Der Mensch hinter der Ikone

Rezensiert von Edelgard Abenstein |
Der Student Benno Ohnesorg wurde 1967 bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von der Polizei erschossen. So wurde aus ihm eine Ikone der Studentenbewegung, eine Symbolfigur der 68er. Der Schriftsteller Uwe Timm war mit Ohnesorg befreundet und versucht, den Menschen hinter der Ikone aufzuspüren.
Die meisten kennen seinen Namen, keiner kennt den Menschen. Benno Ohnesorg wurde 1967 kaltblütig erschossen, ein unschuldiges Opfer, ein harmloser Student, der vor der deutschen Oper in Berlin gegen den Besuch des Schahs demonstriert hatte. Sein sinnloser Tod wurde zum Fanal der Studentenbewegung, sein Name zum Symbol für einen autoritären Staat, sein Bild zur Ikone eines turbulenten Jahrzehnts.

Der Münchner Schriftsteller Uwe Timm kannte Ohnesorg, war mit ihm einige Jahre vor diesem tragischen Ereignis befreundet. Ähnlich wie in seinem letzten Buch "Am Beispiel meines Bruders", der sich mit 19 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte und in Russland starb, erzählt er auch in "Der Freund und der Fremde" über einen Verstorbenen und zugleich über sich selbst.

Das Autobiografische wird ihm auch hier zum Exempel für das Lebensgefühl einer Generation. Gerade die subjektive Art der Annäherung, die mit Zeitsprüngen arbeitet, mit Andeutungen und politischen Kommentaren, erlaubt einen neuen klugen Blick auf die Geschichte der 50er und 60er Jahre.

Timm und Ohnesorg, beide 1940 geboren, lernten sich 1961 am Braunschweig-Kolleg für Hochbegabte kennen, wo sie in zwei Jahren das Abitur nachholten. Beide hatten zuvor ein Handwerk gelernt, Kürschner der eine, Dekorateur der andere. Es war Zuneigung auf den ersten Blick, zwei Wahlverwandte erkannten einander, ähnlich gestimmt, aber grundverschieden.

Beide schrieben sie Gedichte, lasen sich durch die Weltliteratur von Beckett bis Ionesco, und sie waren hungrig nach Bildung, die dem Nützlichen und Praktischen heroisch den Rücken kehrte. Mit ihrer Absicht, die Enge ihrer Herkunft durch eine Welt des Wissens zu überwinden, verkörpern sie einen Typus des sozialen Auf- und Aussteigers, wie es ihn heute nicht mehr gibt.

Die Erzählung spielt in der Zeit der schwarzen Rollkragenpullover, des Existentialismus. Hochgestimmt und getragen von großem Ernst lehnte man nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus jede Ideologie ab und suchte nach einem Leben in Selbstbestimmung, in "indifférence", verkörpert durch die Figur des "Fremden" in Camus‘ gleichnamigem Roman.

Das Buch kommt ohne Fotos aus, es zeichnet ein sprachliches Bild. Uwe Timm erweist sich erneut als genauer Beobachter, verlässt sich nicht nur auf seine eigene Erinnerung, sondern zieht, wie in seinen früheren Büchern, schriftliche Quellen hinzu: Ohnesorgs Bewerbungsbrief, seine Artikel in einer Literaturzeitschrift, ein psychologisches Gutachten, den Obduktionsbericht. Außerdem lässt er seinem Freund nahestehende Menschen zu Wort kommen, dessen Bruder, Sohn und die Frau, die an jenem 2. Juni 1967 an der Seite des Sterbenden kniete.

Doch Uwe Timm ist kein Reporter. Seine Nachforschungen bleiben lückenhaft, denn nicht um den "Fall Ohnesorg" geht es ihm, vielmehr darum, aus der Ikone eine Person hervortreten zu lassen, den "Freund", den er damals aus den Augen verlor, weil es ihm am Ende, zeitgeistgemäß, um den radikalen Schnitt, die Abkehr von allen Bindungen gegangen war.

In dieser Montage aus Erinnerungsbruchstücken, Dokumenten und einer Vielfalt von Stimmen, berichtet Uwe Timm von Gefühlslagen und Denkweisen, die weit über die beiden Figuren hinaus das Erkennungsmerkmal einer ganzen Generation wurden. Daraus bezieht das Buch seine Wirkung, weniger aus dem zu unseliger Prominenz geratenen Gegenstand.

Es sind einzelne Bilder, subtil gefasste Facetten, die uns eine fremde, versunkene Zeit nahe bringen, den Stolz, den Hochmut der jungen literarischen Talente, mit dem sie sich am Flussufer ihre Gedichte vorlesen, während sie sich genussvoll von der Gesellschaft absondern und zugleich an der Aufgabe scheitern, junge Mädchen mit Bravour anzusprechen. Dass der Aufstand der 68er Jahre auch das Werk von Schwärmern war, die ihre Inkubationszeit in der Selbstvergewisserung feierten, zeigt das Buch eindringlich.

Dabei ist die Erzählung nicht immer gegen das Sentimentale gefeit: eine Elegie, die sich selbst aus dem Abstand von 40 Jahren noch immer zu der heroischen Wucht dieser damals als einzigartig empfundenen Erziehung des Gefühls und des Verstandes bekennt. Kein Hauch von Distanz zu dem, was ja auch Mode und geborgte Haltung war. Man meint bis heute jenes alle Aufbruchsstimmung beherrschende, vollkommen ironiefreie Klima zu spüren.

"Erinnern", so heißt es am Ende der Erzählung, "führt ins Innere, im französischen 'rappeler' steckt das Zurückrufen des Vergangenen, des Toten wie im Orpheus-Mythos." Uwe Timms Erzählweise balanciert zwischen diesen beiden Bedeutungen, so wie die Geschichte dieser Freundschaft sich bewegt zwischen Literatur und Zeitgeschichte, empfindsam, fern und anrührend zugleich.


Uwe Timm: Der Freund und der Fremde
Eine Erzählung
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005.
176 Seiten, 16,90 Euro