Pullover

Das Kleidungsstück der Krise

05:50 Minuten
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Pullover im Airbus A340 auf dem Weg nach Washington
Selten hat ein Pullover für so viel Aufsehen gesorgt: Bundeskanzler Olaf Scholz im legeren Outfit auf dem Flug in die USA. Dass steigende Gaspreise den Pullover zum Must-Have machen, war da noch nicht abzusehen. © picture alliance / dpa / Kay Nietfeld
Von Matthias Finger · 10.09.2022
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Droht eine Energiekrise, verweisen Politiker gerne auf ein Kleidungsstück, das sonst modisch ein Schattendasein fristet: den Pullover. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde er als bequeme Sportkleidung modern. Nun könnte die Krise sein Revival bringen.
Pullover mit Zopfmuster, Reißverschluss und in Pastelltönen – wie hellblau, flieder oder beige – sind in diesem Herbst der Renner, gern auch mit maritimen Streifen, in Knallfarben und mit bizarren Mustern im Oma-Stil.
Erstaunlich, denn lange führte der Pullover ein modisches Schattendasein: „So ein klassischer Pullover, wie wir den vielleicht auch eher noch aus unserer Kindheit kennen, so ein warmer Wollpullover, das ist vielleicht etwas, was nicht unbedingt immer primär in Mode ist“, erklärt Modesoziologin Melanie Haller von der Uni Paderborn. Es sei eher ein Standardprodukt, was man immer wieder kaufen könne.
Der Bundeskanzler sorgte gar für einen Aufschrei, als er bei einem Transatlantikflug im Pullover abgelichtet wurde – vor dem Ukrainekrieg wohlgemerkt. „Der graue Schlabberpulli-Look von Olaf Scholz an Bord der Regierungsmaschine löst ein wahres Pullover-Gate aus“, meldet der Fernsehsender WELT.

Kleidungsstück für schwierige Zeiten

Allerdings bemühen Politiker den Pullover selber gern als Metapher, um auf schwierige Zeiten vorzubereiten: Während der Ölkrise in den 70ern stimmte der damalige US-Präsident Jimmy Carter die Amerikaner auf seine neue Energiepolitik ein, mit der sogenannten Sweater Speech, also Pullover-Rede. Die Fernsehansprache hielt er in einer pulloverähnlichen Strickjacke, um die Dringlichkeit seines Anliegens optisch zu unterstreichen.

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Bereits 2008 lehnte der ehemalige Berliner Innensenator Thilo Sarrazin Sozialtarife für Gas und Strom ab und empfahl dicke Pullis gegen hohe Heizkosten. Auch heute verordnen Politiker das Kleidungsstück wieder allen anderen als Must-Have angesichts der drohenden Gasknappheit, wie CDU-Mann Roderich Kiesewetter ebenfalls im Fernsehsender WELT. „Da kann man, ich will das zuspitzen, sich durchaus auch etwas wärmer anziehen.“ – Mit einem Pullover zum Beispiel.

Von der Arbeits- zur Sportbekleidung

Die Politik schafft so – unbewusst – Möglichkeiten für neue modische Akzente: Danke, denn schon lange konnten wir dicke Pullover gar nicht mehr tragen, weil viele Innenräume permanent überheizt waren. Das ändert sich. Im bevorstehenden Bibberwinter steckt Dior mutige Männer in braun-beige Pullover im angesagten Kashmir-Musterstrick. Gucci bietet monochrome Wollpullover mit Kapuze für 1250 Euro.
Dabei galt der Pullover lange als Arbeitskleidung, beispielsweise für Fischer, der erst später auf Umwegen auch seinen Weg in erlauchtere Kreise fand. Die Sportbekleidung habe den Pullover dann Anfang des 20. Jahrhunderts sehr populärer gemacht, sagt die Modesoziologin Melanie Haller. Damals hätten die Sportarten zugenommen – und damit auch die Begeisterung für den Pullover als ein Kleidungsstück, „das sehr bequem ist, weil man sich sehr gut damit bewegen kann“.

Leger im Homeoffice

Durch die Modegeschichte hinweg hat sich das Prinzip “to pull over” – also eine Klamotte über den Kopf zu ziehen – als überzeugend praktisch erwiesen. Mittlerweile haben wir alle Pullover im Schrank. Der aktuelle Trend aber wurde bereits vor der Energiekrise losgetreten – durch postpandemische Entwicklungen, vermutet Trendanalyst Carl Tillessen. Das habe auch mit dem Selbstbild der Leute zu tun. „Gerade im Lockdown hieß es dann: Eher raus aufs Land als rein in die Stadt. So ist unser gesamter Lebensstil ein bisschen rustikaler geworden. Und dazu gehören eben auch solche Strickpullover.“ 
Dicke Pullover können wir hervorragend mit Cordhosen und derben Wanderschuhen, Schiebermützen und Wachsjacken kombinieren – für ein zünftiges Gesamtoutfit. Hauptsache leger:  Im Homeoffice haben wir uns an komfortable Klamotten gewöhnt. „Diese Bequemlichkeit wollen wir uns natürlich auch jenseits der Pandemie erhalten“, so Tillessen. „Gleichzeitig gehen wir wieder unter Leute und wollen etwas repräsentativer auftreten. Da ist Strick eben oft das Mittel der Wahl, weil das eben auch einfach wertiger aussieht.“
Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. Der Trend geht daher hin zu einer universellen Mode, die wir den ganzen Tag tragen können: auf der Arbeit, zu Hause und beim Weggehen. Ein kuscheliger Statement-Pullover bietet sich da an – gern aus Wolle mit hohem Wärmerückhaltevermögen: Strickwaren sind auch im Kommen. Langweilig wird es mit den neu entdeckten Pullovern übrigens nie, auch wenn wir sie den ganzen Winter tragen müssen. Sie lassen sich super kombinieren – zu weiten Kleidern, engen Hosen und auch mal mit einem Gürtel, um die Wespentaille zu betonen.
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