Der Nürnberger Prozess

Im Namen des Volkes

Die Hauptangeklagten (L-R) Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse am 13.02.1946 in Nürnberg.
Mussten sich für ihre Verbrechen verantworten: die Hauptangeklagten Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank am 13. Februar 1946 in Nürnberg. © picture alliance / dpa
Von Jochanan Shelliem · 21.11.2020
Es war ein Medienspektakel, aber kein Tribunal. Es wurde kein Standgericht, wie Churchill forderte, und kein russischer Schauprozess. Im Winter 1945 wurden im Nürnberger Prozess die Grundlagen für die deutsche Nachkriegsrepublik gelegt.
Mit dem Nürnberger Prozess, der am 20. November 1945 begann, nahm die Adenauerrepublik ihre ersten Formen an, und die ersten Bürger sahen wieder weg. Eine "Lange Nacht" über die Geschehnisse im Gerichtssaal: Mit historischen Aufnahmen, Auszügen aus Reportagen von John Dos Passos, Xiao Quian, John Steinbeck, Hans Habe, Erika und Klaus Mann, mit Aussagen von Zeitzeugen und Prozessbeteiligten, Rundfunkberichten und mit Szenen aus Stanley Kramers Spielfilm über "Das Urteil von Nürnberg" werden die Hintergründe des Verfahrens aufgerollt, wird die Zeit ausgeleuchtet und der Schatten der Verdrängung vom verzweifelten Selbstmord 1949 von Klaus Mann in Cannes bis zu Marcel Ophüls Reportage "Nicht schuldig" verfolgt.

Ausschnitte aus dem Sendemanuskript:
Richard W. Sonnenfeldt: "Ich war der Chefdolmetscher der amerikanischen Anklage, nicht vom Gericht, und für meine Geschichte ist das sehr wichtig."
Erich Kästner: "Aber die Menschen sind unheimliche Leute. Wer seine Schwiegermutter totschlägt, wird geköpft. Das ist ein uralter, verständlicher Brauch. Wer aber Hunderttausende umbringt, erhält ein Denkmal. Straßen werden nach ihm benannt. Und die Schulkinder müssen auswendig lernen, wann er geboren wurde und wann er friedlich die gütigen Augen für immer schloss ..."
Richard W. Sonnenfeldt: "In den Monaten zwischen Mai und Oktober, am 21. Oktober 1945, wurde die Anklage den Angeklagten offiziell überreicht, bis dahin waren sie nur Zeugen, und zwischen dem Mai und Oktober konnten wir sie als Zeugen vernehmen. Als die Anklage offiziell war, war das nicht mehr möglich."
Erich Kästner: "Einen einzigen Menschen umbringen und 100.000 Menschen umbringen ist also nicht dasselbe? Es ist also ruhmvoll? Nein, es ist nicht dasselbe. Es ist genau hunderttausendmal schrecklicher! Nun werden die 24 Angeklagten sagen, sie hätten diese neue, aparte Spielregel nicht gekannt. Als sie ihnen später mitgeteilt wurde, sei es zu spät gewesen. Da hätten sie nicht aufhören können. Da hätten sie wohl oder übel noch ein paar Millionen Menschen über die Klinge springen lassen müssen ... Es sind übrigens nicht mehr 24 Angeklagte. Ley hat sich umgebracht. Krupp, heißt es, liegt im Sterben. Kaltenbrunner hat Gehirnblutungen. Und Martin Bormann? Ist er auf dem Wege von Berlin nach Flensburg umgekommen? Oder hat er sich irgendwo im deutschen Tannenwald einen Bart wachsen lassen und denkt, während er Zeitung liest: Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn?"
Richard W. Sonnenfeldt: "Und ich bin einer der wenigen Überlebenden, der einzige Überlebende, soweit ich das weiß, der die Chance gehabt hat, mit all den Angeklagten im Nürnberger Prozess persönlich und in ganz kleinem Rahmen zu sprechen. Aber es gibt viele Leute, die dort waren, während dem Prozess, und da gab es nur offizielle Angaben und Verlesungen von Sachen, die wir schon gehabt haben. Da habe ich dann die Möglichkeit gehabt, in ganz intimen Befragungsräumen, entweder als Dolmetscher oder als Befrager, mit diesen Nazis zu sprechen."
Erich Kästner: "Die Scheinwerfer an der Balkendecke strahlen auf. Die Richter erscheinen. Die beiden Russen tragen Uniform. Man setzt sich wieder. Die Männer in der eingearbeiteten Rundfunkbox beginnen fieberhaft zu arbeiten. Aus fünf hoch in den Wänden eingelassenen Fenstern beugen sich Photographen mit ihren Kameras vor. Die Pressezeichner nehmen ihre Skizzenblocks vor die Brust. Der Vorsitzende des Gerichts eröffnet die Sitzung."
"Dem amerikanischen Hauptankläger folgt der französische. Er bringt vor, welche Untaten das westliche Europa den Kriegsverbrechern zur Last legt. Mord an Kriegsgefangenen, Mord an Geiseln, Raub, Deportation, Sterilisation, Massenerschießungen mit Musikbegleitung, Folterungen, Nahrungsentzug, künstliche Krebsübertragungen, Vergasung, Vereisung am lebendigem Leibe, maschinelle Knochenverrenkung, Weiterverwendung der menschlichen Überreste zur Dünger- und Seifengewinnung ... Ein Meer von Tränen ... Eine Hölle des Grauens ... Um zwölf ist Mittagspause. In den Gängen wimmelt es von Journalisten, Talaren, Sprachen, Uniformen. Da - ein bekanntes Gesicht ! Grüß Gott! How do you do! Meine erste Frage ist: "Wen in diesem Jahrmarktstreiben kennen Sie? Die Leser unseres Blattes. Sie verstehen ...” Der andere versteht. Wozu ist er Journalist!"
"Also: Der große Mann dort drüben, ja, der in Uniform, mit dem Mondschein im Haar, ist John Dos Passos. Der berühmte Romanschriftsteller. Er ist für die New Yorker Zeitschrift Life nach Nürnberg gekommen ... die Amerikanerin mit dem schmalen Kopf und dem dunklen, glatt anliegenden, kurz geschnittenen Haar ist Erika Mann, die Tochter Thomas Manns. Sie ist für die Londoner Zeitung Evening Standard hier. Und für eine amerikanische Zei... Halt, sehen Sie den Engländer dort ? Den mit der Hornbrille, ganz recht! Das ist Peter de Mendelsohn. Vor 1933 war er ein deutscher Schriftstel... ach, das wissen Sie natürlich. Jetzt schreibt er seine Romane englisch. Seine Prozessberichte gehen an den New Statesman in London und an die Nation in Amerika. Wer sonst noch? Die beiden am Fenster sind Howard Smith von der New Yorker Rundfunkgesellschaft CBS und William Shirer, er war bis kurz vorm Krieg in Berlin und schrieb dann darüber einen Bestseller unter dem Titel Berlin Diary. Ferner ... Hallo, Irvin! Pardon! Fort ist er."
Richard W. Sonnenfeldt: "In diesem Gerichtssaal in Nürnberg, da war kein Mann, der persönlich einen Menschen ermordet hätte, da waren nur Menschen, die die Befehle dazu gegeben hatten ... abstrakt davon wußten. In diesem Gerichtssaal in Nürnberg, da kam ein Moment, zwei Momente, die fantastisch waren."
Erich Kästner: "Göring trägt eine lichtgraue Jacke mit goldenen Knöpfen. Die Abzeichen der Reichsmarschallwürde sind entfernt worden. Die Orden sind verschwunden. Es ist eine Art Chauffeurjacke übrig geblieben."
Hermann Göring: "Im Einzelnen möchte ich zur Verantwortung der Dinge klar stellen: Der Führer Adolf Hitler ist tot. Ich galt als sein Nachfolger in der Führung des Dritten Reichs. Deshalb muss ich zu meiner Verantwortung erklären: Mein Bestreben war ..."
Dolmetscher: "Das Gericht wünscht, dass Sie keine Reden halten. Das Gericht ist vollkommen im Stande, den Unterschied zwischen formaler Verantwortlichkeit und tatsächlicher Verantwortlichkeit für Befehle, die Sie gegeben haben, zu verstehen."
Erich Kästner: "Er ist schmaler geworden. Manchmal blickt er neugierig dahin, wo die Ankläger sitzen. Wenn er seinen Namen hört, merkt er auf. Dann nickt er zustimmend. Oder wenn der Ankläger sagt, er sei General der SS gewesen, schüttelt er lächelnd den Kopf. Zuweilen beugt er sich zu seinen Anwälten vor und redet auf sie ein. Meist ist er ruhig."
Richard W. Sonnenfeldt: "Der Göring hatte den Ruf, sehr schwierig für die Dolmetscher zu sein, denn er hat sie unterbrochen und ich hatte das schon gehört und hatte gedacht, das lasse ich ihn nicht machen. Und das erste Mal ... Ich war nicht der Vernehmer, ich war der Dolmetscher ... ich möchte ... Herr Gering ... alter Witz in Deutschland. Herr Gering, Sie können wählen, ob Sie Englisch sprechen wollen oder Deutsch ... wenn ich fertig bin, dann fragen Sie mich um Erlaubnis. Wenn Sie mich nicht mehr unterbrechen werden, dann werde ich Sie auch Göring nennen."
Rudolf Heß: "Ab nunmehr steht mein Gedächtnis auch nach außen hin wieder zur Verfügung. Die Gründe für das Vortäuschen von Gedächtnisverlust sind taktischer Art. Tatsächlich ist lediglich meine Konzentrationsfähigkeit etwas herabgesetzt. Dadurch wird jedoch meine Fähigkeit, der Verhandlung zu folgen, mich zu verteidigen, Fragen an Zeugen zu stellen oder selbst Fragen zu beantworten, nicht beeinflußt. Ich betone, dass ich die volle Verantwortung trage für alles, was ich getan, unterschrieben oder mitunterschrieben habe. Meine grundsätzliche Einstellung, dass der Gerichtshof nicht zuständig ist, wird durch obige Erklärung nicht berührt. Ich habe bisher auch meinem Offizialverteidiger gegenüber den Gedächtnisverlust aufrechterhalten, er hat ihn daher guten Glaubens vertreten."
Schlichte Lügen oder taktischer Blackout, das Schweigen oder die Einsilbigkeit der Angeklagten sagen manchmal mehr über die Wahrheit als beredte Worte. Ernst Kaltenbrunners Verteidiger Dr. Kaufmann verhört den ehemaligen Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höss, um seinen Mandanten zu entlasten:
Kaufmann: "Ist es richtig, dass Sie im Jahre 1924 zu einer längeren Zuchthausstrafe verurteilt worden sind, wegen Ihrer Beteiligung an einem sogenannten Fememord?"
Höss: "Jawoll."
Kaufmann: Sie waren von 1940 bis 1943 Lagerkommandant von Auschwitz. Stimmt das?
Höss "Jawoll."
Kaufmann: "Und in dieser Zeit sind hunderttausende von Menschen dort in den Tod geschickt worden? Ist das richtig?"
Höss: "Jawoll."
Kaufmann: "Ist es richtig, dass Sie selbst keine genauen Aufzeichnungen über die Zahl dieser Opfer haben? Weil Ihnen diese Aufzeichnungen verboten war?"
Höss: "Das ist richtig."
Kaufmann: "Ist es weiter richtig, dass ausschließlich ein Mann namens Eichmann hierüber Aufzeichnungen hatte? Der Mann, der mit der Organisation und der Sammlung der Menschen beauftragt worden war."
Höss: "Jawoll."
Kaufmann Ist es weiter richtig, dass Ihnen Eichmann erklärte, insgesamt seien in Auschwitz über zwei Millionen jüdische Menschen vernichtet worden?
Höss: "Jawoll."
Kaufmann: "Männer, Frauen und Kinder."
Höss: "Ja."
Richard W. Sonnenfeldt: "Nürnberg war eine große Ruine ... da gab es keine Straße in Nürnberg. Da war der Schutt und die Steine, da konnte man gerade einen Jeep durchtreiben ... da waren keine Männer, die waren Kriegsgefangene ... die Frauen waren da, um Ordnung zu machen, und manchmal hat man einen Einarmigen gesehen ... oder einen Greis ... oder Kinder ... und da habe ich ein Stück von einer Zigarette herausgeworfen ... drei Frauen ... wie Möwen ... die glücklichsten von den Deutschen sind die Kriegsgefangenen, denen hat man dieselben Rationen gegeben wie uns."
Fünf Stunden hat die Verlesung der Anklage gebraucht, 1100 Tonnen Akten wurden allein von der amerikanischen Anklagebehörde geprüft, und mancher Zeuge, den Richard Sonnenfeldt vernommen hat, wie Rudolf Höss, haben Aussagen über das NS-Systems gemacht, die manchen Mörder auf der Flucht Jahrzehnte später überführen werden.
Kaufmann: "Der Tod durch Vergasung trat dann ein in einem Zeitraum von drei bis 15 Minuten, sagten Sie mir unlängst, ist das richtig?"
Höss: "Jawoll."
Kaufmann: "Sie sagten mir weiter, dass schon vor diesem endgültigen Eintritt des Todes eine Betäubung der Opfer früher eingetreten sei."
Höss: "Jawoll, so wie ich durch eigene Beobachtung bzw. durch die Ärzte erfahren hatte, war je nach Temperatur und Zahl der in den Räumen vorhandenen Personen die Dauer der Betäubung bzw. des Todes sehr verschieden. Die Betäubung fand in wenigen Sekunden bzw. Minuten statt."
Kaufmann: "Haben Sie selbst jemals angesichts Ihrer eigenen Familie und Kinder Mitleid mit den Opfern gehabt?"
Höss: "Jawoll."
Erich Kästner: "Heimfahrt auf der Autobahn. Der Nebel ist noch dicker geworden. Man könnte ihn schneiden. Der Wagen muss Schritt fahren. Ich blicke aus dem Fenster und kann nichts sehen. Nur zähen, milchigen Nebel ..."
Richard W. Sonnenfeldt: "Als Schacht und von Papen freigelassen wurden, da wollte man sie aus dem Gefängnis und aus dem Gerichtsgebäude herauslassen und da war so eine ärgerliche Bevölkerung, dass man sie zu ihrem Schutz wieder reinnehmen musste. Und man hat sie noch zehn Tage im Gefängnis für ihre eigene Sicherheit behalten."
Strafverkündung durch Lordrichter Lawrence
Lawrence: "We now pronounce the sentences on the defendants, convicted on this indictment."
Reporter: Ein Augenblick höchster Spannung, die Anwälte drehen sich um."
Lawrence: "Hermann Wilhelm Göring."
Reporter: "Wir schalten auf Gerichtshof um. "
Lawrence: "On the counts of the indictment, on which you are convicted ... can you hear now? On the counts of the indictment, on which you have been convicted, the International Military Tribunal sentences you to death by hanging!
Rudolf Heß ... Imprisonment for life.
Joachim von Ribbentrop ... Death by hanging.
Wilhelm Keitel ... Death by hanging.
Alfred Rosenberg ... Death by hanging.
Hans Frank ... Death by hanging.
Wilhelm Frick ... Death by hanging.
Julius Streicher ... Death by hanging.
Walter Funk ... Imprisonment for life.
Karl Dönitz ... Ten years imprisonment.
Erich Raeder ... Imprisonment for life.
Baldur von Schirach ... Twenty years imprisonment.
Fritz Sauckel ... Death by hanging.
Alfred Jodl ... Death by hanging.
Arthur Seyss-Inquart ... Death by hanging.
Albert Speer ... Twenty years imprisonment.
Constantin von Neurath ... Fifteen years imprisonment.
Martin Bormann ... Death by hanging."
Erich Kästner: "Jetzt sitzen also der Krieg, der Pogrom, der Menschenraub, der Mord en gros und die Folter auf der Anklagebank. Riesengroß und unsichtbar sitzen sie neben den angeklagten Menschen. Man wird die Verantwortlichen zur Verantwortung ziehen. Ob das gelingt? Und dann: Es darf nicht nur diesmal gelingen, sondern in jedem künftigen Falle! Dann könnte der Krieg aussterben. Wie die Pest und die Cholera. Und die Verehrer und Freunde des Krieges könnten aussterben. Wie die Bazillen. Und spätere Generationen könnten eines Tages über die Zeiten lächeln, da man einander millionenweise totschlug. Wenn es doch wahr würde! Wenn sie doch eines Tages über uns lächeln könnten!"
Richard W. Sonnenfeldt: "Aber ich habe auch ein Bedauern ... und ich habe gedacht, dass dieser Nürnberger Prozess ein Anfang sei für ein universelles internationales Recht, und wie Sie wissen, haben wir bis jetzt das Gericht in Den Haag gehabt und das Internationale Verbrechensgericht und die Vereinigten Staaten haben noch nicht unterschrieben. Und ich habe mir immer gesagt, dieser Prozess soll nicht ein Prozess für die Sieger über Verlierer sein, sondern soll ein Beispiel sein für Weltrecht. Und ich glaube, es war ein gutes Beispiel, und ich hoffe, wir sollten ein besseres universales Weltrecht haben."

Das Feature "Im Namen des Volkes. Hinter den Kulissen des Nürnberger Prozesses" von Jochanan Shelliem ist im Audio Verlag (ISBN 978-3-86231-644-1) erschienen.
20. November 1945: Beginn des ersten Nürnberger Prozesses. 24 führende Persönlichkeiten des NS-Apparats sollen für den deutschen Angriffskrieg und Massenmord zur Rechenschaft gezogen werden. Das Feature von Jochanan Shelliem dokumentiert nicht nur präzise die Prozessabläufe, sondern gewährt durch Zeitzeugen wie Erika Mann, Gefängnisarzt Pflücker und Chefdolmetscher Sonnenfeldt - vielfach im O-Ton - einen profunden Einblick hinter die Kulissen. Berichte über intime Verhörszenen, das körperliche und seelische Befinden der Angeklagten sowie ihre Reaktionen auf die Urteilsverkündung erzeugen ein Bild von bedrückender Intensität.
Mit Otto Sander, Rosemarie Fendel u.v.a. 3 CDs | ca. 160 min

Der Beitrag ist eine Wiederholung vom 19.11.2005.
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