Der Reiche und das Nadelöhr

04.08.2011
In seinem neuen Buch vertritt der Geschichtswissenschaftler Jacques Le Goff die These, dass das christliche Mittelalter durch die religiöse Verdammung des Geldes und des Reichtums eine Art Gegenwelt zum römischen "Kapitalismus" bildete. Denn im Mittelalter hatte das Spendenwesen eine hohe moralische Bedeutung.
Über Geld redet man nicht: In dieser stehenden Wendung drückt sich ein letzter Rest der christlich-mittelalterlichen Geldverachtung aus, die der Entfesselung von Bereicherungsenergien im kapitalistischen Zeitalter vorausging.

Die Wurzeln des Kapitalismus sieht man heute (mit Karl Marx und vielen anderen) für gewöhnlich im 17. Jahrhundert; schließlich entstand damals das eigentliche Börsenwesen. Aber Handel, exorbitanter Reichtum, Zinswucher, Scheckverkehr, Termingeschäfte, gar Versicherungen – all das gab es schon im Mittelalter.

Ist der Kapitalismus vielleicht eine Art Naturbedingung menschlichen Strebens und nicht die Sache einer nach und nach alles beherrschenden "Klasse"? Und was ist mit der christlichen Geringschätzung von Reichtum und Geld? Hat sie die Entwicklung des Kapitalismus gehemmt?

Mit diesen Fragen beschäftigt sich pünktlich zur globalen Schuldenkrise, die so manch ein Alt-Marxist als Apokalypse des realexistierenden Kapitalismus empfinden will, der Nestor des französischen Geschichtswissenschaft, der 87-jährige Jacques Le Goff in seiner Monographie "Geld im Mittelalter".

Le Goff ist der spiritus rector der sogenannten Annales-Schule, die die Wirtschafts- und Sozialgeschichte in die Historie mit einbezog und mit so eminenten Forscherpersönlichenkeiten wie Marc Bloch und Philippe Ariès verbunden ist. Es handelt sich also um einen Ansatz, der Aufschluss verspricht über jene Fragen der "Vorgeschichte" des Kapitalismus.

Und Le Goff hat einen dezidierten Standpunkt. Seine These ist, dass nach dem Ende des römischen Reiches das Geldsystem des Mittelmeerraumes nicht nur zusammenbrach und durch regionale Geldsysteme notdürftig ersetzt wurde, sondern auch, dass das christliche Mittelalter durch die religiöse Verdammung des Geldes und des Reichtums gar eine Art Gegenwelt zum römischen "Kapitalismus" bildete.

Erst im 13. Jahrhundert mit der Einführung der Wechselpraxis und des Bankwesens seien erste Ansätze zu einem soliden Geldsystem zu verzeichnen. Auch verstand man etwa im 9. Jahrhundert den Begriff Geld ganz anders als später (und zuvor im römischen Reich): Münzen hatten die Funktion, Taschgeschäfte zu begleiten und waren noch lange nicht Zweck des ökonomischen Handelns.

Le Goffs konzise und spannend zu lesendes Buch baut auf vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen auf; es stellt das Resumee einer kollektiven Forschungsleistung dar. Der über Jahrhunderte sich entwickelnde Mentalistätswechsel wird eng an den Quellen dargestellt und erzeugt so eine höchst suggestive Atmosphäre: So dunkel, wie von den Massen heute empfunden, kann das Mittelalter nicht gewesen sein, nahm man die Kehrseite des Reichtums, nämlich dass der arme Nachbar mittellos ist, doch moralisch ernst.

Almosen (und nicht nur die Steuer) waren für die spirituelle "Buchführung" von höchster Wichtigkeit. Der durchschnittliche Reiche etwa des 11. Jahrhunderts, dachte damals noch an das Jesuswort vom Kamel und dem Nadelöhr und an das vom "schnöden Mammon". So ist Le Goffs abgeklärtes Buch ein ideales Brevier für all jene, die sich nicht damit abfinden wollen, dass Bereicherung das Ziel des letzen Menschen sein soll.
Besprochen von Marius Meller

Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter
Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011
279 Seiten, 19,90 Euro