Der Rausch des Lesens

Von Stefan Keim |
Die Heimkehr des Odysseus ist eins der ältesten Werke der Literatur. Und immer noch faszinierend, voller Monster und Gefahren, Begierde, Romantik und Philosophie. Im Jahr der Kulturhauptstadt werden die sechs Schauspielhäuser des Ruhrgebietes Uraufführungen neuer Stücke präsentieren, im Projekt "Odyssee Europa". Nun gab es als Prolog eine "lange Nacht der Odyssee" in allen Häusern von Dortmund bis Moers.
18 Uhr. Kammerspiele Bochum. Otto Sander spricht den ersten "Gesang" aus Homers "Odyssee". Ganz unspektakulär, ruhig, den Text gleichzeitig lesend und reflektierend. Die Stars geben sich später das Mikrofon in die Hand: Peter Lohmeyer, Burghart Klaußner, Charles Brauer und viele andere machen sich auf die legendäre Irrfahrt nach Ithaka.

19 Uhr. Theater unter Tage, Bochum. "Odysseus war ein schlechter Segler", sagt der Skipper Michael Hornig. Er ist auf den Spuren des Helden gesegelt und hat seine ganze Crew heile wieder nach Hause gebracht. Im Gegensatz zu Odysseus, dessen Gefährten in Schweine verwandelt und von Monstern gefressen wurden. "Die Götter haben mir geholfen", grinst Hornig. Das Schauspielhaus präsentiert neben der Lesung ein umfangreiches Beiprogramm, in dem auch Flüchtlingsschicksale aus Bochum erzählt werden.

20 Uhr. Theater Oberhausen. In der Bar lesen nicht nur Schauspieler, sondern auch Bürger der Stadt. Ein großes Buch liegt auf dem Tisch, aber es ist bloß eine Attrappe aus der Requisite.

20.45 Uhr. Theater an der Ruhr, Mülheim. Es riecht nach Käse. Neben dem ovalen Tisch, an dem vor allem Zuschauer die "Odyssee" vorlesen, ist ein kleines Buffet mit Suppe und Wein aufgebaut. Das Theater feiert ein Gastmahl nach antikem Vorbild. Wie überall ist der Eintritt frei, das Essen ist es in Mülheim auch. Die Stimmung ist entspannt, konzentriert, freundlich.

22 Uhr. Grillo-Theater, Essen. Odysseus ist gerade den Sirenen entronnen. Pause auf der Bühne hinter dem eisernen Vorhang. Eine Schülerband spielt Ethnopop, die Zuschauer lümmeln sich auf Sitzkissen, Sofas und Sesseln. Bis vier Uhr morgens wird in Essen gelesen.

23.30 Uhr. Schauspielhaus Dortmund. Hier geht die Odyssee schon ins Finale. Die Freier von Penelope, der Gattin des Odysseus, werden gerade nieder gemetzelt. Ein Sessel steht auf der Bühne, im Fünfminutentakt wechseln die Vorleser. Der Rapper Dike bricht die Atmosphäre stiller Andacht mit seinem DJ Der Wolf. Die beiden rappen Homer und haben ihm dafür Reime verpasst. Klingt spannend.

4.30 Uhr. Schlosstheater Moers. Ein paar Unentwegte halten durch, zwei Jugendliche schlafen auf Pritschen. Hier wird Odysseus erst am Morgen wieder zum König von Ithaka, um acht wird gefrühstückt.

Eine lange Nacht geht zu Ende. In Erinnerung bleiben die vielen Gelage der Helden, in der Odyssee wird ständig geschlemmt. Jedes Theater hat sich eine andere Leseform ausgedacht. Gerade wenn Laien den Text lesen, ohne große Rezitationskunst, wird er offen für Entdeckungen. Für viele Heimatsuchende birgt er eine wunderschöne Vision: Odysseus kommt zu Hause an.