"Der Mensch ist nicht Herr seiner selbst"

Von Susanne Billig · 03.01.2006
Im Freudjahr, das anlässlich des 150. Geburtstages des Begründers der Psychoanalyse ebenfalls 2006 begangen wird, werden seine Theorien verstärkt diskutiert. Es, Ich und Über-Ich taufte Sigmund Freud die drei inneren Ebenen des Menschen, die sich seiner Meinung nach ein permanentes Tauziehen liefern.
"Der Mensch ist nicht Herr seiner selbst." Mit dieser Behauptung schockierte der Wiener Nervenarzt Sigmund Freud die Gesellschaft am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Seit der frühen Neuzeit hatte man die "Verrückten" in Irrenhäuser gesperrt. Freud legte sie auf die Couch, hörte ihnen zu, spürte in ihrem Erzählfluss die verborgenen Bedeutungen auf und baute daraus ein kompliziertes theoretisches Gebäude.

Was sieht man von einem Eisberg? Neunzig Prozent liegen tief unter der Meeresoberfläche. Genau so, meinte Freud, verhält es sich auch mit den Regungen der menschlichen Psyche: Der größte Teil bleibt dem Menschen unbewusst. ES, ICH und ÜBER-ICH – so taufte Freud die drei inneren Ebenen des Menschen. Sie liefern sich ein permanentes Tauziehen.

Das ES kennt nur das Lustprinzip, es wird von Trieben und Erbanlagen gesteuert. Wenn es könnte, wie es wollte, dann hätte es hauptsächlich Sex und würde sich keiner Moral unterwerfen. Schon für das Kind spielen sexuelle Wünsche eine Rolle - auch seine "Libido"-Theorie schockte Freuds prüde Zeitgenossen.

Doch der Mensch ist ein Gesellschaftstier – der Vater will einen erfolgreichen, vernünftigen Sprössling, die Mutter hätte gerne was fürs Herz. So wird jedes Kind schon im zarten Alter von den Erziehungsbotschaften und den Sehnsüchten seines sozialen Umfelds überflutet. Wenn das Kind begreift, dass nicht nur seine Bedürfnisse etwas gelten, sondern es sich auch den Wünschen der Eltern stellen muss – wenn es, wie Freud sagte, den "Ödipus-Komplex" auflöst – dann entsteht das ÜBER-ICH. Das ÜBER-ICH ist das schlechte Gewissen, das uns plagt, wenn wir die Wünsche von Mama und Papa nicht erfüllen. Dass Mama und Papa womöglich schon gar nicht mehr leben, spielt für das ÜBER-ICH keine Rolle.

Im ES nur Wünsche und Lustprinzip, im ÜBER-ICH strenge elterliche Moral - zwischen diesen Gegensätzen muss die dritte Ebene vermitteln: Das ICH – unsere Entscheidungsfähigkeit. Das ICH muss dafür sorgen, dass wir unsere Triebe auf gesunde Art und Weise im Griff behalten – "sublimieren" sagte Freud.

Das klappt nicht immer, beobachtete der Nervenarzt an seinen geplagten Patienten: Oft ist das ICH heillos überfordert. Zu unerbittlich drückt die Strenge der Moral, zu heftig wehren sich die triebhaften Impulse. Der innere Kampf schlägt sich in Träumen nieder, erklärte Freud in seiner "Traumtheorie". Auch in seelischen Krankheiten inszeniert der Mensch seine Konflikte. Dann legt man sich einen neurotischen Waschzwang zu und kann so einerseits das Ideal permanenter Sauberkeit über-erfüllen. Andererseits macht so ein Waschzwang einen Menschen ziemlich funktionsuntüchtig – die Krankheit wird zum Protest.

Sigmund Freud war nicht der Erste, der sich mit den verborgenen Schichten der menschlichen Psyche befasste – das haben vor ihm Schamanen, Heiler und Künstler auch schon getan. Freud aber machte eine medizinische Disziplin daraus – und hat mit der Entwicklung der Psychoanalyse den abendländischen Blick auf den seelisch leidenden Menschen tiefgreifend reformiert.

Das Gespräch zum Thema "Sigmund Freud - Genie oder Scharlatan" mit dem Psychologen Herbert Selg, emeritierter Professor von der Universität Bamberg, können Sie bis zu acht Wochen nach der Sendung in unserem Audio-On-Demand-Player hören.
Sigmund Freud in Wien, 1936
Sigmund Freud in Wien, 1936© AP