Der Mörder ist bekannt

Nach ihrem Bestseller „Tannöd“ spielt „Kalteis“ von Andrea Maria Schenkel im Milieu der ganz kleinen Leute: Chauffeure, Eisenbahner, Dienstboten, gefallene Mädchen. Das steht in hartem Kontrast zur literarischen Form: Der Roman gehört zum blutigen Genre des sogenannten <em>real crime</em>. Es ist der Fall eines echten Frauenmörders, der hier erzählt wird.
Es gibt sie noch, die literarischen Überraschungserfolge. Ohne dass die Kritik den Aufstieg groß bemerkt hätte, stand dieses Frühjahr auf einmal ein eigenartiges Buch an der Spitze der Bestsellerlisten. Erschienen bei der Edition Nautilus, einem Hamburger Kleinverlag, der sich seit den Siebzigern um die Edition aller möglichen anarchistischen, dadaistischen oder situationistischen Schriften verdient gemacht hatte.

„Tannöd“ hieß das Buch, und geschrieben wurde es von Andrea Maria Schenkel, einer Autorin, die vorher noch nie in Erscheinung getreten war. Eine düstere Kriminalgeschichte aus dem Bayern der Fünfzigerjahre, die sich um den grausamen Mord an einer ganzen Familie drehte. Langsam hatte sich „Tannöd“ emporgearbeitet, anderthalb Jahre nach dem Erscheinen dauerte es bis zum großen Erfolg inklusive der Auszeichnung der Autorin mit dem Deutschen Krimipreis 2007. Und all das ohne große Werbung, durch Mund-zu-Mund- Propaganda.

Nun erscheint „Kalteis“, der Nachfolger von „Tannöd“. Und Andrea Maria Schenkel hat ein Grundprinzip beibehalten: Auch „Kalteis“ lebt von der scheindokumentarischen Erzählform. Ein perverser Frauenmörder treibt im München der Dreißigerjahre sein Unwesen, der Leser erfährt es aus Verhörmitschriften, Gedächtnisprotokollen und Erinnerungen von Zeugen.

Nachdem es im Zuge des Erfolgs von „Tannöd“ Plagiatsvorwürfe gegen Schenkel gegeben hatte – der Journalist Peter Leuschner hatte ihr vorgeworfen, sie habe aus einem seiner Sachbücher abgeschrieben –, legt die Autorin für „Kalteis“ ihre Quellen offen. Die „Vernehmungsprotokolle der Münchner Polizei“ der Jahre 1930 bis 1939 hat sie benutzt, um einen tatsächlichen Fall literarisch nachzubauen.

„Kalteis“ ist eine interessante Mischung. Es ist die Geschichte von Kati, einem Mädchen, das es in der geistigen und materiellen Armut ihres Landlebens nicht mehr aushält und in die große Stadt geht, nach München.

Erst um einen Job als Dienstbotin anzutreten, doch das – so stellt sich bald – heraus, hat sie sich eingeredet, um den Mut aufzubringen, überhaupt ihr Dorf zu verlassen. Kati will nicht arbeiten, sie will leben. Rasch landet sie in einer Kneipe, wo Mädchen für ein Essen, ein paar Getränke und wenig Geld mit den Gästen aufs Zimmer gehen.

Das ist das Milieu, in dem „Kalteis“ spielt. Das der ganz kleinen Leute: Chauffeure, Eisenbahner, Dienstboten, gefallene Mädchen. Das steht in hartem Kontrast zur literarischen Form: „Kalteis“ spielt im blutigen Genre des sogenannten real crime. Es ist der Fall eines echten Frauenmörders, der hier erzählt wird. Was durch die scheindokumentarischen Elemente noch unterstrichen wird.

Zu guter letzt hat das Buch auch etwas von einem Heimatroman. Was vor allem an der Sprache liegt. An diesen kurzen Sätzen, die sich in ihrer Einfachheit gegen die Komplexität der modernen Welt sträuben, die mit ihren Mundart-Einsprengseln Heimat-Gefühle gegen das Böse aufrufen, das die Mädchen aus ihrem Leben heraus in den Wald lockt, um sie dort zu vergewaltigen und zu zerstückeln.

Diese Sprache ist die große Stärke von „Kalteis“. Sie ist beklemmend, weil sie in ihrer Einfachheit die Enge des Horizonts der Mädchen spiegelt. Was sie zu so idealen Opfern macht.

Und was noch durch die erschütternde Indifferenz unterstrichen wird, mit der die Zeugen die Verbrechen geschehen lassen. Da erzählt etwa eine Pfarrfrau, wie sie eine weibliche Stimme schreien und beten hört – und anstatt nach dem rechten zu schauen, legt sie sich ins Bett.

Diese Geschichten und Andeutungen stellen eine atmosphärische Dichte her und gleichen auch das Grundproblem des Romans aus: dass man nämlich von Anfang an weiß, wer es war. Sein Name steht im Titel, und auf Seite 8 wird Josef Kalteis bereits hingerichtet.


Rezensiert von Tobias Rapp


Andrea Maria Schenkel: Kalteis
Nautilus Verlag, Hamburg 2007, 156 Seiten, 12,80 Euro