Der Mensch als defizitäres Wesen

Von Ulrike Gondorf · 02.09.2008
Die Menschen im Tanztheaterstück "Pitié!" von Alain Platel sind getrieben und gefangen in ihren Körpern und ihren Individualitäten. "Pitié!" – Erbarmen, Mitmenschlichkeit, die Überwindung des Egos voraussetzt, ist ihnen nicht möglich. Musikalisch flankiert wird die Aufführung mit nichts Geringerem als der Matthäuspassion von Bach.
Das Ausrufezeichen hat es in sich. So langsam wird einem das klar, wenn man im Nieselregen eines frühherbstlichen Abends die Bochumer Jahrhunderthalle verlassen hat. Das Ausrufezeichen macht aus dem salbungsvollen Titel "Pitié" eine drängende Forderung, einen verzweifelten Aufschrei. Der Mensch ist ein zutiefst defizitäres Wesen. Daran lässt die neueste Kreation von Alain Platel, die bei der Ruhrtriennale uraufgeführt wurde, keine Zweifel.

Der Belgier Alain Platel ist ein universaler Theaterkünstler: aus Musik, Tanz, Schauspiel, Performance und Akrobatik macht er einzigartige Aufführungen. Mit "WOLF", inspiriert von Mozart-Musik, glückte ihm bei der Ruhrtriennale vor fünf Jahren definitiv der Sprung in die erste Reihe der europäischen Theatermacher. Die Aufführung tourte jahrelang weltweit über die Festivals und ist jedem, der sie gesehen hat, in Erinnerung durch die Kraft ihrer Bilder und den utopischen Mut, den sie - nicht naiv, sondern "trotz allem"- auf menschliche Möglichkeiten setzte. "Pitié!" ist das Komplementärstück dazu, in einigen Zügen ähnlich, in andern diametral entgegengesetzt.

Wieder greift Platel nach Musik, die dem Tanztheater nur mit Bedenken zugestanden wird. Diesmal ist es nichts Geringeres als die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. Wieder hat er ein Ensemble aus Sängern, Musikern und den Tänzern des von ihm begründeten "Ballets C de la B" zusammengestellt (multikulturell und vielsprachig), in dem alle alles zu können scheinen. Und das Engagement und die Authentizität, mit der sie das Ergebnis vermitteln, belegt wieder, dass sie keineswegs nur Ausführende, sondern Mitschöpfer dieses Abends sind. Eine kraftvolle, hochprofessionelle und hinreißend virtuose Truppe. Im Mittelpunkt steht der junge Countertenor Serge Kakudji, eine sensationelle Entdeckung. Nicht nur sängerisch, sondern auch mit expressiver Körpersprache das Energiezentrum der Vorstellung.

Nach dem lichten, phasenweise spielerisch heiteren Mozartabend ist "Pitié!" aber düster grundiert, obsessiv, bedrückend. Bachs Musik schimmert als Goldgrund auf hinter Figuren, die sich nicht damit zu verbinden, ja, nicht einmal wahrzunehmen scheinen, welche Vollkommenheit und Harmonie, welche Größe und Klarheit dem Menschen erreichbar ist. Diese Menschen sind getrieben, beschädigt, gefangen in ihren Körpern, ihren Individualitäten.

"Pitié!", Erbarmen, Mitmenschlichkeit, die Öffnung für den andern, die Überwindung des Egos voraussetzt, ist ihnen nicht – oder nur in ganz wenigen, kleinen Momenten – möglich. Platel zeigt sie als Opfer zwanghafter Ticks oder leer laufende Maschinen. Ihre Körper zucken wie in Krämpfen, winden sich in epileptischen Anfällen. Dabei treibt sie immer wieder das Verlangen, den Körper-Panzer, der sie einschließt, zu knacken. Im Selbstversuch oder an einem Gegenüber bemühen sie sich verzweifelt, die Lippen vom Gesicht wegzuziehen, Haut und Fleisch wegzuschieben und aufzurollen an den Armen oder über den Rippen, endlich einen Kontakt zu finden ins Innere.

Visuelles Material für Platels szenische Reflexionen bieten Stationen der Passionsgeschichte, wie sie im kollektiven Bildgedächtnis gespeichert ist: die Kreuzigung, die Kreuzabnahme, die Gruppe der trauernden Zeugen, der tote Sohn auf dem Schoß der Mutter im Motiv der pietà. Der Abend ist aber weit davon entfernt, eine biblische Erzählung zu liefern.

Ebenso fragmentiert erscheint Bachs Matthäuspassion in der Musik zu "pitié!", die der Saxophonist und Jazzmusiker Fabrizio Cassol (auch Solist und musikalischer Leiter der Aufführung) arrangiert hat. Bach klingt fremd-vertraut, wie übersetzt in exotische Sprachen, denn die Klanggestalt des Abends ist nicht nur vom Jazz, sondern auch von afrikanischen und karibischen Farben geprägt. Einzelne Motive und Arienbruchstücke verbindet Cassol zu einem Gewebe, das immer wieder reißt: ersterbende Klänge, mechanische Geräusche, atemloses Keuchen, verschüttete Melodien, aus denen sich Bachs Musik mit ergreifender Kraft erhebt. Als Beglaubigung einer Utopie, die es zu verwirklichen gilt. Als Ausrufezeichen hinter der Forderung nach "pitié", einer neuen Qualität mit-menschlichen Handelns.