Der Präsident und sein Gast

20.03.2011
Da haben sich zwei gefunden: Bernard Haitink, seit bald 50 Jahren einer der beliebtesten Gastdirigenten der Berliner Philharmoniker, und der aktuelle "Pianist in Residence" Leif Ove Andsnes treffen sich in der Berliner Philharmonie. Zwei unangestrengte Herren für ein anstrengendes Werk: Auf dem Programm steht das monumentale zweite Klavierkonzert von Johannes Brahms.
Der norwegische Meisterpianist Leif Ove Andsnes war noch nicht geboren, da begleitete Bernard Haitink schon die großen Pianisten mit den Berliner Philharmonikern. Gleich bei seinem Debüt am philharmonischen Pult 1964 hatte Haitink die ehrenvolle Aufgabe, für Claudio Arrau den roten (Klang-)Teppich auszurollen. Der freundlich entspannte Niederländer kennt die Philharmoniker also noch aus einer Zeit, in der man mit Anzug und Krawatte zur Probe erschien. Nach und nach wurden die Krawatten gelockert, bis sie irgendwann zugunsten des omnipräsenten Casual Look verschwanden. Unbefrackt sehen die Berliner Philharmoniker heutzutage aus wie ein Jugendorchester – nur Bernard Haitink wirkt beim Dirigieren immer noch "wie ein Parlamentspräsident" (Norbert Ely). Inzwischen teilt er sich mit Pierre Boulez den imaginären Posten des Alterspräsidenten.

Betrachtet man Orchestermusik als Debatte verschiedener Parteien und Dirigenten als Hüter der Geschäftsordnung, so geht das in der Tat nicht ganz an der Kunst des Bernard Haitink vorbei: Er verschafft den Stimmen Gehör, unterbindet unerlaubte Zwischenrufe und bringt die Sache nach Buchstaben und Geist des Gesetzes zum Erfolg. Im Gegensatz zum derzeitigen Bundestagspräsidenten – der bekanntlich gerne Dirigent geworden wäre – kann sich Haitink dabei sogar eines stets vollen Plenums sicher sein. Allerdings darf sein überparteilicher Kurs nicht mit neutraler Langeweile verwechselt werden, schließlich gehört auch ein Parlamentspräsident in aller Regel einer Partei an. Haitinks Fraktion wurde früher von Mozart und Beethoven angeführt, heute bilden Bruckner und Brahms die Doppelspitze. Getreu dem Adenauer-Motto "Keine Experimente!" ist Haitink kein Mann der Moderne, was ihn aber nicht daran hindert, einige Blicke dorthin zu werfen. Im heutigen Programm fällt – unter Aufhebung des Fraktionszwangs – das Augenmerk auf Anton Weberns sehr frühe, sehr spätromantische Tondichtung "Im Sommerwind" und auf die irritierend träumerische 4. Sinfonie von Witold Lutosławski. Der polnische Komponist schrieb sie kurz vor seinem Tod 1994, die Berliner Philharmoniker hatten sie bislang nicht im Repertoire.

Nach der Pause dann ein Kraftakt mit vereinten Kräften: Auf der Tagesordnung steht Brahms’ zweites Klavierkonzert – mehr eine Sinfonie mit obligatem Klavier als ein virtuoses Solokonzert. Der Pianist muss einen mörderisch schwierigen, gut 50 Minuten langen Solopart bewältigen, ohne dabei spektakulär hervortreten zu können. Im Gegenteil: Er muss sich dem großen Orchester als Kammermusikpartner zur Seite stellen. Leif Ove Andsnes hat immer wieder gezeigt, dass solche Gattungsgrenzen für ihn ohnehin nicht existieren: Im kammermusikalischen Spiel findet er das Sinfonische (etwa im Brahmsschen Klavierquartett g-Moll, das er kürzlich mit Solisten der Berliner Philharmoniker spielte), im sinfonischen Ganzen den kammermusikalischen Mikrokosmos. Präsident Haitink wird Andsnes das Wort erteilen – und für ihn, wie einst für Claudio Arrau, den roten Teppich ausrollen. Ganz nach Protokoll.

Nachtrag: Seit sich Japan im späten 19. Jahrhundert dem Westen zugewandt hat, sind Deutschland und seine Musikkultur aus dem Leben des fernöstlichen Inselreiches nicht mehr wegzudenken. Ein deutsches Orchester auf Reisen wird nirgendwo ein so treues und dankbares Publikum finden wie in Japan. Die in diesen Katastrophentagen immer wieder hervorgehobene Disziplin der Japaner wurde von einem Komponisten wie Olivier Messiaen bewundert, weil sie sich auch in der ehrfurchtsvollen Beschäftigung japanischer Musikfreunde mit der Klassik des Abendlandes wiederfindet. Bedeutende Musiker kommen aus Japan, kürzlich erst haben die Berliner Philharmoniker ein Werk des japanischen Komponisten Toshio Hosokawa uraufgeführt; nicht zuletzt finden sich in den philharmonischen Reihen ein Konzertmeister und eine Solo-Bratschistin aus Japan. Wenn Bernard Haitink und die Philharmoniker nun aus aktuellem Anlass ihr Programm ändern, darf das wohl auch als Zeichen des Mitgefühls mit einer Nation verstanden werden, der sich das Orchester vielfach verbunden fühlt. Statt mit dem "Sommerwind" von Anton Webern wird das Konzert mit der "Trauermusik" von Witold Lutosławski beginnen. Der Rest des Programms bleibt unverändert.
Olaf Wilhelmer



Philharmonie Berlin
Aufzeichnung vom 16.3.11


Witold Lutosławski
"Muzyka załobna" ("Trauermusik") für Streichorchester
Sinfonie Nr. 4

ca. 20:45 Uhr Konzertpause mit Ortszeit Wahlstudio

Johannes Brahms
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 B-Dur op. 83


Leif Ove Andsnes, Klavier
Berliner Philharmoniker
Leitung: Bernard Haitink