Der Marcel Proust der Bierbude

17.01.2007
Jan Himilsbachs Erzähler sind Streuner. Sie laufen hierhin und dorthin, und als Leser vergisst man bald, wie ihre Geschichten eigentlich angefangen haben - man vertraut sich ihnen einfach an und lässt sich einige Seiten um die Ecken treiben und dann noch ein paar, bis mit einem Mal Schluss ist. Es ist eine seltsame "Welt des Jan Himilsbach", in die deutschsprachige Leser nun einen Blick werfen können. Der Kritiker Martin Sander hat zwölf Erzählungen des Polen herausgegeben und gelungen in ein Alltagsidiom des rauen Sanftmuts übersetzt.
Himilsbach, der "Marcel Proust der Bierbude", erzählt von Überlebenskünstlern ganz unten. Ihr Jetzt-Gefühl verdankt sich keiner Madeleine, sondern dem Wissen, dass alles jeden Augenblick in die Brüche gehen kann.

In der Geschichte "Taufe" bringt die Mutter ihren Sohn und sich erst mit wechselnden Männern, darunter auch einem deutschen Besatzer, und ihren Kalorienmitbringseln über die Runden. Nach ihrem Tod nimmt eine Freundin den Waisen zu sich, damit er sie ernährt. Der Junge klaut Kohlen bei den Deutschen und hat viel Erfolg beim Kartenspiel, bis einer der von ihm Ausgenommenen wütend einen SS-Mann herbeibrüllt. Er entkommt knapp und muss sich zur Sicherheit einer Judentaufe unterziehen. Als Taufpaten sind zur Hand: die Mutter eines Schieläugigen sowie ein stadtbekannter Dieb und Raufbold, genannt "der Wilde", der dem sich sträubenden Priester gut zuredet. Nach einer sehr feuchten Feier besteigen die Taufpaten noch das einzige Bett in der Wohnung von Stiefmutter und Jungchrist. Man kann von Armut und Lebensgefahr natürlich geradliniger und weniger skurril erzählen, aber kaum unterhaltsamer.

Himilsbachs Protagonisten steht das Wasser auch dann, als die Deutschen längst vertrieben sind, stets bis zum Hals und höher. Da ist keine Zeit für Kommentare. Es geschieht ja auch soviel! Die atemberaubenden Wendungen der autobiographisch grundierten und doch auch dahingeflunkerten Geschichten macht der Erzähler mit einer unerschütterlichen Lakonie glaubhaft, und Langeweile scheut er wie der Teufel das Weihwasser. Seinen Kumpels in der Warschauer Bohème musste Himilsbach schon was bieten.

Die Helden dieser "arte povera" sind jugendliche Kohlenklauer, Weichselschiffer, Steinmetze und Huren. Unter ihnen hat Himilsbach selbst gelebt. Geboren wurde er am - nicht existierenden - 31. November 1931 als uneheliches Kind. Wegen einiger Diebstähle steckte man den Jungen, dessen Mutter während der deutschen Besatzung gestorben war, nach dem Krieg in ein Erziehungsheim und ließ ihn Steinmetz lernen. Himilsbach arbeitete auf Friedhöfen und als Matrose auf der Weichsel. Lange Zeit hatte er keinen festen Wohnsitz.

Er schrieb Erzählungen, Drehbücher und einen Roman, der verschollen ist. 1967 erscheint der Erzählungsband "Trugbild", zwei weitere Bücher folgen 1974 und 1983. In jenen Jahren wurde Himilsbach berühmt als knorriger Laienschauspieler in knapp 50 Filmen. Die Dauerpräsenz sowie Alkoholexzesse, schreibt Herausgeber Martin Sander im knappen Nachwort, ließen jedoch die literarische Inspiration versiegen; 1988 stirbt er.

Seine Protagonisten aber besitzen eine unverbrüchliche und gefährlich ansteckende Vitalität: In "Der Weg nach oben" schildert Himilsbach, wie sein bettelarmer Protagonist und Nachwuchsliterat einen Kollegen in den Abgrund zieht. Der Mann soll ihn im Auftrag des Schriftstellerverbands ordentlich einkleiden, gerät aber dank seines Schutzbefohlenen auf alkoholische und sittliche Abwege. Morgens wacht er mit dickem Kopf und ohne die ihm anvertrauten Mittel neben einer Hure auf. Immerhin weiß er Rat - jenen Rat, den alle Polen kannten und beherzigten, ob sie nun Himilsbach hießen oder nicht, ob sie es mit einer Hure oder einem Parteisekretär zu tun hatten:

"Ich glaube, es ist am besten, du stellst mir eine Quittung aus. Du nimmst dir ein bisschen Geld für die verpatzte Nacht, und den Rest gibst du mir zurück. Davon vertrinken wir dann einen Teil, und mit dem, was übrig bleibt, werde ich es irgendwie drehen, dass wir etwas kaufen. So kommt jeder auf seine Kosten.'"

Die Hure aber will keine Quittung ausstellen, des Finanzamts wegen. Den größten Gewinn bei den Kuhhändeln von Jan Himilsbach hat wohl - der Leser.

Rezensiert von Jörg Plath

Die Welt des Jan Himilsbach
Herausgegeben, aus dem Polnischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Martin Sander
Deutscher Taschenbuch Verlag. München 2006.
198 S., 14,50 Euro