Der Reiz des Fantastischen

11.04.2013
Von kleinen Magiern wie Harry Potter bis hin zu Vampiren und Elfen: Die fantastische Literatur erlebt gerade ein Comeback. Der bulgarische Schriftsteller Tzvetan Todorov hat schon 1970 versucht, diese Gattung zu definieren und zu erklären. Nun ist sein Buch neu aufgelegt worden.
In jüngster Zeit wendet die Literatur sich stark von "realistischen" Schreibweisen ab. Der gigantische Erfolg der Harry Potter-Saga ist nur das markanteste Beispiel. Anlass genug, ein poetologisches Standardwerk neu herauszubringen: Tzvetan Todorovs "Einführung in die fantastische Literatur" aus dem Jahr 1970. Die Studie ist geprägt vom damals maßgeblichen Strukturalismus - und angesichts der methodologischen Erörterungen hat man anfangs den Eindruck, es mit einer akademischen Leiche zu tun zu haben. Das ändert sich jedoch, sobald Todorov sich konkret und in klarer Sprache mit den Erzählungen und Romanen beschäftigt.

Das Fantastische definiert er als Moment der Unschlüssigkeit und Widersprüchlichkeit: In einer Erzählfiktion, in der das Wunderbare eigentlich nicht vorgesehen ist, geschieht etwas, das mit den Gesetzen der vertrauten Welt nicht zu erklären ist. Der sichere Boden der Realität entgleitet. Wahrheit oder Illusion? Das Fantastische liegt in dieser (mehr oder weniger langen) Phase der Verunsicherung der Realitätsbegriffe. Sobald der Text sich entscheidet, das Geschehen als Täuschung, Manipulation, Inszenierung, Traum, Drogenwahn aufzuklären, verlässt er das Fantastische; man hat es bloß noch mit dem Unheimlichen zu tun. Oder aber das mysteriöse Ereignis hat wirklich stattgefunden, und das Fantastische endet, indem es ganz offiziell ins Wunderbare überführt wird – eine Welt, in der andere Gesetze gelten und Teufel oder Vampire ihr Unwesen treiben.

Das Fantastische als Quintessenz der Literatur
Während das Fantastische für Todorov einerseits von der Gattung zum literarischen Effekt schrumpft, repräsentiert es andererseits so etwas wie die "Quintessenz" aller Literatur: Die Grundfrage von Realem und Irrealem wird hier wie nirgendwo sonst fokussiert. Historisch erscheint das Fantastische bei Todorov als Reaktion auf die lichtbringende Aufklärung und deren Austreibung der Götter, Geister und Gespenster. Sie sei "das schlechte Gewissen des positivistischen 19. Jahrhunderts."

Zu holzschnittartig erscheint allerdings seine These, dass literarische Fantastik im Zeitalter der Psychoanalyse obsolet geworden sei. All die düsteren Begierden vom Inzest bis zur Nekrophilie, die Todorov als zentralen Themenbereich der Fantastik identifiziert, bedürften nun nicht mehr der Maskerade, um sich an der Zensur (der literaturpolitischen wie der innerpsychischen) vorbeizuschmuggeln. "Man hat es heute nicht mehr nötig, auf den Teufel zurückzugreifen, um über eine exzessive sexuelle Begierde zu sprechen", schreibt Todorov. Aber warum gehen der Literatur die Teufel und Vampire trotzdem nicht aus? Und erscheinen mit wachsendem Abstand nicht auch die Texte Freuds als Spielart der fantastischen Literatur?

Todorov arbeitet fast ausschließlich mit Beispielen des 19. Jahrhunderts. Man mag einwenden, dass etwas an seinem Begriffsapparat nicht stimmt, wenn die fantastische Literatur des letzten Jahrhunderts komplett aus dem Blickfeld rutscht. Aber die Enge der Definition macht zugleich ihre Präzision und Schärfe aus: Man versteht viele Texte mit ihr besser, unabhängig davon, ob sie am Ende als vollgültig "fantastisch" eingeordnet werden oder nicht.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Tzvetan Todorov
Tzvetan Todorov© dpa / picture alliance / Chema Moya
Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur
Wagenbach Verlag, Berlin 2013
220 Seiten, 11,90 Euro


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