Der Mensch als Atom

Der aus den USA stammende Physiker Mark Buchanan, der als Wissenschaftsjournalist in Großbritannien für die Fachzeitschrift "Nature "gearbeitet hat und mittlerweile in Frankreich lebt, betrachtet in "Warum die Reichen reicher werden und Ihr Nachbar so aussieht wie Sie" Menschen als "soziale Atome".
Entsprechend setzt er gesellschaftliche Prozesse mit physikalischen Prozessen gleich. So wie sich einzelne, chaotische Atome auf thermodynamischer Ebene in exakte Ordnungen fügen, sollen Menschen als Masse berechenbaren Gesetzen gehorchen. Phantomstau, Einkommensverteilung, die Entstehung ethnischer Ghettos, die Gräuel von Abu Ghraib, selbst die Genozide in Afrika und Ex-Jugoslawien hält Buchanan für Muster menschlichen Gruppenverhaltens, die nahezu unausweichlich entstehen.

"Warum die Reichen immer reicher werden …" ist ein exemplarisches Buch: Gewappnet mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen geht hier einer auf die großen Fragen der Zivilisation los und löst sie im Handumdrehen. Ein Fall von höherem Obskurantismus! – und als solcher teils amüsant, teils alarmierend.

"Muster aufspüren und den Faktor Mensch ignorieren" – so heißt das erste Kapitel und Mark Buchanans ganzes Programm. Der forsche Autor gesteht durchaus, dass einzelne Individuen bisweilen unendlich kompliziert sind, glaubt jedoch, dass Menschen in der Masse gleichsam naturgesetzlich funktionieren und aufgrund von Rückkopplungseffekten "einfachen, klaren Regeln" unterworfen sind. Vor allem dank der frappanten Rechenleistung moderner Computer ließen sich die grundlegenden Muster finden, die Ökonomen, Soziologen, Psychologen und sonstige Wissenschaftler vom Menschen bisher übersehen haben. Buchanan suggeriert, dass ganze Fakultäten begraben werden können, weil die Sozialphysik nunmehr durchrechnen könne, wie es in der Wirtschaft und Gesellschaft tatsächlich läuft.

So viel zur großen Klappe. Indessen steckt bizarr wenig dahinter. Buchanan diskutiert nicht, wie legitim und aussagekräftig die Analogie Atom-Mensch überhaupt sein kann. Er setzt die Schlagkraft der heiklen Gleichsetzung ohne jeden erkenntnistheoretischen Skrupel einfach voraus und fabuliert über den Menschen als "Das adaptive Atom", "Das imitierende Atom" und "Das kooperative Atom". Je besser man sich von den flüssigen Anekdoten über das Schwingen der Londoner Milleniumsbrücke, Börsencrashs, Experimente zum menschlichen Instinkt, die frühen Hominiden und und und unterhalten fühlt, desto stärker wird der Eindruck, dass sich das Buch in Ankündigungen und Suggestionen erschöpft. Die versprochenen Gesetze zur Erklärung von Staus und Genoziden werden nicht erkennbar – es sei denn, man akzeptiert als Erklärung, dass ein Hutu einen Tutsi in Ruanda mit der gleichen Notwendigkeit massakrieren musste, wie ein Autofahrer bremst, wenn vor ihm gebremst wird.

"Es geht darum, unsere Welt mit der optimistischen Zuversicht zu erforschen, dass wir die Wahrheit bis auf den Grund erkennen können, wie auch immer sie lauten mag" – lautet Buchanans aufklärerische Maxime, die von der Annahme konterkariert wird, menschliches Verhalten folge letztlich "ziemlich einfachen Gesetzen". Kann Buchanan den nächsten Stau, Börsencrash oder Genozid dank sozialphysikalischer Berechnungen voraussagen? Der mustersüchtige Physiker versucht es nicht einmal. Die Prognose-Fähigkeit, deren Fehlen er in den Wissenschaften vom Menschen beklagt, geht im selbst völlig ab.

Gleichwohl kann man "Warum die Reichen immer reicher werden…" mit Gewinn lesen, und zwar wenn man das Buch als Symptom nimmt: Wie ein Apologet einer neuen Denkschule deren Möglichkeiten grandios überschätzt und den Stein der Weisen plötzlich in der Hand zu halten glaubt. Natürlich ist Sozialphysik mehr und bestenfalls etwas anderes, als Buchanan in seinem (allzu) flott geschriebenen Sachbuch darstellen kann. Die fadenscheinige Eleganz des Wissenschaftszweigs und das Risiko, gegenüber der Komplexität der gesellschaftlichen Erscheinungen in mathematischen Fatalismus zu verfallen, werden indessen überdeutlich.

Rezensiert von Arno Orzessek

Mark Buchanan: Warum die Reichen reicher werden und Ihr Nachbar so aussieht wie Sie
Neue Erkenntnisse aus der Sozialphysik

Aus dem Englischen von Birgit Schöbitz
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008
262 Seiten, 24,90 Euro