Der Psychoanalytiker der Republik

Von Noemi Schneider · 19.09.2008
Rund 60 Jahre lang hat sich Mitscherlich als Mediziner und Psychoanalytiker mit der menschlichen Seele beschäftigt und die Befindlichkeiten der deutschen Gesellschaft analysiert. Als Wissenschaftler, Autor und Redner hatte er großen Einfluss in der Bundesrepublik.
"Die Feindseligkeit des Menschen kann mit Hilfe der Analyse ihrer Motive gedämpft werden."

Am 20. September 1908 wird Alexander Mitscherlich als Sohn eines Chemikers in München geboren. Während seines Geschichtsstudiums lernt er Ernst Jünger kennen und schließt sich 1930, fasziniert von den antibürgerlichen Ideen, den Neuen Nationalisten an.

"Persönlichkeit haben heißt, die tausend Irrtümer einzugestehen, die man im Laufe des Lebens gemacht hat", sagte er Jahre später.

Nach kurzer Zeit distanziert er sich von Jünger und äußert sich kritisch zum Nationalsozialismus. Als er 1935 steckbrieflich wegen antinationalsozialistischer Widerstandsarbeit gesucht wird, emigriert er in die Schweiz und beginnt in Zürich Medizin zu studieren. 1937 wird er bei einer Fahrt durch Deutschland von der Gestapo verhaftet und für acht Monate in Nürnberg inhaftiert. Trotzdem kehrt er nach Deutschland zurück und promoviert in Heidelberg bei Viktor von Weizsäcker über das Thema "Zur Wesensbestimmung der synästhetischen Wahrnehmung" und arbeitet als Neurologe an der Universitätsklinik.

Nach dem Krieg ist Mitscherlich Beobachter des Nürnberger Ärzteprozesses. Seine Berichte "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" und "Das Diktat der Menschenverachtung" bringen ihm die Feindschaft vieler Mediziner ein. Er gilt als Nestbeschmutzer.

Nach seiner Habilitation gründet er 1947 die Zeitschrift "Psyche" und etabliert sich auf den Gebieten der Psychosomatik und Psychoanalyse. 1960 gründet er in Frankfurt das Sigmund-Freud-Institut, das er 17 Jahre lang selbst leitet, 1966wird er ordentlicher Professor an der Universität Frankfurt am Main.

1967 attestiert Mitscherlich gemeinsam mit seiner Frau Margarethe den Deutschen "Die Unfähigkeit zu trauern" – das Buch macht ihn international bekannt. Zwei Jahre später wird er mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

"Wir bedürfen der konstruktiven Seite, der sublimierten Formen der Aggression. Aggression ist eine Grundmacht des Lebens."

Zu diesem Zeitpunkt ist Alexander Mitscherlich ein Medienstar und Bestsellerautor –Wissenschaftler und zugleich kritischer Intellektueller, der pointiert öffentlich Stellung bezieht. Dennoch fragen seine Kritiker heute nach den Inhalten hinter den griffigen Buchtiteln und den publikumswirksamen öffentlichen Auftritten – und nach seiner Rolle vor 1945.