Der Menschlichkeit verpflichtet

Moderation: Ernst Rommeney und Ulrich Ziegler · 17.03.2007
Mit 13 Jahren floh Michael Blumenthal gemeinsam mit seinen Eltern vor den Nazis - zunächst nach China, dann in die USA. Heute ist er Direktor des Jüdischen Museums Berlin und nennt Deutschland eine "starke Demokratie". Vor Beginn der Aktionswoche "Darfur: Verbrechen gegen die Menschlichkeit" fordert er im Deutschlandradio Kultur ein stärkeres Engagement der Vereinten Nationen.
Deutschlandradio Kultur: Seit Donnerstag findet in Ihrem Hause eine Aktionswoche zum Thema "Darfur - Verbrechen gegen die Menschlichkeit" statt. Was hat Darfur mit dem Jüdischen Museum zu tun?

Michael Blumenthal: Das Jüdische Museum hat als seine Aufgabe, die wechselhafte Geschichte des Verhältnisses zwischen deutschen Juden und Nichtjuden zu zeigen. Diese Geschichte ist sehr von Perioden markiert, in der diese jüdische Minderheit deutscher Bürger schlecht behandelt worden ist, natürlich besonders in den 30er Jahren, wo ich persönlich diese Erfahrung gemacht habe.

Und so sehen wir es im Jüdischen Museum als unsere Aufgabe und als unser Selbstverständnis, wo auch immer in der Welt Unrecht an Minderheiten – egal welcher Art – passiert, darauf aufmerksam zu machen und dagegen anzukämpfen. Gerade wir, die wir uns mit der jüdischen Geschichte befassen, glauben wirklich etwas darüber sagen zu müssen und sagen zu können.

Deutschlandradio Kultur: Noch ein Wort zum Konflikt selbst im sudanesischen Darfur: Der Gewalt fielen dort seit 2003 mehr als 200.000 Menschen zum Opfer. Rund 2,5 Millionen sind auf der Flucht. Wer kann Ihrer Meinung nach die Vertreibung und das Morden beenden?

Blumenthal: Meiner Meinung nach geht das nur, wenn sich die Weltgemeinschaft, die internationale Gemeinschaft dazu entschließt, viel energischer dagegen vorzugehen. Es gibt natürlich seit 2003 in den Vereinten Nationen immer wieder Resolutionen und Versuche da zu helfen. Die Zahlen, die Sie nennen, sind vielleicht die richtigen, vielleicht auch nicht. Ich habe auch Zahlen gesehen, die viel höher sind.

Auf alle Fälle gibt es über vier Millionen Menschen, die Wohlfahrtsbedürfnisse haben. Es gibt Millionen, die obdachlos geworden sind. Es gibt Tausende von Dörfern, die niedergebrannt worden sind. Das ist eine der schrecklichsten humanitären Katastrophen der momentanen Zeit. Das kann nur unterbunden werden, wenn sich alle Länder viel intensiver und viel energischer mit diesem Problem befassen und sich zusammentun und wirklich etwas unternehmen. Resolutionen alleine werden das nicht schaffen.

Deutschlandradio Kultur: Sie selbst sind Demokrat. Sie waren Mitglied in den Regierungen Kennedy, Johnson und Carter. Kurz nach der Wiederwahl des republikanischen Präsidenten George W. Bush im Jahr 2004 sagten Sie: "Die wichtigste Aufgabe des alten und neuen Präsidenten ist es, das tief gespaltene Land zu vereinen und die Wunden zu heilen." Hat er sich daran gehalten?

Blumenthal: Überhaupt nicht. Und darum ist ja seine Situation im Moment sehr, sehr schwach. Das ist auch der Grund, warum letzten November der Kongress in die Hände der demokratischen Partei übergegangen ist. Er hat es nicht verstanden, das Land zu vereinigen, im Gegenteil, er hat es weiter gespalten. Und wir alle erwarten innigst die nächsten Wahlen nächstes Jahr, dass wir endlich diesen Präsidenten ablösen können.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie sagen, er hat das Land gespalten, woran würden Sie das festmachen? Nennen Sie mal Beispiele.

Blumenthal: Er hat eine Politik verfolgt, in der er sich nur auf seine eigenen Leute gestützt hat. Aber unser System beruht auf einem gewissen Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Teilen der Regierung, also der Justiz, dem Kongress und der Exekutive. Unser Land ist so vielfältig, dass man die Gruppen zusammenbringen und kooperieren muss.

Wenn man alleine nur seine eigene, in diesem Fall sehr rechts gerichtete, Politik verfolgt, dann werden die Fronten sehr steif gegeneinander, und dann kann man gar nichts mehr erreichen. Und so ist das auch bei uns leider passiert, sowohl in der Innenpolitik als auch in der Außenpolitik, wo er es fertig gebracht hat - meiner Meinung nach - den guten Ruf der Vereinigten Staaten in vielen Teilen der Welt sehr, sehr in Frage zu stellen.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja auch den Vietnam-Krieg in einer Zeit erlebt, als Sie selbst mit Regierungsmitglied waren. Nun sind die Amerikaner im Irak. Damals wie heute wurde ja auch die soziale Frage gestellt. Man gibt sehr viel Geld aus für militärische Einsätze im Ausland, aber - jetzt aktuell - den Wiederaufbau von New Orleans kann man nicht bewerkstelligen. Ist das ein Thema für die Menschen in den Vereinigten Staaten?

Blumenthal: Das ist absolut ein Thema. Und ich kann mit Genugtuung bemerken, dass meine Partei, die demokratische Partei, auch diesen Punkt sehr unterstrichen hat, dass wir viel mehr auf sozialer Ebene tun müssen. Wir haben immer noch über 40 Millionen amerikanische Bürger, die keine richtige Gesundheitsversicherung haben. Damit beschäftigt man sich jetzt bereits sehr eifrig in den verschiedenen Staaten. Und es ist ein Teil des Programms der demokratischen Partei, das noch viel weiter und viel schneller voranzutreiben. Es ist absolut inakzeptabel, so viel Geld für Militär auszugeben und so wenig zu tun, um ein gewisses Mindestniveau allen amerikanischen Bürgern zu garantieren.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben es ja vorher schon angesprochen, die Demokraten haben wieder in den beiden Kammern Mehrheiten seit den Wahlen im vergangenen Jahr. Wie nutzen die Demokraten diese Mehrheiten? Gibt es schon so etwas wie einen Kurswechsel in der amerikanischen Politik? Oder ist der amerikanische Präsident einfach zu stark?

Blumenthal: In unserem System hat der amerikanische Präsident eine große, aber keine absolute Macht. Er ist kein Diktator, und der Kongress ist sehr, sehr wichtig. Bereits in den ersten hundert Stunden, das war das Programm, hat der neue Kongress unter der Führung der Demokraten alles Mögliche erreicht. Zum Beispiel ist im House of Representatives ein Mindestlohn-Gesetz verabschiedet worden, das jetzt in Kürze auch vom Senat verabschiedet werden wird. Und alle möglichen anderen Fragen, auch in Bezug auf Irak, sind angeschnitten worden.

Nun gehen wir sehr, sehr früh schon in eine sehr energische und eifrige Wahlkampagne für November nächsten Jahres. Aber Anfang nächsten Jahres, also in ungefähr zehn bis elf Monaten, werden die Kandidaten ausgesucht, und das fängt schon an. In dieser Wahlperiode ist es sehr, sehr schwierig, sehr, sehr viel durchzubringen, aber die Vorbereitungen sind dafür im Gange.

Deutschlandradio Kultur: Mit welchem Kandidaten werden die Demokraten antreten? Mit einer Frau? Vielleicht mit einem Farbigen?

Blumenthal: Das ist ja das Schöne an unserem Land. Ich habe die Politik unseres Landes kritisiert, ich glaube mit Recht, aber es gibt auch sehr, sehr viel Gutes. Und darum bin ich sehr stolz, Amerikaner zu sein. Wir sind ein sehr vielfältiges Land. Es gibt viele Kandidaten im Moment. Das wird sich alles im Laufe der nächsten Monate aussortieren.

Aber es gibt - wie Sie schon sagen - eine Frau. Das wäre das erste Mal und da wären wir nicht die Pioniere. Sie haben ja in diesem Land bereits eine Frau als Kanzlerin. Wir haben einen sehr interessanten Mann, Barack Obama. Seine Mutter ist eine Weiße aus Kansas, und sein Vater kommt aus Kenia - ein sehr, sehr kluger, ein interessanter Mann. Wir haben einen Mormonen. Wir haben einen Italian-American, einen italienischen Amerikaner. Wir haben einen Latino, den Gouverneur von New Mexiko. Und alle haben sie eine gewisse Chance.

Das ist das Schöne, dass eben unser Land so vielfältig ist, und dass wir nun langsam so weit fortgeschritten sind, dass sie alle eine Chance haben. Wer das Rennen machen wird, ist schwer zu sagen.

Deutschlandradio Kultur: Wie wird Ihr Votum sein?

Blumenthal: Im Moment neige ich zu Barack Obama. Er ist ein kluger Mann. Er ist jung. Er repräsentiert eine neue Generation. Eines seiner Hauptthemen ist, das Land zusammenzubringen, Wunden zu heilen, auch über die Parteien hinaus zusammen die Probleme anzupacken - genau das Gegenteil von der jetzigen George-W.-Bush-Regierung. Und das imponiert mir sehr.

Er hat viel als Sozialarbeiter in Chicago unter den ärmlichen Schichten gearbeitet. Er ist ein ausgezeichneter Rechtsanwalt. Ich glaube, er war der erste African American, der der Chef an der Harvard Law School, der Jura-Fakultät, war, das sehr renommierte Magazin geführt hat als Editor and Chief. Also, das ist schon ein Mann, der schon große Fähigkeiten hat, und der imponiert mir sehr.

Deutschlandradio Kultur: Würden Sie denn heute schon eine Prognose wagen, welche Themen wahlentscheidend sein können? Ist es der Irakkrieg? Ist es möglicherweise die soziale Frage? Oder ist es, wie Bill Clinton mal sagte, "it’s the economy stupid"?

Blumenthal: Nein, die economy stupid ist es diesmal nicht, denn die Wirtschaft hat in den letzten Jahren in Amerika sehr gut funktioniert. Wir haben wenig Inflation. Wir haben wenig Arbeitslose, viel weniger als in diesem Land. Wir haben einen immer größeren Unterschied zwischen der oberen Schicht, den am besten Verdienenden und den am schlechtesten Verdienenden. Und das ist ein Problem.

Ich glaube, die zwei Punkte, die diese Wahlkampagne dominieren werden, sind erst mal der Irakkrieg und zweitens noch mal der Irakkrieg und drittens auch noch mal der Irakkrieg und danach Gesundheitsprobleme. Wie alle entwickelten Länder, auch hier in Europa, haben wir dieselben Probleme mit den immer steigenden Kosten des Gesundheitswesens, mit der Notwendigkeit von Reformen und mit der Tatsache, dass Menschen länger leben und immer weniger junge Menschen, die arbeiten, Ältere, die bereits im Ruhestand sind, unterstützen müssen. Das Problem existiert auch bei uns. Das ist jetzt wohl der wichtigste interne Punkt. Und es ist schon ganz klar, dass das eines der Hauptthemen sein wird, wer das beste Programm hat, um dieses Problem zu lösen.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind Amerikaner, aber ein Amerikaner mit deutschen Wurzeln, 1926 in Oranienburg bei Berlin geboren. 1939 mussten Sie als 13-Jähriger vor den Nazis mit Ihren Eltern und Ihrer Schwester erst nach Shanghai und dann in die USA fliehen. Was verbindet Sie denn mit Deutschland heute, mit dem Land, in dem Ihre Nachbarn Sie verfolgt haben?

Blumenthal: Bis vor zehn oder 15 Jahren hätte ich gesagt, "reichlich wenig". Wir mussten 1939 bei Nacht und Nebel fliehen. Mein Vater ist mit Müh und Not aus einem Konzentrationslager gekommen, aus Buchenwald. Ich bin mit 13 Jahren hier weg. Den Krieg über haben wir in China verbracht, und ich bin dann nach dem Krieg nach Amerika weitergewandert.

Von einem Deutschland wollte ich nichts mehr wissen. Das war nicht mehr mein Land. Dasselbe galt auch für meine Familie und für fast alle ehemaligen deutschen Juden, die mit diesem Land nach diesen schrecklichen Ereignissen nichts mehr zu tun haben wollten. Ich habe das Land öfter aus geschäftlichen Gründen besucht und empfand es immer als ein interessantes, aber ein fremdes Land für mich, obwohl mich natürlich etwas mit der Sprache verbunden hat, nachdem ich die Sprache noch mehr oder weniger leidlich beherrsche.

Deutschlandradio Kultur: Sozusagen perfekt.

Blumenthal: Erst in den letzten Jahren, sagen wir mal, seit der Wiedervereinigung und besonders seit der Zeit vor ungefähr acht oder neun Jahren, als ich wieder regelmäßig durch das Jüdische Museum hierher nach Deutschland gekommen bin, habe ich doch eine starke Sympathie für dieses Land wieder entwickelt. Es ist doch wirklich ein ganz anderes Land geworden als das, das ich in meiner Jugend gekannt habe.

Es ist eine westliche Demokratie, eine starke westliche Demokratie. Die heutige Generation der Deutschen, das ist die dritte nach der Nazizeit, sind richtige Demokraten, die sich ernsthaft mit der Vergangenheit ihres Landes und der Geschichte ihres Landes befasst haben, eines der einzigen Länder, das sich zu dieser Vergangenheit gestellt hat und versucht hat, wieder gut zu machen, was wieder gut zu machen ist. Es ist ein Land, das gut funktioniert. Es ist ein Land, in dem - obwohl Sie vielleicht viel kritisieren, wenn ich das so von außen sehe, funktioniert es an sich ganz gut - the quality of life, Lebensqualität eine hohe ist, in vieler Beziehung, würde ich sagen, eine höhere als in meinem Land.

Es gibt ja sehr, sehr viel Gutes. Also, ich fühl mich hier sehr wohl und ich habe mich doch wieder an meine Wurzeln erinnert. Und so ist es ja bei vielen Amerikanern. Man ist stolz, Amerikaner zu sein, aber man vergisst deswegen doch die Wurzeln nicht. Viele Jahre wollte ich von meinen Wurzeln nichts wissen. Jetzt bin ich ganz froh, dass ich sie wieder erkenne.

Deutschlandradio Kultur: Trotzdem gibt es immer wieder kleine dunkle Flecken in Deutschland, Thema Neonazis, die nicht nur in Stadtparlamente einziehen, sondern auch in Landesparlamente – in Sachsen, in Mecklenburg-Vorpommern, also in Bundesländer der ehemaligen DDR. Bekümmert Sie das?

Blumenthal: Ja und nein. Man darf solche Entwicklungen und Erscheinungen nicht bagatellisieren. Man muss sich ernsthaft damit befassen. Man muss ernsthaft dagegen ankämpfen, was ja auch hier in diesem Land geschieht, so wie ich das beobachte, denn das darf nie wieder aufkommen - einerseits.

Andererseits ist es aber doch der Fall, dass es eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Deutschen ist, die sich dazu bringen lassen, verhältnismäßig wenig deutsche Wähler wählen für diese Art von verblödeter Politik. Man muss nur aufpassen, dass sie auch so klein bleibt. Natürlich, jede solche Entwicklung und alle diese Symptome sind gefährlich und müssen genau beobachtet und dagegen muss angekämpft werden.

Übrigens, bei uns gibt’s auch Fanatiker. Die beobachten wir auch genau. Denn in einer Demokratie ist es so, dass alle möglichen Meinungen erscheinen, aber diejenigen, die die Demokratie zerstören wollen, die müssen energisch bekämpft werden. Das dürfen wir nicht zulassen. Das darf auch hier nicht zugelassen werden.

Deutschlandradio Kultur: Seit zehn Jahren sind Sie nun Direktor des Jüdischen Museums. Vor allen Dingen sind Sie es in einer Zeit, wo das Jüdische Museum mit Ausstellungen begonnen hat. Sie haben eine Dauerausstellung über die 2000-jährige Geschichte deutschsprachiger Juden geschaffen und haben parallel dazu immer wieder wechselnde Themenausstellungen. Wenn Sie jetzt einmal durch die aktuelle Ausstellung gehen, können Sie markante Punkte nennen, die sich ein Hörer oder ein Besucher Ihrer Meinung nach unbedingt anschauen sollte.

Blumenthal: Da gibt es vieles. Wir haben ja sehr, sehr viele junge Menschen. Ungefähr ein Drittel unserer Besucher sind Schüler und Studenten unter 25 Jahren. Das ist ein Hauptziel. Wir haben ein sehr, sehr energisches pädagogisches Programm mit Ausstrahlung in Schulen in der ganzen Bundesrepublik.

Erst mal wollen wir dem Besucher, der Besucherin, der oder die ja oft wenig über Juden in der deutschen Geschichte weiß, vermitteln, dass das Zusammenleben zwischen deutschen Juden und Nichtjuden seit fast 2000 Jahren existiert. Und wir wollen zeigen, dass es Auf und Ab gegeben hat, dass es blühende Zeiten gegeben hat und dann auch wieder diese schrecklichen, besonders im 20. Jahrhundert in den 30er Jahren unter den Nazis.

Was ich, glaube ich, für wichtig finde, ist, zu zeigen, wie viel von der deutschen Geschichte ohne die Anwesenheit jüdischer deutscher Bürger gar nicht richtig zu verstehen ist. Das wollen wir zeigen und das finde ich wichtig. Außerdem finde ich natürlich auch eine Frage wichtig, mit der wir uns immer intensiver befassen und wo wir auch bereits unsere Dauerausstellung etwas umgebastelt haben, um mehr über das Wiederaufleben jüdischen Lebens in der Nachkriegszeit zu berichten.

Deutschlandradio Kultur: Kommen denn auch Moslems, kommen auch Kinder aus türkischen Familien ins Jüdische Museum, um etwas über das Leben einer ganz anderen Kultur zu erfahren?

Blumenthal: Jawohl, wir versuchen das zu fördern so weit wie möglich. Wir haben ja alle möglichen anderen Begleitprogramme, Diskussionsabende, Kulturabende. Und wir haben auch besonders für türkische Deutsche und für Muslime alle möglichen Programme gehabt. Das versuchen wir so weit wie möglich zu fördern. Ich würde es begrüßen, wenn wir noch mehr haben würden. Wir haben nicht genug.

Deutschlandradio Kultur: Also, für die Besucher, ob es nun Deutsche sind oder Ausländer, ob es Besucher aus verschiedenen Kulturkreisen und verschiedenen Religionen sind, für sie alle, würden Sie sagen, ist es eine Antwort auf nationale Identität?

Blumenthal: Wenn Sie sagen, "Antwort auf nationale Identität", dann klingt das so, als ob das etwas ist, was man abschaffen sollte oder wo man im Abschaffen ist. Ich werde oft hier in Deutschland gefragt, ob Nationalismus schlecht ist. Meine Antwort ist immer: Man muss unterscheiden zwischen Patriotismus und Nationalismus. Patriotismus heißt, auf sein Land stolz zu sein oder sich in seinem eigenen Land wohl zu fühlen oder sich damit verbunden zu fühlen. Das ist keine schlechte Sache. Das ist eine gute Sache.

Sie haben ja gehört, dass ich glücklich bin Amerikaner zu sein und in keinem anderen Land leben möchte und würde. Also, ich bin ein amerikanischer Patriot, wenn ich mich so nennen darf, und ich bin bereit viel für mein Land zu tun. Nationalismus, also zu sagen, mein Land ist besser als jedes andere, das ist etwas Gefährliches. Und in dieser globalen Welt, in der wir leben, Nationalist zu sein, rabiater Nationalist zu sein, ist etwas, was mir unverständlich ist. Aber Patriotismus ist okay.

Deutschlandradio Kultur: Sie bezeichnen sich als amerikanischen Patrioten und auch als nicht religiösen Menschen. Wie würden Sie sich mit Ihrer jüdischen Vergangenheit identifizieren? Wie würden Sie sich beschreiben: Kosmopolit mit jüdischen Wurzeln oder als Mitglied des jüdischen Volkes, das in Amerika lebt? Wie geht das zusammen?

Blumenthal: Das ist auch eine Frage, die oft an mich gestellt wird – übrigens viel öfter hier in Deutschland als in Amerika. Da habe ich eine Antwort im Laufe der Zeit dafür, die mich befriedigt. Ich weiß nicht, ob sie Sie befriedigt. Man braucht nicht religiös zu sein, um bewusster Jude zu sein. Wieso bin ich Jude? Wieso fühle ich mich als Jude, obwohl ich nicht in die Synagoge gehe? Jude zu sein, ist, Mitglied einer Schicksalsgemeinschaft zu sein.

Das ist ein schönes deutsches Wort – "Schicksalsgemeinschaft". Das heißt, irgendwie kriegt man bereits mit der Muttermilch mit, dass man ein Teil einer Gruppe - ob es nun ein Volk ist, wir sind so vermischt im Laufe der tausende von Jahren, man kann vielleicht von Volk reden, aber das ist ein ganz besonderer Begriff in diesem Fall - von Menschen, die eine besondere Geschichte durch die Jahrtausende hindurch erlebt haben und die dadurch geprägt worden sind und denen besondere Werte eingetrichtert worden sind.

Die judaeo-christliche Ethik, die beruht ja auf gewissen Werten - der Wert des einzelnen Menschen zum Beispiel. Dieser Gruppe von Menschen fühle ich mich verbunden. Ich muss ehrlich sagen, ich bin ebenso stolz, nicht nur Amerikaner, sondern ein Teil dieser Gruppe von Menschen zu sein und finde das jüdische Volk, wenn Sie es so nennen wollen, eine interessante Gruppe von Menschen, mit allen Stärken und Schwächen, die so Menschen haben, aber doch eine sehr interessante und in vieler Beziehung eindrucksvolle Gruppe von Menschen. Und ich bin sehr glücklich, ein Teil dieser Gruppe von Menschen zu sein. Deswegen brauche ich nicht in die Synagoge zu gehen.

Deutschlandradio Kultur: Hat denn diese Ethik, von der Sie sprechen, auch die jüdische Ethik, zum Beispiel durchgeschlagen auf Ihre Arbeit als Manager in einem Industriebetrieb? Es wird sehr viel über die Ethik und die Werte in Unternehmen derzeit diskutiert. Hat das bei Ihnen eine Rolle gespielt?

Blumenthal: Ich habe zwei große Unternehmen in meinem Leben geführt, Weltunternehmen mit über 100.000 Mitarbeitern. Ich habe versucht, das so zu führen, mich so zu benehmen als Vorstandsvorsitzender, wie ich mich als Mensch benehme. Ich weiß nicht, ob das auf jüdischer Ethik beruht, ich glaube nicht. Es beruht einfach darauf, was ich denke und fühle.

Dass man Menschen anständig behandelt, dass man ihre Interessen versteht, dass man auf sie Rücksicht nimmt, dass man ihnen entgegen kommt, dass man versteht, was ihre Probleme sind, das ist natürlich in einem großen Unternehmen oft nicht so einfach, weil der Wettbewerb oft ein starker ist. Man muss Kompromisse eingehen. Aber ich glaube, ich habe von Anfang an irgendwie das geschafft.

Als ich das zweite Mal in die Regierung ging, wurde oft von mir gesagt, dass ich das "Gewissen der amerikanischen Wirtschaft" bin, weil ich mein Unternehmen versucht habe so zu führen, dass es ethisch und moralisch einwandfrei ist. Also, wir haben nicht gegen Gewerkschaften angekämpft, im Gegenteil, wir haben mit ihnen zusammengearbeitet. Wir haben von Anfang an versucht, keinen zu diskriminieren, egal, wo wir gearbeitet haben. Wir haben keine Schmiergelder gezahlt. Ich habe dann meinen Leuten gesagt, dann verzichten wir lieber auf einen Vertrag, letzten Endes wird sich das doch bezahlt machen, was auch der Fall gewesen ist.

Also, habe ich das nun gemacht, weil ich Jude bin? Ich glaube nicht. Es gibt viele Nichtjuden, die dasselbe machen. Ich habe es gemacht, weil ich vielleicht so erzogen worden bin oder mich so fühle. Und das genügt.

Deutschlandradio Kultur: Wir könnten noch ganz viele Fragen stellen. Die Zeit läuft ab. Eine habe ich aber schon noch. Jemand, der sich jüdischen Traditionen verpflichtet fühlt wie Sie: Welche Bedeutung hat für ihn das Land Israel?

Blumenthal: Ich finde es schön, dass die Juden auch wieder ein eigenes Land haben, in dem sie leben können, wenn sie möchten. Und so habe ich natürlich eine große Sympathie für dieses Land, was nicht bedeutet, dass ich die Politik Israels nun in jeder Beziehung gut heiße. Politiker in Israel machen ebensoviel und manchmal sogar mehr Dummheiten als die Politiker in anderen Ländern, ob es in Amerika oder in Deutschland ist. Politiker sind keine Engel und die israelischen Politiker auch nicht. Da gibt es natürlich auch viel zu bemängeln.

Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht glücklich bin, dass Israel existiert, dass ich hoffe und erwarte, dass es weiter existieren wird. Und ich hoffe, dass sich auch in diesem Teil der Welt, wo wirklich schrecklich schwierige Probleme sind, im Laufe der Zeit diese Probleme auch ein bisschen verbessern und gelöst werden können. Aber das bedarf noch einiger Zeit und viel, viel Verstand und Geduld.

Deutschlandradio Kultur: Wir danken für das Gespräch, Herr Blumenthal.

Blumenthal: Ich danke auch.