Der Prager Frühling und die Ideen zum christlichen Sozialismus

Von Jutta Schwengsbier · 25.10.2008
Als sich die tschechischen Kommunisten im Prager Frühling daran machten, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu entwerfen, besannen sich einige dabei auch auf christliche Grundwerte. Der marxistische Philosoph Milan Machovec und der Theologe Josef Hromadka begannen einen Dialog über das Verhältnis von Sozialismus und Christentum - und scheiterten an der Realität.
"Als die Russen zu uns kamen, wurden wir praktisch alle links. Das war nicht durch Stalin bestimmt, sondern durch Hitler. (...) Wenn die Menschen also geschrien haben, es lebe Stalin, es bedeutete vor allem, wir wollen leben. Wir dürfen leben. Ich gehörte zu der Minderheit, die schon damals wusste, mit den Russen wird das Leben nicht leicht sein, aber es wird ein Leben."

Die Tschechen begrüßten die Befreiung vom deutschen Naziregime und sangen den Kommunisten mit wehenden Fahnen Willkommenslieder. Milan Machovec und viele andere waren von den Ideen des Marxismus begeistert.

"Radikal die Welt zu ändern und nicht auf dem Kapital alles zu bauen. Das war mir sympathisch wenn sie wollen kann ich mich also Marx Schüler also nennen."

Wie Milan Machovec glaubte auch der tschechische evangelische Theologe Josef Hromadka, nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges etwas grundlegend Neues aufbauen zu können. Beide gemeinsam unternahmen einen ernsthaften Versuch, die Idee des Sozialismus mit dem Christentum zu versöhnen, urteilt Gerhard Frey Reininghaus. Er arbeitet als Ökumenereferent für die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder seit 1990 in Prag.

"Weil Christentum und der Urkommunismus zwei Traditionen sind, die eigentlich zusammengehören. Es ist der große Irrtum nach Hromadka, der Marxisten, dass die die diese beiden Dimensionen des Lebens auseinander gerissen haben."

Auch wenn, so Gerhard Frey Reininghaus, die Geschichte inzwischen diese Vision eines christlichen Sozialismus bedeutungslos hat werden lassen. In seiner Zeit galt Josef Hromadka als herausragender Theologe und Philosoph.

"Hromadka war ja im Exil. In USA. Während der Nazi-Besetzung, weil die Nazis wollten ja ihn verhaften. Und kam dann erst 47 endgültig zurück in die Tschechoslowakei. Und wenn man die Reden zwischen 45 und 47 von ihm betrachtet. Es sind flammende Reden für den Sozialismus. Begeisterung für die Revolution. Seine Theorie war die, wir müssen die Kommunisten überzeugen, dass sie eigentlich die wahren Christen sind."

Das von den Stalinisten auch in der damaligen Tschechoslowakei mit Gewalt und Unterdrückung aufgebaute Regime hatte zwar lange keine öffentliche Debatte über humanitäre Fragen im Sozialismus zugelassen. Doch in den 60er-Jahren waren Systemprobleme nicht mehr zu übersehen. Die große wirtschaftliche Krise zwang die tschechischen Kommunisten, über Reformen nachzudenken. Der Philosophieprofessor Milan Machovec begann an der Karlsuniversität in Prag einen regelmäßigen Dialog mit Christen. Ein zunächst unerhörter Vorgang an einem vom Marxismus-Leninismus geprägten Lehrstuhl. Als Marxist wollte Machovec dem Sozialismus durch die Verbindung mit christlichen Werten ein menschlicheres Antlitz geben.

"Und Richtung war nicht, wie man heute immer sagt, den Kommunismus irgendwie zu reformieren. Richtung war Demokratie und Humanismus. Natürlich, zuerst durften wir das nicht so laut sagen. Aber von Jahr zu Jahr war es freier."

Der inzwischen verstorbene Milan Machovec lieferte die philosophischen Grundlagen für ein Ende des Stalinismus. Er redete gegen alle Ideologen an, die sich nicht an ihre eigenen Werte messen lassen wollten. Mit seinem Buch "Jesus für Atheisten" hielt Machovec den Kommunisten den Spiegel vor. Nicht schöne Worte, sondern ein Leben nach den eigenen Werten begeistere die Menschen.

"Er war also ein sehr engagierter Humanist. Und der Humanismus war seine Grundlage, auch wenn man Jesus für Atheisten liest. Also die tiefe Menschlichkeit, die ihm in Jesus begegnet, und die Übereinstimmung von Wort und Tat und die Zuwendung zum Menschen, das war das was für Ihn eindrucksvoll war. Und was für ihn grundlegend war."

Hromadka und Machovec waren sich in vielen Fragen einig und schätzten sich gegenseitig sehr, sagt Frey Reininghaus. Doch waren sie beide pragmatische Realisten. Deshalb gingen sie einer öffentlichen Konfrontation lange aus dem Weg. Der böhmische Pfarrer Jan Hus fühlt sich von beiden im Stich gelassen. Er hatte 1963 einen Protestbrief an das Zentralkomitee der kommunistischen Partei geschrieben. Gemeinsam mit vier anderen Pfarrern forderte Hus darin mehr Rechte für Christen in der Tschechoslowakei. Doch weder seine Kirche noch Machovec hatten das Rückgrat ihn zu unterstützen.

"Der Brief an den Zentralausschuss der KP der Tschechoslowakei wurde von mir formuliert. Es waren radikale Forderungen. Und es standen dort konkrete Beschwerden. Die Schulkinder, die zur Kirche gehen, gelangen nicht auf die Mittelschule. Gelangen nicht auf die Hochschule. Dieser Protest war damals etwas Seltenes. Wenn ein solcher Protest nur so drei oder vier Jahre vorher gekommen wäre, wären wir vielleicht inhaftiert worden oder so. Damals begann schon die Auflösung des Regimes des Stalinismus von innen."

Der für die Kirchen verantwortliche Staatsbeamte, Karel Rusa, forderte einen Widerruf. Bei dem entscheidenden Treffen war auch Milan Machovec dabei, erinnert sich Jan Hus. Und Machovec schwieg die ganze Zeit.

"Wir wurden von Rusa zu einem Gespräch auf das Kulturministerium eingeladen. Wir fünf Pfarrer. Und weiter war dort zu unserer Überraschung, der Synodalsenior unserer Kirche. Unser sozusagen Erzbischof. Oder Patriarch, ja. Aber es war dort auch Machovec. Der anwesende Synodalsenior hat uns fünf Pfarrer gar nicht unterstützt, sondern er redete gegen uns. Ich war dadurch so empört, dass ich mich an den Tisch setzte, und am folgenden Tag begann ich eine förmliche Beschwerde gegen den Synodalsenioren geschrieben. Das war also ein großer Skandal."

Anschließend wurde nicht der Synodalsenior von seiner Kirche gerügt, sondern Jan Hus verlor sein Amt als Pfarrer und musste sich für einige Jahre als Tankwart durchschlagen. Später durfte Hus zwar für kurze Zeit wieder als Geistlicher arbeiten. Als er jedoch erneut gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt Truppen protestierte, wurde er zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Das Vergehen: Hus hatte die offizielle Erklärung der evangelischen Synode in seiner Kirche bekannt gemacht.

"Ich habe diese fabelhafte Erklärung für die Pressefreiheit als Pfarrer dort in Westböhmen eifrig verbreitet. Das war also im Jahr 69. Und erst nach zwei Jahren wurde ich deswegen angeklagt. Kurz vor der Gerichtsverhandlung hat der Synodalrat der evangelischen Kirche jene sehr gute Erklärung für die Pressefreiheit und gegen die Okkupation zurückgezogen."

Nicht viele hatten so viel Mut wie Jan Hus, auch in schwierigen Zeiten zu ihrer Überzeugung zu stehen. Der genauen Prüfung ihrer eigenen Glaubensüberzeugung hielten weder die Kommunisten noch die Kirchen stand, urteilt der Soziologe Martin Potucek. Beide schafften es nie, im Praxistest zu bestehen. Wort und Tat standen zu oft im Widerspruch. Potucek leitet den Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Karlsuniversität.

"Der letzte Beweis für die Ineffektivität des Sowjetsozialismus war die Lebenserwartung. Zu Beginn der 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatten die Tschechoslowaken eine höhere Lebenserwartung als Österreicher. Aber so wie das System arbeitete, und obwohl wir ein relativ gutes Gesundheitssystem hatten, ging die Lebenserwartung bis zum Ende der 80er-Jahre deutlich zurück."

Die dem kurzen Prager Frühling folgenden Jahre der Repression nahmen vielen Menschen den Lebensmut. Der christlich-marxistische Dialog wurde unterbrochen und seine Vordenker drangsaliert. Der Theologe Josef Hromadka starb sichtlich enttäuscht nur ein Jahr, nachdem sowjetische Panzer über den Wenzelsplatz gerollt waren. Milan Machovec verlor sein Professorenamt. Die von den Sowjets eingesetzten willfährigen Kommunisten versuchten ihm jede Existenzmöglichkeit zu rauben. Er überlebte dank der Hilfe eines mutigen Pfarrers, der ihn als Kirchenorganist beschäftigte.

"Als die Geheimen einmal im halben Jahr gekommen sind, um etwas zu machen. Die Menschen mussten irgendwie die Arbeitszeit erfüllen. (...) Sie sagten na ja, ich bin Gegner des Staates. Man muss mich entlassen. Da sagt er, er spielt Orgel. Was soll er da. Er argumentierte sogar theologisch. Er ist doch kein guter katholischer Christ. Aber der gute Pfarrer hat geantwortet, na ja, C-Dur Akkord ist C-Dur Akkord. Ob ein Buddhist es so spielt oder ein Marxist. Mir absolut egal. Und er hat mich nicht entlassen. Natürlich kam immer die Drohung: Wenn sie den Machovec nicht entlassen werden. Dann werden wir sie entlassen. Er sagte nur Gottes Wille geschehe. Und er wurde nicht entlassen."

Erst nachdem der russische Präsident Gorbatschow 1989 das Gespräch mit Papst Johannes Paul II. gesucht hatte, wurde ein neuer christlich-marxistischer Dialog möglich. Milan Machovec beteiligte sich daran nicht mehr. Er selbst bezeichnete sich zu der Zeit schon lange nicht mehr als Marxisten. Und wer Milan Machovec am Ende seines Lebens fragte, ob er Christ sei, der erhielt die Antwort. "Ich weiß es nicht. Ich überlasse es dem lieben Gott, was ich eigentlich bin."