Der Osten schrumpft und vergreist

Von Susanne Arlt |
Dem Landkreis Mansfeld-Südharz in Sachsen-Anhalt droht nach jetzigen Prognosen bis zum Jahr 2020 ein Bevölkerungsrückgang von derzeit 165.000 auf 100.000 Menschen. Deshalb will der Landkreis zusammen mit dem angrenzenden Kyffhäuserkreis in Thüringen erproben, wie eine gute Versorgung in dünn besiedelten Gebieten aufrechterhalten werden kann.
Landrat Peter Hengstermann lässt sich in seinen gepolsterten Sessel plumpsen. Besucher lädt er gern zu einer Tasse Kaffee ein. Das Landratsamt war früher Prinzenpalais und steht heute unter Denkmalschutz. Wunderschön restaurierte Wandmalereien aus dem 18. Jahrhundert schmücken seine Amtsstube. Seit der Wende regiert der CDU-Mann die Region um den Kyffhäuser. Der legendäre Staufenkaiser Barbarossa soll hier schlafen und der Sage nach erst dann aus seiner Höhle erwachen, wenn Deutschland wieder geeint ist. Das unterirdische Sagenreich zieht viele Touristen an. Die Kyffhäuser selber zieht es dagegen raus aus ihrer Region. Die Zukunftsaussichten sind schlecht, jeder fünfte arbeitslos. Der konjunkturelle Aufschwung ist in Sondershausen noch nicht angekommen. Stattdessen sind 20.000 Menschen bislang weggegangen, Tendenz steigend. Das sei bitter, sagt Landrat Peter Hengestermann.

"Die Leute laufen uns weg, weil wir nicht genügend Arbeitsplätze haben, der zweite Grund ist, dass die Bezahlung nicht entsprechend ist. Und das dritte ist, dass gerade junge Frauen schneller bereit sind dann auch zu sagen, dann gehen wir halt in die alten Bundesländer und versuchen dort eine neue Existenz aufzubauen, das ist natürlich sehr schmerzlich für uns und ich denke wir halten das nur auf, wenn wir in der Region alles dafür tun, attraktive Arbeitsplätze mit entsprechender Bezahlung zu schaffen."

Darum war die Freude groß, als im Juli Aufbau-Ost-Minister Wolfgang Tiefensee verkündete, der Kyffhäuserkreis in Thüringen und die benachbarte Region Südharz in Sachsen-Anhalt seien zum Modellprojekt auserkoren worden. Unter dem nicht ganz unkomplizierten Titel "Zukunftsgestaltung als Daseinsvorsorge im ländlichen Raum" sollen die beiden Landkreise jetzt Ideen entwickeln, wie das Leben auf dem Land funktionieren kann, auch wenn die Bevölkerung immer älter wird. Dafür stellt das Bundesverkehrsministerium immerhin vier Millionen Euro zur Verfügung.

"Wir sind durch Langzeitarbeitslose, durch Sozialleistungen natürlich so gebeutelt, dass wir im Grunde eigentlich vieles nicht mehr leisten können. Und meine Hoffnung bestand eigentlich darin, dass wir Geld in die Region holen, mit dem wir auch Fördermöglichkeiten besser nutzen können als es bisher der Fall war. Und mit denen wir gerade auch Dinge anfassen können, die wir uns in unserer wirtschaftlichen Lage, in der wir sind, eigentlich nicht zutrauen."

14.000 von insgesamt 100.000 Einwohnern beziehen im Kyffhäuserkreis Arbeitslosengeld II. Die Hoffnung auf neue Komplementärmittel und damit auf neue bezahlbare Förderprojekte musste der Landrat jedoch schnell wieder begraben. Nach anfänglicher Euphorie kam die Ernüchterung. Peter Hengstermann verzieht das Gesicht zu einer Grimasse.

"Es ist deutlich gemacht worden, dass wir mit Geld zusätzlich in der Region nicht rechnen können, dass wir die Dinge, die Arbeitsplätze unmittelbar schaffen auch nicht leisten können, dass man sich auf spezielle Dinge versteift, von denen wir nicht 100-prozentig überzeugt sind."

Die auserkorenen Regionen sollen ihre Ideen zwar selber entwickeln, bekommen aber auch Anregungen aus Berlin. Ein Beispiel sei der Vorschlag mit den DDR-Kantinen, sagt Peter Hengstermann säuerlich. Die könnten man doch wieder aufleben lassen und mit biologischen Produkten aus der Region versorgen. Hengstermann schüttelt verärgert den Kopf. Er hält die Idee für realitätsfern:

"Die DDR ist vorbei, und sicherlich auch damit die großen Kantinen. Heute gibt es andere Möglichkeiten, die Fleischer, Bäcker, auch Gastronomen haben sich darauf eingestellt, auch mittags ein schmackhaftes Essen zu geringen Preisen anbieten zu können. Ich denke, dass ist nicht dass was wir erreichen können und erreichen wollen."

Stattdessen sollten lieber Werbestrategien für die zahlreichen Biobauern in der Region entwickelt werden, damit sie ihre Produkte in Zukunft erfolgreicher vermarkten. Wolfgang Tiefensee will mit dem Modellvorhaben vor allem eines erreichen. Er hofft, Antworten auf die Probleme des demographischen Wandels zu finden. Die Jungen sollen bleiben und den Alten soll das Leben auf dem Land erleichtert werden. Eine neue Form von Gemeinsinn schwebt dem Minister vor. Karl-Heinz Daehre, Verkehrsminister von Sachsen-Anhalt, verteidigt die Idee seines Bundesministers.

"Die Hoffnung, dass dort ein Millionenbetrag hinkommt und dass wir dort plötzlich ein Gewerbegebiet aus dem Boden stampfen, da haben wir andere Instrumentarien, die müssen wir auch nutzen, da sind die Wirtschaftsministerien gefragt. Hier geht es ganz einfach darum, wie wir gerade ländliche Räume weiter entwickeln können, dass sie sich nicht noch weiter entvölkern. Das ist die Zielsstellung und da wir ein föderalistischer Staat in Deutschland sind, hört es manchmal an den Ländergrenzen auf und das verstehen die Leute auch nicht."


Karl-Heinz Daehre hatte mit seinem thüringischen Kollegen Andreas Trautvetter die kluge Idee, die benachbarten Landkreise gemeinsam für das Modellvorhaben einzureichen. Die Vorschläge, die im Sommer kommenden Jahres präsentiert werden, könnten so auch auf andere Regionen übertragbar sein. Denn strukturschwache Landstriche gibt es schließlich auch zwischen Niedersachsen und Schleswig-Holstein, sagt Daehre. Der Osten könnte dann dem Westen ein Beispiel davon geben, wie man die ärztliche Versorgung in dünn besiedelten Flächen garantiert.

"Denn ob der Notarzt aus Sachsen-Anhalt kommt oder aus Thüringen, das ist dem Patienten völlig egal, er möchte nur schnell Hilfe haben. Auch da kann man Kosten sparen, wenn man sagt, okay wir nehmen noch den Einzugsbereich aus dem anderen Land mit. Das ist natürlich wieder eine Frage der Verrechnung, dass müssen wir aber in Deutschland, wenn wir sparen wollen, dann müssen wir das mal angehen."

Kritiker halten dagegen, dass die jungen Frauen doch den Osten nicht verlassen würden, weil ihnen Mehrgenerationenhäuser, eine mobile ärztliche Versorgung, Ruf-Busse oder gar rollende Bibliotheken fehlten. Thomas Lippmann, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, sieht das ähnlich. Ihm reicht die Zielsetzung des Programms nicht aus.

"Die Maßnahmen scheinen alle eher geeignet und wichtig zu sein, um dem Problem der zunehmend alternden Gesellschaft beizukommen, was in der Öffentlichkeit natürlich publiziert wird ist, dass dies ein Programm insbesondere sei, um junge Frauen in Ostdeutschland zu halten. Dafür ist es natürlich neben der Sache, das ist viel zu wenig, das sind ganz andere Themen angesagt, da wissen alle, dass es da um die perspektivischen Arbeitsplätze geht. Also dieses Programm ändert an der demographischen Entwicklung überhaupt nichts."

Dieter Klein ist Geschäftsführer des Vereins "Projekt 3". Dem Träger gehören mehrere stationäre Einrichtungen in der Behinderten- und Altenpflege im Südharz. Keine andere Region in Sachsen-Anhalt wird in den kommenden 20 Jahren so viele junge Einwohner verlieren wie der Landkreis Mansfeld-Südharz. Städte und Dörfer vergreisen immer mehr, befürchten Demographen. Geht es nach Dieter Klein, dann würden diese Menschen aber in den eigenen vier Wänden und nicht in einem seiner drei Seniorenheime alt werden.

"Wir haben vielfach die Erfahrung gemacht, wenn der ältere Mensch plötzlich pflegebedürftig wird, dass die Angehörigen dann wie der Ochs vorm Berg stehen. Die Leute wissen nicht, wo sie hingehen können und dann sind sie überfordert und dann heißt es einfach nur, ja dann ins Altersheim."

Dabei würden die meisten älteren Menschen viel lieber in ihren vertrauten Wänden bleiben, berichtet Klein. Doch Angebote, die ihnen ein sicheres Leben ermöglichen, fehlten. Das soll sich nun ändern. Sogenannte Servicestützpunkte heißt Dieter Kleins Lösung. Anlaufstelle in jedem Viertel sei eine Art Cafeteria. Wer morgens Gesellschaft sucht, kann dort frühstücken und nachmittags den Computerkurs besuchen. Für wenige Tage könnte eine Fachkraft einen Nachbarn ambulant versorgen. Den älteren Menschen, sagt Dieter Klein, soll ganz einfach der Alltag erleichtert werden.

"Das sind haushaltsnahe Dienstleistungen, also nicht Dienstleistungen eines Pflegedienstes. Das kann sein Reinigung der Wohnung, Hilfe beim Einkaufen, auch mal einfach in der Wohnung Reparaturen durchführen, wo normalerweise Handwerken sagen, für diese Kleinigkeit komme ich nicht. Das kann auch sein, den Hund Gassi zu führen. Ganz simple Sachen, wo der ältere Mensch nicht weiß, wie er sich helfen soll."

Die Bewohner im Stadtviertel-Süd in Sangerhausen leben im Grünen. In zehn Minuten ist man zu Fuß in der Altstadt. Das Quartier hat einen Bäcker, einen Fleischer, eine Drogerie und sogar ein Schwimmbad, zählt Erika Gimmler die Vorzüge des Viertels auf. Die 73-Jährige lebt seit vier Jahrzehnten hier. Vor zwei Jahren wurden die Blöcke tipptopp renoviert. Jede Wohnung hat jetzt einen Balkon und fast jedes Haus einen Aufzug. Vor kurzem hat ein großes Sanitätshaus seine Verkaufstelle hier hin verlegt. "Die meisten Bewohner sind nämlich Rentner", sagt Erika Gimmler. Dafür bringen tagsüber die Schüler der Sekundarschule ein bisschen Leben in das Viertel. Erika Gimmler lebt sehr gerne hier. Noch kann sie für sich selber sorgen und ein Leben im Altersheim mag sie sich nicht vorstellen.

"Weil ich meine Unabhängigkeit liebe, und gerne noch machen möchte was ich will und nicht so jetzt meinetwegen um sieben Uhr aufstehen und dann gemeinsam frühstücken. Ich bin ein Mensch der gerne alleine lebt."

Die Idee eines Servicestützpunktes in ihrem Viertel findet Erika Gimmler darum gut. Außerdem würde die Kaufkraft in dem Viertel bleiben und Arbeitsplätze garantieren.

"Wenn es notwendig ist, kann man ja diesen Stützpunkt besuchen. Man kann seine Wünsche äußern, ich habe mir dieses Faltblatt angesehen, das sind verschiedene Dienstleistungen enthalten, die man bestimmt im Alter braucht. Das ist schon sehr gut, ich finde das prima."

Dieter Klein hat für sein Projekt insgesamt 150.000 Euro beantragt. Da die Mittel aus dem Programm für experimentellen Wohn- und Städtebau kommen, kann das Bundesverkehrsministerium in diesem Fall auch investive Mittel zur Verfügung stellen. Er ist davon überzeugt, dass seine Idee in Berlin gut ankommt. Das Problem mit der Vergreisung sei ja nicht ausschließlich ein ostdeutsches. Im Landratsamt in Sangerhausen sitzt Uta Ulrich. Eigentlich ist sie für die Wirtschaftsförderung zuständig, jetzt koordinierte sie das Modellvorhaben.

"Also damit sind nicht unsere Probleme gelöst. Das muss man sagen, aber ein ganz kleines Stückchen sind wir weiter, das muss man sagen. Mit diesem Modellprojekt können wir wieder ein Stück weitergehen, aber wir werden die Probleme, die wir hier haben, ausschließlich und alleine nicht lösen. Da müssen wir mehr machen, da muss mehr ran."

Vor ihr auf dem Schreibtisch liegt ein prall gefüllter Aktenordner. Darin stecken inzwischen 40 Projektideen. Dem Servicestützpunkt räumt sie gute Chancen ein. Ebenso der Projektschule, die im Kyffhäuserkreis zur Förderung benachteiligter Jugendlicher entstehen soll. Oder das Projekt mit dem modernen Titel: länderübergreifende Mobilitätszentrale. Eine Expertise soll angefertigt werden. Sie soll untersuchen, in welchem Umfang Städte und Dörfer in Zukunft an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden sein sollten und ob Sammeltaxen oder Rufbusse nicht eine Alternative darstellen könnten. Uta Ulrich gibt offen zu, dass die meisten Vorschläge nicht wirklich neu sind.

"Wenn man so was macht, dann kann man immer sagen, gut wir haben die Idee in der Region, aber man will ja über den eigenen Tellerrand gucken, wie machen es denn die anderen. Und dazu fehlt meistens Kraft und Mittel und das ist eigentlich Sinn und Zweck, diese Vernetzung in der Region und über das eigene Denken hinweg."

Eine Idee, für die bislang das Geld fehlte, kommt aus dem Bereich alternative Energie. Fast 800 Jahre förderten Bergleute im Südharz Kupferschiefer. Um möglichst wenig taubes Gestein zu gewinnen, schufteten die Bergleute liegend in 60 Zentimeter engen Schächten. 1990 war Schluss mit dem Kupferbergbau und seitdem fließt Grubenwasser durch die Streben. Mit dem Geld aus Berlin könnten wir ein Forschungsprojekt bezahlen, erklärt Uta Ulrich und beweisen, dass man die Strömung zur alternativen Energiegewinnung nutzen kann.

Zurück in den Kyffhäuserkreis. Dort steht das älteste Gebäude der Stadt, die St. Crucis-Kirche. Allerdings sind nur noch die Gemäuer zu sehen. Und hätte Wolfgang Wytrieckus nicht von sich aus einen Förderverein für den Erhalt der Ruine gegründet, würde die wahrscheinlich auch nicht mehr stehen.

"Die Leute, die die St. Cruciskirche noch kannten, die haben gesagt am Planplatz, die Cruciskirche, das war ein Mittelpunkt in der Unterstadt. Leider ist in der Unterstadt, das so genannte schwarze Viertel, das waren alles Fachwerkhäuser, die dort standen wo jetzt die Plattenbauten stehen, auch Anfang der 80er Jahre alles abgerissen worden."

Inzwischen leben hier nur noch Menschen, die sich nichts Besseres leisten können. Wytrieckus, der Anfang der 90er Jahre als Kommandeur der Bundeswehr nach Sondershausen kam, möchte dem Quartier neues Leben einhauchen. Knapp zwei Millionen Euro sind dafür notwendig. Soviel kosten Restaurierung und Bau des neuen Gebäudes, das auf dem Fundament des alten Kirchenschiffes errichtet werden soll. Schließlich soll hier ein Bürgerzentrum entstehen.

"An und für sich die Räume schon so gut wie vergeben, weil es wird keine Miete bezahlt. Wir werden für die Sozialeinrichtungen und gemeinnützigen Vereine von denen werden wir keine Kaltmiete verlangen. Sondern die zahlen lediglich die Nebenkosten, die normal anfallen. Das ist ja was wir wollten. Wir wollten ja nicht etwas bauen, was als sozial gilt, und dann doch viel Geld kostet."

Die finanziellen Mittel setzen sich aus Spenden, Mitgliedsbeiträgen und Fördergeldern zusammen. Der 66-Jährige ist davon überzeugt, dass hier ohne Eigenleistung, ohne bürgerliches Engagement gar nichts passiert.

Der Turm von der Krypta bis zur Aussichtsplattform ist inzwischen gebaut und bezahlt. Für die vier kommenden Bauabschnitte erhofft sich Wolfgang Wytrieckus neben Geld vor allem Anerkennung aus Berlin. Denn ohne zivilgesellschaftliches Engagement, glaubt er, gehe jeder Stadt und jedem Dorf irgendwann der Atem aus.