Der Osten kommt
"In der Schweiz geht es uns prima", bekam ein Lehrling aus der DDR zu hören, der 1990 die Alpenrepublik besuchte. "Wir können uns viel leisten. Aber wir leben auf Kosten der Dritten Welt. Ich habe deshalb ständig ein schlechtes Gewissen." Der Lehrling erwiderte: "Ich spüre immer nur Wut auf den Staat. Ich möchte auch endlich ein schlechtes Gewissen haben."
Die besondere DDR-Vergangenheit kann inzwischen als eine der multikulturellen Herkünfte unserer Gesellschaft entschlüsselt werden. Ihre Echos in die Gegenwart erzeugten und erzeugen einiges an Ostalgie, Nostalgie und manchmal realsozialistischen Entzugserscheinungen.
Doch längst formte sich auch ein neues Selbstbewusstsein. Ein ostdeutsch geprägtes, das auf den Westen einwirken will und einzuwirken beginnt. Die Kanzlerin und der SPD-Chef aus Brandenburg sind nur ein sichtbares Zeichen dieser an verschiedenen Stellen spürbaren Tendenz.
"Dresden" hieß soeben ein erfolgreicher Zweiteiler im Fernsehen, der an die Zerstörung einer der schönsten Städte Europas erinnerte. Der weltweit wahrgenommene Wiederaufbau der Frauenkirche wirkte als sichtbares Zeichen für das Wiederaufblühen einer großen kulturellen Vergangenheit. Das in Dresden besonders wache Geschichtsbewusstsein inspiriert nicht nur das Konservieren und Rekonstruieren glanzvoller Zeiten, es inspiriert auch mutige Entscheidungen für die Zukunft.
Der gerade gefasste Beschluß über den Verkauf der städtischen Wohnungen an einen amerikanischen Investor macht Dresden über Nacht zur ersten schuldenfreien deutschen Großstadt. Und verschafft ihr Gestaltungsräume in Bildung, Kultur und Sozialem, die hoffentlich nicht als Spielräume rasch verzockt werden. Andere Städte können davon nur träumen.
Ganz ohne Risiko sind Ideen für die Zukunft nicht zu realisieren. Das weiß auch Leipzig, eine spannende Stadt. Lebendiger, quirliger und provisorischer als andere Städte – die Messe als Markt der Möglichkeiten regt Phantasie und Gestaltungslust an. Auch die nächste Woche stattfindende Buchmesse wird wieder zum Ost-West-Begegnungsort geraten, an dem osteuropäische Länder auf besondere Weise wahrgenommen werden. Vielleicht lebt Leipzig, wo 1989 das Verschwinden der DDR maßgeblich herbeidemonstriert worden ist, dem Osten Deutschlands eine positive Zukunft vor: die permanente Messe als Lebensprinzip zur Gewinnung neuer Perspektiven. Eine Gesellschaft im ständigen Umbau, mit mehr Lust an der Kontroverse, am Riskanten - das Provisorium als Lebensform.
Und plötzlich wirkt auch die DDR-Vergangenheit infolge ihres Scheiterns als eine ständige Verführung, mehr in Alternativen zu denken. Immer mehr Vor-Denker im Osten fordern, sich nicht auf eine westalimentierte Dauerförderung zu verlassen. Einige wollen schon heute den gleichberechtigten Wettbewerb.
So scheiterte die Jenaer Universität in der ersten Runde des Excellenzenwettbewerbs nur knapp. Dennoch lehnt der Jenaer Rektor Professor Klaus Dicke eine ostdeutsche Spezialförderung ab, denn sie würde zu einem Sonderbewußtsein führen, was hinderlich für die deutsche Wissenschaftslandschaft wäre. Dazulernenwollen wird als selbstverständliche Pflicht klaglos anerkannt. Aus den Neuen Bundesländern wurde längst der Osten Deutschlands. Und wie hier die Dinge laufen, muß einer verstehen, wenn er weiter östlich den neuen EU-Beitrittsosten entziffern will.
Aus dem Westen kommt dagegen das nostalgische Beharren auf dem Erreichten. Verbissen kämpft ver.di gegen eine 40-Stunden-Woche, die in Berlin ohnehin jeder Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst ableistet. Die perfekt inszenierte Streik-Folklore ist Westalgie pur, in Thüringen schüttelt alle die Köpfe über die vorhersehbare Wirkung dieses Streiks: die mittelfristig beschleunigte Zerlegung des öffentlichen Dienstes in lauter privatisierte Teilbereiche. Doch die Zukunft interessiert die Verweigerer der Veränderung wenig – sofern es nicht um die eigene geht. Die Noch-AEG-Mitarbeiter in Nürnberg haben sich beträchtliche Abfindungen erstreikt und potentielle Investoren wieder einmal an die besonderen Neben- und Folgekosten in Deutschland erinnert.
Innovativ wäre der Vorschlag gewesen, einen Teil der deutschen Belegschaft den Umzug nach und die Weiterarbeit in Polen zu organisieren. Die Bereitschaft dazu werden wir eher aus Görlitz oder Frankfurt an der Oder vernehmen. Kein Wunder, wenn Thüringens Ministerpräsident mit der Forderung nach der 42-Stunden-Woche für alle Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst vor allem die in fünfundfünfzig Jahren gewachsene Saturiertheit der alten Bundesrepublik provozieren will. In einem Bundesland, in dem viele Lehrer zur Teilzeitarbeit mit erheblichen Lohneinbußen verpflichtet sind, träumen nicht nur Arbeitslose davon, länger arbeiten zu dürfen.
Ich sprach mit einem Klein-Unternehmer aus Sachsen, der seine Patente für die Handy-Produktion vor allem nach China und Japan vermarktet. Aus drei wurden 30 Arbeitsplätze. Im Grunde versuche jeder seiner Handelspartner, sagte er, das Patent zu knacken und variiert dann selber zu bauen. Handelsbeziehungen und Technologie-Spionage bildeten eine unauflösbare Einheit.
Einen Anwalt für kostspielige rechtliche Auseianndersetzungen kann er sich nicht leisten, die Firma würde sich und ihre Reserven in Abwehrschlachten aufreiben. Wie löst der Unternehmer seit zehn Jahren dieses Problem? Er versteckt die Innovationen, damit sie nur verzögert erkannt werden können. Alle Energie lenkt er auf Entwicklungen und lebt von der Neugier am Neuen. Im Geschäft bleiben heisst für ihn, immer einen Tick besser als die anderen zu sein.
Ein gutes Motto - nicht nur für den Osten Deutschlands.
Lutz Rathenow, Schriftsteller, 1952 in Jena geboren, Studium Germanistik/Geschichte, kurz vor dem Examen wegen nicht konformer Ansichten und Handlungen relegiert, Transportarbeiter, 1977 Übersiedlung nach Ostberlin, knapp 15.000 Seiten Stasi-Akten zeugen von Aktivitäten und Repressalien, wegen des ersten nur im Westen verlegten Buches 1980 kurzzeitig verhaftet, Lyriker, Essaiist, Kinderbuchautor, Satiriker, Kolumnist, Gelegenheitsdramatiker. Zusammen mit Harald Hauswald (Fotografie) schrieb er den erfolgreichen Foto-Text-Band "Ost-Berlin - Leben vor dem Mauerfall" (Jaron Verlag, 2005, englisch/deutsch). 2006 erscheinen "Ein Eisbär aus Apolda" (Kindergeschichten), "Gelächter, sortiert" (Fußballgedichte) und wieder mit dem Kult-Fotografen Harald Hauswald "Gewendet - vor und nach dem Mauerfall. Fotos und Texte aus dem Osten" (Jaron Verlag).
Doch längst formte sich auch ein neues Selbstbewusstsein. Ein ostdeutsch geprägtes, das auf den Westen einwirken will und einzuwirken beginnt. Die Kanzlerin und der SPD-Chef aus Brandenburg sind nur ein sichtbares Zeichen dieser an verschiedenen Stellen spürbaren Tendenz.
"Dresden" hieß soeben ein erfolgreicher Zweiteiler im Fernsehen, der an die Zerstörung einer der schönsten Städte Europas erinnerte. Der weltweit wahrgenommene Wiederaufbau der Frauenkirche wirkte als sichtbares Zeichen für das Wiederaufblühen einer großen kulturellen Vergangenheit. Das in Dresden besonders wache Geschichtsbewusstsein inspiriert nicht nur das Konservieren und Rekonstruieren glanzvoller Zeiten, es inspiriert auch mutige Entscheidungen für die Zukunft.
Der gerade gefasste Beschluß über den Verkauf der städtischen Wohnungen an einen amerikanischen Investor macht Dresden über Nacht zur ersten schuldenfreien deutschen Großstadt. Und verschafft ihr Gestaltungsräume in Bildung, Kultur und Sozialem, die hoffentlich nicht als Spielräume rasch verzockt werden. Andere Städte können davon nur träumen.
Ganz ohne Risiko sind Ideen für die Zukunft nicht zu realisieren. Das weiß auch Leipzig, eine spannende Stadt. Lebendiger, quirliger und provisorischer als andere Städte – die Messe als Markt der Möglichkeiten regt Phantasie und Gestaltungslust an. Auch die nächste Woche stattfindende Buchmesse wird wieder zum Ost-West-Begegnungsort geraten, an dem osteuropäische Länder auf besondere Weise wahrgenommen werden. Vielleicht lebt Leipzig, wo 1989 das Verschwinden der DDR maßgeblich herbeidemonstriert worden ist, dem Osten Deutschlands eine positive Zukunft vor: die permanente Messe als Lebensprinzip zur Gewinnung neuer Perspektiven. Eine Gesellschaft im ständigen Umbau, mit mehr Lust an der Kontroverse, am Riskanten - das Provisorium als Lebensform.
Und plötzlich wirkt auch die DDR-Vergangenheit infolge ihres Scheiterns als eine ständige Verführung, mehr in Alternativen zu denken. Immer mehr Vor-Denker im Osten fordern, sich nicht auf eine westalimentierte Dauerförderung zu verlassen. Einige wollen schon heute den gleichberechtigten Wettbewerb.
So scheiterte die Jenaer Universität in der ersten Runde des Excellenzenwettbewerbs nur knapp. Dennoch lehnt der Jenaer Rektor Professor Klaus Dicke eine ostdeutsche Spezialförderung ab, denn sie würde zu einem Sonderbewußtsein führen, was hinderlich für die deutsche Wissenschaftslandschaft wäre. Dazulernenwollen wird als selbstverständliche Pflicht klaglos anerkannt. Aus den Neuen Bundesländern wurde längst der Osten Deutschlands. Und wie hier die Dinge laufen, muß einer verstehen, wenn er weiter östlich den neuen EU-Beitrittsosten entziffern will.
Aus dem Westen kommt dagegen das nostalgische Beharren auf dem Erreichten. Verbissen kämpft ver.di gegen eine 40-Stunden-Woche, die in Berlin ohnehin jeder Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst ableistet. Die perfekt inszenierte Streik-Folklore ist Westalgie pur, in Thüringen schüttelt alle die Köpfe über die vorhersehbare Wirkung dieses Streiks: die mittelfristig beschleunigte Zerlegung des öffentlichen Dienstes in lauter privatisierte Teilbereiche. Doch die Zukunft interessiert die Verweigerer der Veränderung wenig – sofern es nicht um die eigene geht. Die Noch-AEG-Mitarbeiter in Nürnberg haben sich beträchtliche Abfindungen erstreikt und potentielle Investoren wieder einmal an die besonderen Neben- und Folgekosten in Deutschland erinnert.
Innovativ wäre der Vorschlag gewesen, einen Teil der deutschen Belegschaft den Umzug nach und die Weiterarbeit in Polen zu organisieren. Die Bereitschaft dazu werden wir eher aus Görlitz oder Frankfurt an der Oder vernehmen. Kein Wunder, wenn Thüringens Ministerpräsident mit der Forderung nach der 42-Stunden-Woche für alle Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst vor allem die in fünfundfünfzig Jahren gewachsene Saturiertheit der alten Bundesrepublik provozieren will. In einem Bundesland, in dem viele Lehrer zur Teilzeitarbeit mit erheblichen Lohneinbußen verpflichtet sind, träumen nicht nur Arbeitslose davon, länger arbeiten zu dürfen.
Ich sprach mit einem Klein-Unternehmer aus Sachsen, der seine Patente für die Handy-Produktion vor allem nach China und Japan vermarktet. Aus drei wurden 30 Arbeitsplätze. Im Grunde versuche jeder seiner Handelspartner, sagte er, das Patent zu knacken und variiert dann selber zu bauen. Handelsbeziehungen und Technologie-Spionage bildeten eine unauflösbare Einheit.
Einen Anwalt für kostspielige rechtliche Auseianndersetzungen kann er sich nicht leisten, die Firma würde sich und ihre Reserven in Abwehrschlachten aufreiben. Wie löst der Unternehmer seit zehn Jahren dieses Problem? Er versteckt die Innovationen, damit sie nur verzögert erkannt werden können. Alle Energie lenkt er auf Entwicklungen und lebt von der Neugier am Neuen. Im Geschäft bleiben heisst für ihn, immer einen Tick besser als die anderen zu sein.
Ein gutes Motto - nicht nur für den Osten Deutschlands.
Lutz Rathenow, Schriftsteller, 1952 in Jena geboren, Studium Germanistik/Geschichte, kurz vor dem Examen wegen nicht konformer Ansichten und Handlungen relegiert, Transportarbeiter, 1977 Übersiedlung nach Ostberlin, knapp 15.000 Seiten Stasi-Akten zeugen von Aktivitäten und Repressalien, wegen des ersten nur im Westen verlegten Buches 1980 kurzzeitig verhaftet, Lyriker, Essaiist, Kinderbuchautor, Satiriker, Kolumnist, Gelegenheitsdramatiker. Zusammen mit Harald Hauswald (Fotografie) schrieb er den erfolgreichen Foto-Text-Band "Ost-Berlin - Leben vor dem Mauerfall" (Jaron Verlag, 2005, englisch/deutsch). 2006 erscheinen "Ein Eisbär aus Apolda" (Kindergeschichten), "Gelächter, sortiert" (Fußballgedichte) und wieder mit dem Kult-Fotografen Harald Hauswald "Gewendet - vor und nach dem Mauerfall. Fotos und Texte aus dem Osten" (Jaron Verlag).