"Der Mensch ist ein recht träges Wesen"
Der Vorsitzende der Stiftung "Denkwerk Zukunft", Meinhard Miegel, macht die Sehnsucht nach Vertrautem dafür verantwortlich, dass Verbraucher so zögerlich beim Stromanbieterwechsel seien. Das habe auch Vorteile: "Wenn nämlich die Bevölkerung immer den günstigsten Weg wählen würde, dann hätten wir Zusammenbrüche in weiten Teilen unserer Wirtschaft."
Dieter Kassel: Seit ungefähr zehn Jahren schon können die Verbraucher in Deutschland ihren Stromanbieter prinzipiell wählen. Bisher haben das allerdings nur etwa 15 Prozent der Stromkunden tatsächlich getan, wenn im kommenden Jahr die Energieunternehmen ihre Preise wieder kräftig erhöhen. Im Durchschnitt, so sieht es bisher aus, werden das Erhöhungen von 8,5 Prozent sein, im Einzelfall von bis zu 21 Prozent. Wenn das passiert, da wird die Zahl der Wechselwilligen zwar wieder steigen, aber alle sehen voraus, dass es immer noch insgesamt nur sehr wenige sein werden.
Woran liegt das, dass wir Dinge wie Stromanbieter, Gasversorger, aber auch die Bank fürs Girokonto oder die Krankenversicherung so ungern wechseln, dass wir lieber Geld verschenken. Darüber reden wir jetzt mit dem Sozialforscher und Juristen Meinhard Miegel, einst Mitbegründer und lange Zeit Leiter des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft. Das gibt es seit Sommer nicht mehr. Jetzt ist Miegel unter anderem der Vorsitzende der Stiftung "Denkwerk Zukunft". Schönen guten Morgen, Prof. Miegel.
Meinhard Miegel: Schönen guten Morgen.
Kassel: Beim Kauf eines neuen Fernsehers oder auch eines sehr viel kleineren Gerätes werden Testberichte gewälzt, werden enorme Preisvergleiche angestellt. Bei der Stromrechnung gibt es den kurzen Ärger über die neueste Erhöhung und dann lebt man damit. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Miegel: Ja, ich glaube, das ist recht einfach. Der Mensch ist von Natur aus ein recht träges Wesen. Wenn er einmalig zu einer Anschaffung schreitet, das Fernsehgerät erwerben will oder ein neues Automobil kaufen will, nun ja, dann hat er einen besonderen Anlass. Dann setzt er sich vielleicht auch hin, obwohl das keineswegs alle machen und schaut sich an, wo ist das günstigste Gerät, wo ist das günstigste Auto. Aber bei so langfristigen Verträgen, die ja durchaus über Jahrzehnte laufen können, da tritt ein gewisser Effekt der Abstumpfung ein. Man ist bei dieser oder jener Einrichtung, bei diesem oder jenem Unternehmen. Daran hat man sich gewöhnt. Man hat sich an das Bild der Abrechnung gewöhnt. Man hat vielleicht sogar gelernt, diese Abrechnung zu lesen. Man fühlt sich mit dem Ganzen vertraut. Und infolge dessen zögert man sehr lange in einer solchen Situation einen Wechsel vorzunehmen.
Kassel: Ist das nur Faulheit, respektive Trägheit, Herr Miegel, oder ist das auch tatsächlich eine gewisse Überforderung? Denn wenn man nun all das durchforsten will, es gibt ja Firmen, die machen das im Zweifelsfall für einen, wenn man das beste Bankkonto, die beste Krankenversicherung, so man noch in der Position ist, wo man wählen kann, den besten Gasversorger, Stromanbieter, die besten Versicherungen finden will, dann muss man ja eigentlich so ein kleiner Wirtschaftswissenschaftler werden.
Miegel: Das ist vollkommen richtig. Mittlerweile gibt es so viele unterschiedliche Angebote. Wenn man überall den optimalen Weg wählen würde oder suchen würde, dann wäre man damit sehr beschäftigt. Dann könnte man wahrscheinlich gar nicht mehr sehr ordentlich seinem Beruf nachgehen. Auch da sind sicherlich Grenzen gezogen. Und täglich werden wir ja bestürmt mit neuen Angeboten, vergleichen sie. Das geht los mit dem Metzer und dem Bäcker und das endet dann beim Stromanbieter oder beim Automobilanbieter.
Kassel: Aber wie passt das zusammen mit der ja auch existierenden "Geiz-ist-geil-Mentalität"? Wenn wir nun in Zeitungen lesen, die Zahlen sind auf verschiedene Art und Weise zu berechnen, deshalb sind die manchmal unterschiedlich, aber wenn wir in seriösen Quellen lesen, die Deutschen könnten insgesamt zehn Milliarden Euro sparen beim Strom, wenn sie wirklich alle zum jeweils günstigsten Anbieter wechseln. Dann müssten doch eigentlich die Verbraucher leuchten?
Miegel: Ja, ja. Der Mensch ist kein rationales Wesen. Auf der einen Seite geht er irgendwo in einen Billigladen und tätigt dort seine Wochenendeinkäufe und dann schreitet er aus dem Laden heraus, wo er gerade billigst eingekauft hat und trinkt eine Latte macchiato für 3,60 Euro. Die Widersprüche sind da immens. Und wenn man davon ausgeht, dass der Einzelne schon den besten Weg suchen und finden wird, dann ist das eine insgesamt irrige Annahme.
Das geschieht hier und da, es geschieht bei Gruppen, aber keineswegs bei der Bevölkerung insgesamt. Und das ist auch so etwas wie eine tragende Säule unserer Volkswirtschaft. Wenn nämlich die Bevölkerung immer den günstigsten Weg wählen würde, dann hätten wir Zusammenbrüche in weiten Teilen unserer Wirtschaft, die nur deshalb noch funktionieren, weil die Leute nicht genau nachprüfen.
Kassel: Aber warum ist es manchmal so und manchmal so? Wir wissen ja, dass das Problem, das Sie zum Schluss jetzt beschrieben haben, diese in manchen Bereichen dann wieder vorhandene extreme Bereitschaft zu wechseln, ja ein Riesenkostenfaktor ist, zum Beispiel für Telefonanbieter, im Festnetz, im Mobilbereich, für Internetanbieter, die ja ihre Kunden oft gar nicht so lange behalten, bis sich die Werbekosten amortisiert haben.
Miegel: Das hatte ich eben im Hinterkopf, als ich das gesagt habe, dass ganze Wirtschaftszweige zusammenbrechen würden, wenn die Bevölkerung jetzt konsequent immer den günstigsten Weg gehen würde. Das ist eben menschliches Verhalten und Wirtschaft und Gesellschaft kann nur darauf hoffen, dass dieses Verhalten nicht allzu liquide wird. Denn das wäre dann wirklich ein wildes Durcheinander, dann würden Amortisationskosten überhaupt nicht mehr eingespielt werden können und alles, was damit zusammenhängt.
Kassel: Wenn ich zurückkomme auf den Anfang unseres Gesprächs, sehen Sie es denn positiv, wenn ein Verbraucher sagt, egal, welche Preise mir die Konkurrenz liefert, ich bleibe aus Prinzip bei meinen guten alten Stadtwerken?
Miegel: Ja, bis zu bestimmten Grenzen. Es kann natürlich auch Situationen geben, da wird das ganze Verhalten unsinnig. Dann muss man sagen, meine Stadtwerke sind jetzt so teuer geworden, andere sind so viel günstiger, jetzt wechsele ich. Aber wenn die Bevölkerung immer hin- und herspringen würde, jeweils den besten Anbieter suchen würde, pausenlos ihre Konten bei den vorhandenen Banken und Sparkassen kündigen würde, um dann irgendwelche Einstiegszinsen bei anderen zu bekommen, dann hätten wir schon enorme Schwierigkeiten in unserer Volkswirtschaft. Dann würde das weithin gar nicht mehr funktionieren.
Kassel: Gibt es da nationale Unterschiede. Man hat ja immer so das Gefühl, der Amerikaner sagt sich, ach, da gibt es was Neues, nämlich das, fürchtet auch anders als der Deutsche nicht, dass die Entscheidung falsch ist, denn wenn sie es ist, kann er sie ja noch mal revidieren und den übernächsten Anbieter nehmen. Ist das auch deutsche Mentalität, doch lieber beim guten alten Bewährten bleiben zu wollen?
Miegel: Ich will nicht sagen deutsche Mentalität. Aber Sie haben zu Recht auf die Amerikaner verwiesen. Die Amerikaner sind sprunghafter. Die beenden Bindungen sehr viel schneller und knüpfen neue Beziehungen. Und das gilt dann auch für wirtschaftliches Verhalten. Aber innerhalb Europas sind die Deutschen nicht so unterschiedlich, verglichen mit Franzosen, Spaniern oder Italienern, sodass man sagen müsste, die Europäer, insbesondere die Kontinentaleuropäer auf der einen Seite, sind beständiger und die Amerikaner auf der anderen Seite sind sprunghafter.
Kassel: Sie haben schon mehrmals gesagt, das hat alles Vor- und Nachteile. Ein ständiger Wechsel würde Bereiche der Wirtschaft zum Zusammenbruch bringen. Gar kein Wechsel bedeutet natürlich, man kann auf dem Papier so viel Konkurrenz schaffen, wie man will, und es entsteht am Ende keine reale, weil jeder glaubt, na ja, ich kann doch nur mit der Telekom telefonieren und nur Strom von den Stadtwerken kriegen usw. usf. Diese Trägheit im Kleinen, die es da manchmal gibt, hat die auch eine Auswirkung auf eine Trägheit im Großen? Einfach ausgedrückt, wer den Stromanbieter nicht wechselt, der will auch keine Rentenreform?
Miegel: Ja, das spielt sicher ineinander. Menschen haben Gewohnheiten. Und an diesen Gewohnheiten halten sie ungeheuer zäh fest. Wenn man zum Beispiel Ernährungsgewohnheiten nimmt. Ja, da kann man hundertmal sagen, ernähre dich anders, verändere dies oder jenes auf deinem Speiseplan. Menschen tun es ganz einfach nicht. Wir haben jetzt so ein hübsches Beispiel in Großbritannien, wo der Versuch unternommen worden ist, für Schulkinder frisches und bekömmliches Essen einzuführen. Die Schulkinder haben es nicht angenommen, und die Eltern haben ihnen noch die Burgers durch den Schulzaun gereicht, damit die an ihren alten Gewohnheiten festhalten konnten.
Und das gilt für viele andere Lebensbereiche auch. Wenn ich mir die ganze Umweltdebatte anschaue. Mein Gott, das dauert Jahrzehnte, ehe eine Bevölkerung bereit ist, sich in dieser oder jener Richtung zu verändern. Dann sagt man hundertmal, das ist doch pure Vergeudung bei Energie oder bei Wasser oder bei anderen Dingen. Verändert mal dies. Ja, es funktioniert. Aber es dauert eben wirklich in der Regel eine Generation. Und man sagt ja auch, für große Veränderung muss eine Generation sterben, ehe dann die neue bereit ist, die veränderten Dinge so zu tun, wie sie getan werden müssten.
Kassel: Weil man ja immer das Gefühl hat, in der heutigen Welt, wir nehmen das jetzt noch mal ohne Wirtschaftskrise, auf die kommen wir dann gleich noch, in der heutigen Welt und bei der Geschwindigkeit, mit der außerhalb Europas was passiert, hat man doch vielleicht die Zeit nicht mehr, immer für große Veränderungen eine ganze Generation abzuwarten?
Miegel: Das ist vollkommen richtig. Das ist ein Erbe unserer Evolution. In der Vergangenheit konnte man mit Fug und Recht sagen, lieber Sohn, lieber Enkel, du musst das so und so machen, dann machst du das richtig und das funktionierte ja auch. Heute sind die Veränderungen so ungeheuer schnell, wie sie das eben angedeutet haben. Und insofern ist das schon eine Belastung, wenn das Trägheitsmoment in einer Gesellschaft so hoch ist. Aber es ist eben so hoch.
Und es ist sehr, sehr schwer, da etwas zu bewegen. Und infolge dessen geraten ja Gesellschaften auch immer wieder ins Hintertreffen. Sie fallen zurück, weil es ihnen nicht gelungen ist, die notwendigen Anpassungsprozesse vorzunehmen. Das ist keine neue Entwicklung, sondern das können wir in der Geschichte weit zurückverfolgen.
Kassel: So etwas, wie eine so große Wirtschaftskrise, wie wir sie im Moment weltweit und deshalb natürlich auch in Deutschland beobachten, beschleunigt das Veränderungsprozesse oder verlangsamt es sie sogar?
Miegel: Es beschleunigt tendenziell Veränderungsprozesse, weil Menschen hautnah zu spüren bekommen, hier muss etwas geschehen. Dieser Grundgedanke, wie bisher geht es nicht weiter, wird in solchen Situationen schon aktiviert. Der wird vitaler als in Zeiten, in denen die Dinge so ruhig dahinfließen. Ich gehe auch davon aus, dass jetzt diese Krise wieder einige Bewegung schaffen wird. Aber man sollte da keinen Illusionen nachhängen und sich vorstellen, dass jetzt die großen Umbrüche kommen. Sobald sich das alles wieder ein wenig beruhigt, wird auch die Bereitschaft zu Veränderungen nachlassen.
Kassel: Ich möchte an einem Freitagvormittag von Ihnen, Herr Miegel, aber auch ein bisschen Trost zum Schluss für all diejenigen von uns, die genau wissen, sie könnten 300, 400, 500 Euro sparen mit neuen Versicherungs-, Bank-, Gas- und Stromverträgen und sie machen es doch nicht und sie werden es jetzt auch in nächster Zeit erst mal nicht machen.
Gibt es denn auch im Leben eines Sozialforschers, Wirtschaftsexperten und Juristen Dinge, Sie sollen nicht sagen, was, wir haben ja schon noch Datenschutz, auch im Radio, aber Dinge, wo Sie zugeben müssen, Sie wissen genau, den kündigen und jemand anders nehmen, wäre wirtschaftlich vernünftig und Sie machen es einfach nicht?
Miegel: Ja, wenn das so klar ist, dass ich einen Überblick habe und ich weiß genau, das und das muss ich machen und das wird die Konsequenz meines Handelns sein, dann mache ich das schon. Die Vorstellung, dass man jetzt irgendwo bleibt aus alter Anhänglichkeit, die ist zwar häufig zutreffend, aber auf meine Person würde ich das nicht beziehen.
Kassel: Das klingt aber so ein bisschen nach Türchen auf für Ausrede. Wenn das nicht ganz so klar ist und Sie wahrscheinlich Geld sparen könnten, aber man weiß es nicht, ist auch nicht so wichtig, dann kommt es aber schon mal vor, dass Sie sich dem Problem auch nicht so richtig widmen, oder?
Miegel: Das ist vollkommen richtig. Wenn ich den Eindruck habe, ich müsste viel Arbeit aufwenden, um mir in einer Frage Klarheit zu verschaffen, dann neige ich dazu, diese Arbeit zu unterlassen.
Kassel: Meinhard Miegel, Vorsitzender der Stiftung "Denkwerk Zukunft" über die Trägheit der Verbraucher im Kleinen, im Großen und über die Vor- und Nachteile dieser menschlichen Eigenschaft. Prof. Miegel, ich danke Ihnen.
Miegel: Danke.
Woran liegt das, dass wir Dinge wie Stromanbieter, Gasversorger, aber auch die Bank fürs Girokonto oder die Krankenversicherung so ungern wechseln, dass wir lieber Geld verschenken. Darüber reden wir jetzt mit dem Sozialforscher und Juristen Meinhard Miegel, einst Mitbegründer und lange Zeit Leiter des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft. Das gibt es seit Sommer nicht mehr. Jetzt ist Miegel unter anderem der Vorsitzende der Stiftung "Denkwerk Zukunft". Schönen guten Morgen, Prof. Miegel.
Meinhard Miegel: Schönen guten Morgen.
Kassel: Beim Kauf eines neuen Fernsehers oder auch eines sehr viel kleineren Gerätes werden Testberichte gewälzt, werden enorme Preisvergleiche angestellt. Bei der Stromrechnung gibt es den kurzen Ärger über die neueste Erhöhung und dann lebt man damit. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Miegel: Ja, ich glaube, das ist recht einfach. Der Mensch ist von Natur aus ein recht träges Wesen. Wenn er einmalig zu einer Anschaffung schreitet, das Fernsehgerät erwerben will oder ein neues Automobil kaufen will, nun ja, dann hat er einen besonderen Anlass. Dann setzt er sich vielleicht auch hin, obwohl das keineswegs alle machen und schaut sich an, wo ist das günstigste Gerät, wo ist das günstigste Auto. Aber bei so langfristigen Verträgen, die ja durchaus über Jahrzehnte laufen können, da tritt ein gewisser Effekt der Abstumpfung ein. Man ist bei dieser oder jener Einrichtung, bei diesem oder jenem Unternehmen. Daran hat man sich gewöhnt. Man hat sich an das Bild der Abrechnung gewöhnt. Man hat vielleicht sogar gelernt, diese Abrechnung zu lesen. Man fühlt sich mit dem Ganzen vertraut. Und infolge dessen zögert man sehr lange in einer solchen Situation einen Wechsel vorzunehmen.
Kassel: Ist das nur Faulheit, respektive Trägheit, Herr Miegel, oder ist das auch tatsächlich eine gewisse Überforderung? Denn wenn man nun all das durchforsten will, es gibt ja Firmen, die machen das im Zweifelsfall für einen, wenn man das beste Bankkonto, die beste Krankenversicherung, so man noch in der Position ist, wo man wählen kann, den besten Gasversorger, Stromanbieter, die besten Versicherungen finden will, dann muss man ja eigentlich so ein kleiner Wirtschaftswissenschaftler werden.
Miegel: Das ist vollkommen richtig. Mittlerweile gibt es so viele unterschiedliche Angebote. Wenn man überall den optimalen Weg wählen würde oder suchen würde, dann wäre man damit sehr beschäftigt. Dann könnte man wahrscheinlich gar nicht mehr sehr ordentlich seinem Beruf nachgehen. Auch da sind sicherlich Grenzen gezogen. Und täglich werden wir ja bestürmt mit neuen Angeboten, vergleichen sie. Das geht los mit dem Metzer und dem Bäcker und das endet dann beim Stromanbieter oder beim Automobilanbieter.
Kassel: Aber wie passt das zusammen mit der ja auch existierenden "Geiz-ist-geil-Mentalität"? Wenn wir nun in Zeitungen lesen, die Zahlen sind auf verschiedene Art und Weise zu berechnen, deshalb sind die manchmal unterschiedlich, aber wenn wir in seriösen Quellen lesen, die Deutschen könnten insgesamt zehn Milliarden Euro sparen beim Strom, wenn sie wirklich alle zum jeweils günstigsten Anbieter wechseln. Dann müssten doch eigentlich die Verbraucher leuchten?
Miegel: Ja, ja. Der Mensch ist kein rationales Wesen. Auf der einen Seite geht er irgendwo in einen Billigladen und tätigt dort seine Wochenendeinkäufe und dann schreitet er aus dem Laden heraus, wo er gerade billigst eingekauft hat und trinkt eine Latte macchiato für 3,60 Euro. Die Widersprüche sind da immens. Und wenn man davon ausgeht, dass der Einzelne schon den besten Weg suchen und finden wird, dann ist das eine insgesamt irrige Annahme.
Das geschieht hier und da, es geschieht bei Gruppen, aber keineswegs bei der Bevölkerung insgesamt. Und das ist auch so etwas wie eine tragende Säule unserer Volkswirtschaft. Wenn nämlich die Bevölkerung immer den günstigsten Weg wählen würde, dann hätten wir Zusammenbrüche in weiten Teilen unserer Wirtschaft, die nur deshalb noch funktionieren, weil die Leute nicht genau nachprüfen.
Kassel: Aber warum ist es manchmal so und manchmal so? Wir wissen ja, dass das Problem, das Sie zum Schluss jetzt beschrieben haben, diese in manchen Bereichen dann wieder vorhandene extreme Bereitschaft zu wechseln, ja ein Riesenkostenfaktor ist, zum Beispiel für Telefonanbieter, im Festnetz, im Mobilbereich, für Internetanbieter, die ja ihre Kunden oft gar nicht so lange behalten, bis sich die Werbekosten amortisiert haben.
Miegel: Das hatte ich eben im Hinterkopf, als ich das gesagt habe, dass ganze Wirtschaftszweige zusammenbrechen würden, wenn die Bevölkerung jetzt konsequent immer den günstigsten Weg gehen würde. Das ist eben menschliches Verhalten und Wirtschaft und Gesellschaft kann nur darauf hoffen, dass dieses Verhalten nicht allzu liquide wird. Denn das wäre dann wirklich ein wildes Durcheinander, dann würden Amortisationskosten überhaupt nicht mehr eingespielt werden können und alles, was damit zusammenhängt.
Kassel: Wenn ich zurückkomme auf den Anfang unseres Gesprächs, sehen Sie es denn positiv, wenn ein Verbraucher sagt, egal, welche Preise mir die Konkurrenz liefert, ich bleibe aus Prinzip bei meinen guten alten Stadtwerken?
Miegel: Ja, bis zu bestimmten Grenzen. Es kann natürlich auch Situationen geben, da wird das ganze Verhalten unsinnig. Dann muss man sagen, meine Stadtwerke sind jetzt so teuer geworden, andere sind so viel günstiger, jetzt wechsele ich. Aber wenn die Bevölkerung immer hin- und herspringen würde, jeweils den besten Anbieter suchen würde, pausenlos ihre Konten bei den vorhandenen Banken und Sparkassen kündigen würde, um dann irgendwelche Einstiegszinsen bei anderen zu bekommen, dann hätten wir schon enorme Schwierigkeiten in unserer Volkswirtschaft. Dann würde das weithin gar nicht mehr funktionieren.
Kassel: Gibt es da nationale Unterschiede. Man hat ja immer so das Gefühl, der Amerikaner sagt sich, ach, da gibt es was Neues, nämlich das, fürchtet auch anders als der Deutsche nicht, dass die Entscheidung falsch ist, denn wenn sie es ist, kann er sie ja noch mal revidieren und den übernächsten Anbieter nehmen. Ist das auch deutsche Mentalität, doch lieber beim guten alten Bewährten bleiben zu wollen?
Miegel: Ich will nicht sagen deutsche Mentalität. Aber Sie haben zu Recht auf die Amerikaner verwiesen. Die Amerikaner sind sprunghafter. Die beenden Bindungen sehr viel schneller und knüpfen neue Beziehungen. Und das gilt dann auch für wirtschaftliches Verhalten. Aber innerhalb Europas sind die Deutschen nicht so unterschiedlich, verglichen mit Franzosen, Spaniern oder Italienern, sodass man sagen müsste, die Europäer, insbesondere die Kontinentaleuropäer auf der einen Seite, sind beständiger und die Amerikaner auf der anderen Seite sind sprunghafter.
Kassel: Sie haben schon mehrmals gesagt, das hat alles Vor- und Nachteile. Ein ständiger Wechsel würde Bereiche der Wirtschaft zum Zusammenbruch bringen. Gar kein Wechsel bedeutet natürlich, man kann auf dem Papier so viel Konkurrenz schaffen, wie man will, und es entsteht am Ende keine reale, weil jeder glaubt, na ja, ich kann doch nur mit der Telekom telefonieren und nur Strom von den Stadtwerken kriegen usw. usf. Diese Trägheit im Kleinen, die es da manchmal gibt, hat die auch eine Auswirkung auf eine Trägheit im Großen? Einfach ausgedrückt, wer den Stromanbieter nicht wechselt, der will auch keine Rentenreform?
Miegel: Ja, das spielt sicher ineinander. Menschen haben Gewohnheiten. Und an diesen Gewohnheiten halten sie ungeheuer zäh fest. Wenn man zum Beispiel Ernährungsgewohnheiten nimmt. Ja, da kann man hundertmal sagen, ernähre dich anders, verändere dies oder jenes auf deinem Speiseplan. Menschen tun es ganz einfach nicht. Wir haben jetzt so ein hübsches Beispiel in Großbritannien, wo der Versuch unternommen worden ist, für Schulkinder frisches und bekömmliches Essen einzuführen. Die Schulkinder haben es nicht angenommen, und die Eltern haben ihnen noch die Burgers durch den Schulzaun gereicht, damit die an ihren alten Gewohnheiten festhalten konnten.
Und das gilt für viele andere Lebensbereiche auch. Wenn ich mir die ganze Umweltdebatte anschaue. Mein Gott, das dauert Jahrzehnte, ehe eine Bevölkerung bereit ist, sich in dieser oder jener Richtung zu verändern. Dann sagt man hundertmal, das ist doch pure Vergeudung bei Energie oder bei Wasser oder bei anderen Dingen. Verändert mal dies. Ja, es funktioniert. Aber es dauert eben wirklich in der Regel eine Generation. Und man sagt ja auch, für große Veränderung muss eine Generation sterben, ehe dann die neue bereit ist, die veränderten Dinge so zu tun, wie sie getan werden müssten.
Kassel: Weil man ja immer das Gefühl hat, in der heutigen Welt, wir nehmen das jetzt noch mal ohne Wirtschaftskrise, auf die kommen wir dann gleich noch, in der heutigen Welt und bei der Geschwindigkeit, mit der außerhalb Europas was passiert, hat man doch vielleicht die Zeit nicht mehr, immer für große Veränderungen eine ganze Generation abzuwarten?
Miegel: Das ist vollkommen richtig. Das ist ein Erbe unserer Evolution. In der Vergangenheit konnte man mit Fug und Recht sagen, lieber Sohn, lieber Enkel, du musst das so und so machen, dann machst du das richtig und das funktionierte ja auch. Heute sind die Veränderungen so ungeheuer schnell, wie sie das eben angedeutet haben. Und insofern ist das schon eine Belastung, wenn das Trägheitsmoment in einer Gesellschaft so hoch ist. Aber es ist eben so hoch.
Und es ist sehr, sehr schwer, da etwas zu bewegen. Und infolge dessen geraten ja Gesellschaften auch immer wieder ins Hintertreffen. Sie fallen zurück, weil es ihnen nicht gelungen ist, die notwendigen Anpassungsprozesse vorzunehmen. Das ist keine neue Entwicklung, sondern das können wir in der Geschichte weit zurückverfolgen.
Kassel: So etwas, wie eine so große Wirtschaftskrise, wie wir sie im Moment weltweit und deshalb natürlich auch in Deutschland beobachten, beschleunigt das Veränderungsprozesse oder verlangsamt es sie sogar?
Miegel: Es beschleunigt tendenziell Veränderungsprozesse, weil Menschen hautnah zu spüren bekommen, hier muss etwas geschehen. Dieser Grundgedanke, wie bisher geht es nicht weiter, wird in solchen Situationen schon aktiviert. Der wird vitaler als in Zeiten, in denen die Dinge so ruhig dahinfließen. Ich gehe auch davon aus, dass jetzt diese Krise wieder einige Bewegung schaffen wird. Aber man sollte da keinen Illusionen nachhängen und sich vorstellen, dass jetzt die großen Umbrüche kommen. Sobald sich das alles wieder ein wenig beruhigt, wird auch die Bereitschaft zu Veränderungen nachlassen.
Kassel: Ich möchte an einem Freitagvormittag von Ihnen, Herr Miegel, aber auch ein bisschen Trost zum Schluss für all diejenigen von uns, die genau wissen, sie könnten 300, 400, 500 Euro sparen mit neuen Versicherungs-, Bank-, Gas- und Stromverträgen und sie machen es doch nicht und sie werden es jetzt auch in nächster Zeit erst mal nicht machen.
Gibt es denn auch im Leben eines Sozialforschers, Wirtschaftsexperten und Juristen Dinge, Sie sollen nicht sagen, was, wir haben ja schon noch Datenschutz, auch im Radio, aber Dinge, wo Sie zugeben müssen, Sie wissen genau, den kündigen und jemand anders nehmen, wäre wirtschaftlich vernünftig und Sie machen es einfach nicht?
Miegel: Ja, wenn das so klar ist, dass ich einen Überblick habe und ich weiß genau, das und das muss ich machen und das wird die Konsequenz meines Handelns sein, dann mache ich das schon. Die Vorstellung, dass man jetzt irgendwo bleibt aus alter Anhänglichkeit, die ist zwar häufig zutreffend, aber auf meine Person würde ich das nicht beziehen.
Kassel: Das klingt aber so ein bisschen nach Türchen auf für Ausrede. Wenn das nicht ganz so klar ist und Sie wahrscheinlich Geld sparen könnten, aber man weiß es nicht, ist auch nicht so wichtig, dann kommt es aber schon mal vor, dass Sie sich dem Problem auch nicht so richtig widmen, oder?
Miegel: Das ist vollkommen richtig. Wenn ich den Eindruck habe, ich müsste viel Arbeit aufwenden, um mir in einer Frage Klarheit zu verschaffen, dann neige ich dazu, diese Arbeit zu unterlassen.
Kassel: Meinhard Miegel, Vorsitzender der Stiftung "Denkwerk Zukunft" über die Trägheit der Verbraucher im Kleinen, im Großen und über die Vor- und Nachteile dieser menschlichen Eigenschaft. Prof. Miegel, ich danke Ihnen.
Miegel: Danke.