeziehen. Der Lehrplan dreht sich um sechs Themenbereiche, zum Beispiel um Identität, Freundschaft und Glück, um Diskriminierung und Gewalt, und auch um Wissen, Hoffen, Glauben. Besuche von Kirchen, Moscheen und Synagogen sind ausdrücklich erwünscht.

Eine Gesamtschule in Berlin: Ethik-Lehrerin Regina Leder unterrichtet Kinder aus unterschiedlichen Kulturen. Vor Feiertagen halten die Schüler Referate – über Ostern oder das muslimische Zuckerfest, und lernen voneinander. Die Lehrerin steht hinter „Pro Ethik“, weil ihr der gemeinsame Unterricht wichtig ist. Ein Beispiel: das Thema „Strafe“.

„Die türkischen Kinder waren eigentlich fast alle der Meinung, dass man Kinder schlagen muss, um Respekt bei ihnen zu erreichen. Dann habe ich ihnen erstmal gesagt, dass, wenn sie in Deutschland leben, auf sie das deutsche Recht zutrifft. Wir haben dann aber ganz viele Diskussionen geführt. Bis auf einen Schüler waren dann doch viele der Meinung, dass Schlagen zumindest nur in Ausnahmefällen angewandt werden sollte.“

Islamunterricht wird bisher nur an wenigen Berliner Schulen erteilt. Viele muslimische Kinder würden Ethik abwählen, wenn ihre Religion als Alternative angeboten würde – wie es der „Pro-Reli“-Vorschlag beinhaltet.

Schülerumfrage: „Wenn es hier einen muslimischen Unterricht geben würde, dann würde ich schon hingehen, weil ich da was lernen würde und das meine Pflicht ist. – Ich würde Religion wählen, weil ich mehr über meine Religion erfahren möchte und weil’s Spaß macht. – Wenn alle christlich Geprägten im christlichen Religionsunterricht sitzen und alle Moslems im Islamunterricht, dann sitzen im Ethikunterricht nur noch die Atheisten.“

„Pro Reli“ sagt: Zuerst müssen die Schüler mehr über ihre eigenen Wurzeln lernen, bevor sie sich mit anderen wirklich auseinandersetzen können. Religionslehrerin Regine Seidel, „Pro-Reli“-Befürworterin, wünscht sich einen kompetenten Religionsunterricht – nicht nur für Christen.

„Ich bin der festen Überzeugung, dass muslimische Schüler ganz dringend Religionsunterricht brauchen, und zwar wirklichen Religionsunterricht von einem authentischen Mitglied der muslimischen Gemeinde, der ihnen beibringen kann, warum zum Beispiel Ehrenmorde nichts mit dem Koran zu tun haben. Genauso wie evangelische Religionslehrer bestimmte Dinge vermitteln, dass zum Beispiel die Kreuzzüge keinen Glaubenshintergrund hatten, sondern auch nur alles egoistische gruppenbezogene Motive waren, die dazu geführt haben. Das könnte man in einem muslimischen Religionsunterricht sehr schön machen.“

„Pro Reli“ will aber noch mehr als die Wahlpflicht. Religion soll auch in Berlin ordentliches Lehrfach werden, wie es im Grundgesetz verankert ist – mit staatlichen Lehrern und versetzungsrelevanten Noten. In Berlin gilt eine Sonderregelung von 1948, ein Kompromiss aus der Zeit des Viermächtestatus. Die Berliner Religionslehrer sind nicht beim Staat angestellt, sondern bei den Glaubensgemeinschaften. Die Zensuren zählen nicht für den Notenschnitt. Der Senat stellt die Schulräume und zahlt den Hauptanteil – bis zu 90 Prozent. Das sei genug Unterstützung vom Staat, meint „Pro Ethik“. „Pro Reli“-Sprecher Lehmann will dagegen die Berliner Ausnahmeregelung kippen:

„Wir haben in Deutschland keine so strenge Trennung von Religion und Staat wie in anderen Ländern. Das Grundgesetz schreibt ja in allen Bundesländern vor, dass Religion ein ordentliches Lehrfach in öffentlichen Schulen zu sein hat. Die inhaltliche Neutralität des Staates wird dadurch sichergestellt, dass die Kinder die Wahl haben. Keiner kann und soll verpflichtet werden, den einen oder anderen Religionsunterricht zu machen.“

Wenn Religion zum regulären Lehrfach würde, könne man künftig auch Ausbildung und Unterricht von Islamlehrern staatlich besser kontrollieren, sagt „Pro Reli“. „Pro Ethik“-Sprecher Weil hält das für eine Illusion:

„Der Religionslehrplan der Islamischen Föderation ist X-mal überarbeitet worden auf Druck des Senats. Und die sind ständig im Unterricht gewesen und haben sich das angeguckt. Mehr Kontrolle kann man auch nicht in einem Religionsunterricht machen, der unter staatlichem Dach ist. Und dann hat man sie mit im Staat drin und bezahlt als Beamte.“
Der Schlagabtausch ist hart. Die Pro-Ethiker sehen im „Pro-Reli“-Vorhaben ein „Ost-West-Zerwürfnis“, die Gefahr der „Ghettobildung“, gar einen „Kulturkampf“. Andererseits nennen „Pro-Reli“-Streiter den verpflichtenden Ethikunterricht zuweilen einen „Jahrmarkt der Kulturen“, eine „Zwangsbeglückung“, oder eine „idealistische Träumerei“. Ob der Kampf zwischen „Pro Reli“ und „Pro Ethik“ mit einem Volksentscheid im Juni 2009 ausgefochten wird, entscheiden die Berliner Bürger. Zunächst müssen bis Januar 170 000 Unterschriften dafür zusammenkommen. Die Debatte hat begonnen – auch unter Schülern.

Schülerumfrage: „Ich würde Religionsunterricht wählen. Das Christentum hat bisher mein Leben bestimmt. Und ich würde gerne mehr über die Hintergründe und einige Details erfahren. Ethik – Ich find’s gut. Man begreift da eigentlich erst die wichtigen Dinge des Lebens, was richtig wichtig im Leben ist.“