Der Orient als weibliches Utopia

Rezensiert von Moritz Behrendt |
Weibliches Leben im Orient scheint für uns vor allem unfrei zu sein und mit Zwang zu tun zu haben: der Schleier für muslimische Frauen, geringe Bildungschancen für Mädchen, die mangelnde Teilhabe an der Öffentlichkeit. Doch als es im 18. und 19. Jahrhundert die ersten weiblichen Reisenden aus dem Westen in den islamisch geprägten Orient zog, suchten sie dort ausgerechnet nach: Freiheit. Das schreibt Barbara Hodgson in ihrem Buch "Die Wüste atmet Freiheit".
"Jede neue Erfahrung verbindet sich mit dem köstlichen Gefühl, frei zu sein. Die Reisende entdeckt die Lebensfreude, eine Freude, die im Fortschritt unserer Zivilisation auf der Strecke geblieben ist."

So wie hier Ella Sykes erwarteten viele Frauen gerade im Orient, den Gegenentwurf zum europäischen Fortschrittsglauben zu entdecken. Dieses Ziel hatten sie noch mit den männlichen Reisenden ihrer Zeit gemeinsam. Doch Hodgson zeigt, dass die Frauen noch andere Gründe für ihre Reisen hatten. Das bestätigt der Islamwissenschaftler Andreas Pflitsch von der Freien Universität Berlin:

"In der Tat sind einige der Frauen, die in den Orient gereist sind, sehr freiheitsliebende Frauen gewesen, die die Strenge des viktorianischen England beispielsweise hinter sich lassen wollten."

Einigen der Frauen gelang es tatsächlich, ihren Traum von Freiheit in der arabischen Welt zu erfüllen. Hester Stanhope etwa, die Anfang des 19. Jahrhunderts Konstantinopel, Kairo, Alexandria, das Heilige Land und Damaskus besuchte. Nach ihren Reisen ließ sich Stanhope in einem verlassenen Kloster im heutigen Libanon nieder, hielt dort Hof, gab mehr Geld aus, als sie hatte, und ließ Männer und Frauen nach ihrer Pfeife tanzen.

Andere wiederum waren enttäuscht, dass der reale Orient nicht ihren Fantasien entsprach. Die Autorin stellt überzeugend dar, wie sehr die Reisenden von romantisierenden Schilderungen - seien es Gemälde, Reiseliteratur oder die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht - in den Orient gelockt wurden. Andreas Pflitsch hat sich ausgiebig mit historischen Reiseberichten befasst:

"Eigentlich sind die europäischen Reisenden - männliche wie weibliche - doch sehr in ihrer Welt verhaftet geblieben. Sie sind eher ihrem Bild vom Orient und von Freiheit hinterher gereist, als dass sie es wirklich erlebt haben."

Nur selten gaben die Reisenden zu, dass sie den Kontrast zwischen dem Trugbild in ihren Köpfen und dem, was sie tatsächlich sahen, wahrnahmen. So notierte Amelia Edwards während ihrer Fahrt auf dem Nil:

"An all diesen Orten, die so malerisch, biblisch und poetisch anmuten, könnte man fast vergessen, dass sie nicht nur dekorative Zwecke erfüllen und dass die Menschen nicht nur Figuren sind, die dort zur Erbauung unserer Maler hingestellt wurden, sondern genau wie wir aus Fleisch und Blut und von Hoffnungen, Ängsten und Trauer bewegt sind."

Die Autorin zitiert ausgiebig aus den Reiseberichten der Frauen - einige dieser Bücher waren zur Zeit ihres Erscheinens wahre Bestseller. Das Buch lebt vor allem von diesen Zitaten, sie nehmen den Leser mit in eine romantisch fremde Welt, sie schildern die Reisestrapazen - Übernachtungen in Verschlagen voller Ungeziefer, ermüdende Ritte durch die Wüste, bewaffnete Überfälle -, und sie öffnen uns den Harem, das Reich der orientalischen Frauen.

Leider kann die Autorin mit der Wortgewalt dieser zeitgenössischen Texte aus dem 18. und 19. Jahrhundert nicht ganz mithalten: Eher trocken kommentiert sie, "dass Haremsschilderungen auch bei Männern auf Interesse stießen".

Anschaulich jedoch ist Hodgson das Kapitel über die Reiselogistik gelungen. Darin schildert sie auch eine sehr sichtbare Freiheit der reisenden Frauen: Das Korsett ablegen zu dürfen - darüber waren die Damen sehr erleichtert. Dann kleideten sich manche in den weiten, gemütlichen Gewändern der Orientalinnen, andere zogen es vor, in Männerkleidung zu reisen:

"Ich war hocherfreut zu hören, dass man mir den Jüngling allerorts abgenommen hat. Ich wusste erst nicht, was ich anziehen sollte, aber jetzt gefällt mir die Lösung so gut, dass ich mich immer so kleiden werde, wenn ich fremde Regionen erkunde."

verkündete Isabel Burton. Überhaupt waren die reisenden Frauen den Männern im arabischen Raum in vieler Hinsicht näher als den Frauen. Die genaue Schilderung dieser Sonderrolle gehört zweifellos zu den Stärken des Buches. Hodgson spricht sogar davon, dass die Reisenden für die Menschen im Orient einen neuen Geschlechtertypus darstellten:

Über diese sonderbaren Wesen würde man gerne mehr erfahren - über ihre Durchsetzungskraft, über ihre Widersprüche und Schrullen. Hodgsons Buch bietet zwar Appetithäppchen, doch die Biographien dieser schillernden Frauen bleiben seltsam farblos. Die Autorin begnügt sich mit ihrer Rolle als Chronistin. Weder psychologisiert sie das Verhalten der Frauen, noch schmückt sie deren Taten aus.

Die nüchterne Darstellung der Autorin kontrastiert nicht nur mit den einprägsamen Zitaten, sondern auch mit der großzügigen Aufmachung des Buches. Auf beinahe jeder Seite finden sich Gemälde, Zeichnungen, Kupferstiche und Fotografien: Sie zeigen die Frauen beim Wasserpfeiferauchen, in Männerkleidung und natürlich vor den unvermeidlichen Pyramiden. Damit strahlen sie auch den Zauber des Exotischen aus, der noch heute für viele Reisende den Reiz des Orients ausmacht.
Andreas Pflitsch bestätigt:

"Das Motiv, in den Orient zu reisen, hat immer noch was vom 19. Jahrhundert, vom Mythos der Fremde und der Exotik - das auf jeden Fall und das machen sich ja auch Touristikunternehmen und Fremdenverkehrsverbände zu Nutze."


Barbara Hodgson "Die Wüste atmet Freiheit"
Übersetzt von Brigitte Beier und Gisela Sturm
Gerstenberg-Verlag
184 Seiten, 24 Euro.