Der Mann im Strom

Von Susanne Arlt · 05.08.2007
In Siegfried Lenz' Roman "Der Mann im Strom" wird die Geschichte des Tauchers Hinrichs erzählt. Viele Bomben hat er bereits geborgen in Jahrzehnten als Marinetaucher. Peter Bodes und Peter Kreft, in der gleichen Branche mit ebenso langer Erfahrung tätig, könnten Vorbilder für die Romanfigur sein. Die beiden Hamburger entdecken viele Gemeinsamkeiten mit ihrem fiktiven Alter Ego.
""Er wälzte sich in das ölige schwarze Wasser des Hafenbeckens, er drückte mit dem Kopf auf das Überdruckventil, er sank. Er sah für kurze Zeit die Köpfe der Männer, die ihm nachstarrten, aber sie verschwanden, sie zerliefen, und schließlich war nichts mehr da als die kalte, lichtlose Tiefe, ihr Schweigen und ihr Druck.""

Peter Bodes schaudert für den Bruchteil einer Sekunde, als er diese Zeilen liest. Der 50-jährige kennt das Gefühl. Die Stille, die Isolation, die Gefahr in 40 Meter Tiefe.

"Marinetaucher bringen Höchstleistung. Physisch und psychisch",

sagt Peter Bodes knapp. Er passt in das Bild eines Tauchers: kernig und wortkarg. Ein stämmiger Mann, dunkle kurze Harre, Schnauzbart, behaarte Brust. Bodes klappt das gebundene Buch zusammen, legt es zu seinen Füßen auf das schwarze Schiffsdeck:

"Ich glaube, Platzangst darf man beim Tauchen nicht haben, das funktioniert nicht. Das geht nicht, ich könnte mir das nicht vorstellen."

Seit wenigen Tagen liegt der Lastkahn in der Dove-Elbe. Ein Seitenarm des breiten Stroms. Auf der Wasseroberfläche wippen acht rote Ballons im Takt des Windes. Bodes Augen verweilen kurz auf den Markierungspunkten. Darunter könnten Bomben aus dem zweiten Weltkrieg liegen, sagt er mit heiserer Stimme. Das Buch zu seinen Füßen handelt auch davon. "Der Mann im Strom" von Siegfried Lenz. Er liest es als junger Mann. Die Gradlinigkeit des alten Mannes beeindruckt ihn. Sein Kampf ums nackte Überleben. Bodes:

"Beklemmungen und Bedrückungen sind natürlich an der Tagesordnung, wenn man Tauchgänge macht, die unter besonderen Bedingungen stattfinden."

Peter Kreft rutscht auf dem gepolsterten Autositz ungeduldig nach vorn, presst den runden Bauch gegen das Lenkrad, schiebt das kantige Gesicht bis an die Windschutzscheibe. Der 60-jährige schaut ungläubig den Lkw-Fahrer an. Der starrt zurück. Erst auf Peter Krefts rotes Gesicht, dann auf sein noch röteres Auto. Auf der Seite steht: Kampfmittelräumdienst. Und die Notrufnummer der Feuerwehr: 112. So was macht immer Eindruck, sagt Kreft und grinst von einem Ohr bis zum anderen. Der Fahrer zuckt mit den Schultern, lächelt dann wie zur Entschuldigung. Resigniert sinkt der 60-jährige ins Polster zurück, lässt dem Mann im Lkw die Vorfahrt. Peter Kreft - ein Alphatier, einer der sich nichts sagen lässt, auch nicht als Marinetaucher bei der Bundeswehr:

"Ich war nie ein angepasster Mensch, ich war immer sehr kritisch und das kommt bei Offizieren nicht gut an."

Ein Mann wie der Mann im Strom. Auch der Taucher Hinrichs in dem Roman von Siegfried Lenz macht, was er für richtig hält. Auch wenn es illegal ist. Er fälscht sein Taucherbuch, kratzt das Geburtsdatum heraus. Macht sich ein paar Jahre jünger, um den Job im Hamburger Hafen zu bekommen. Taucher bergen dort nach dem Zweiten Weltkrieg Granaten und Bomben aus den Wracks. Peter Kreft nickt und sagt:

"Hätte ich damals auch gemacht."

Äußerlich hat er mit dem Romanhelden nichts gemein. Kreft: eher kurz geraten, mit Bauchansatz, kräftiges schlohweißes Haar und stechend blaue Augen. Er ist leger gekleidet in Jeans und kariertem Hemd. Hinrichs: ein hochgewachsener dürrer Mann, magerer Nacken, dünnes Haar und rissige Hände. Er trägt eine alte Lederjoppe und Baumwollhosen. Was zählt, sind die inneren Werte, sagt Peter Kreft. Wir sind hilfsbereit, lassen uns nicht biegen, echte Kerle eben. Er grinst, legt den ersten Gang ein, fährt los:

"Das ist ein unbequemes Auto, so was würde ich mir im Leben nie kaufen. Ich hab in der letzten Arbeitswoche 117 Liter Sprit durchgeorgelt...das ist ja kaum zu erklären."

Der Mann im Strom nimmt immer die Straßenbahn zur Arbeit. Fährt jeden Morgen gemütlich Richtung Hafen und dann raus auf den Strom. Immer auf der Suche nach Munition. Peter Kreft legt mit der Benzinschleuder am Tag gern mal 200 Kilometer zurück. Flitzt kreuz und quer durch Hamburg – auch auf der Suche nach Munition. Jetzt drückt er das Gaspedal durch, nimmt Kurs Richtung Südost. Das Ziel: Ochsenwerder in Vierlande. Ein 200-Seelen-Dorf zwischen Elbe und Geestrand. Die Autofahrt geht durch Dörfer zwischen Deichen, vorbei an roten Backsteinhäusern und zahlreichen Tümpeln. Die Gewässer säumen heute Dämme - stumme Zeugen alter Brüche. Zeit hat Peter Kreft keine. In der Gose-Elbe, einem Seitenarm des Stroms, entdecken Taucher einer Privatfirma am Morgen ein munitionsähnliches Objekt.

"Suchen dürfen die", sagt Kreft, "aber heben nur wir."

Und blickt wieder konzentriert auf die Straße. Mit "wir" meint er seinen Kollegen Peter Bodes und die anderen Kampfmittelräumer der Hamburger Feuerwehr.

Bäuerliche Idylle. Alte Pappeln und Eichen stehen am Wegesrand. Kühe grasen am Deich. Schwalben segeln im Zick-Zack-Kurs Insekten hinterher. Das platte Land mitten in Hamburg. Die Gose-Elbe fließt träge vor sich hin. Was irritiert, sind die kleinen roten Ballons, die auf der Wasseroberfläche hin und her schaukeln.

"Darunter liegt möglicherweise Munition aus alten Zeiten",

erklärt Peter Kreft. Sein Blick geht zum Bergungsschiff. Ein schwarzer flacher Rumpf, 20 Meter lang, vier Meter breit. Achtern steht das weiß angestrichene Steuerhaus. Dahinter ein schmaler Mast mit einer blau-weißen Fahne. Taucherflagge Alpha. Ist sie gehisst, weiß jeder Kapitän: Vorsicht, Taucher im Wasser.

An Deck begrüßt Peter Kreft einen schlaksigen Mann, knapp zwei Meter groß. Frank Braun gleicht dem Hünen im Buch aufs Haar. Der junge Taucher legt dem alten Taucher Hinrichs immer den kupfernen Helm an, überprüft den Luftschlauch, ist sein Aufpasser auf Deck.

"Det mach ick quasi ooch",

sagt Frank Braun im breiten Brandenburger Dialekt. "Langer" nennt ihn Peter Kreft liebevoll.

Beide steigen die schmale Treppe hinunter in die Kajüte, ziehen ihre Köpfe ein. Es riecht muffig, nach feuchtem Tau und morschem Holz. Unten wartet Peter Bodes. Der Kollege von Peter Kreft bereitet sich auf den Tauchgang vor. Steht nackt bis auf die marineblaue Unterhose in der engen Kabine. An der Holzwand hängen zwei Taucheranzüge. Glatt, schwarz, glänzend, wie die Haut einer Seerobbe. Peter Bodes zieht einen hölzernen Stuhl heran, setzt sich. Schlägt das Buch auf und liest den Tauchern daraus vor. Die lauschen andächtig.

""Der Anzug hat nicht lange gelegen. Nein, sagt der Hüne. Ist mein Vorgänger weg? Er hat nicht aufgepasst. Er wurde bewusstlos nach einer Sprengung, und sein Kopf drückte das Helmventil auf. Er wollte die Sprengung unten abwarten, dabei ist es passiert. Er war zu alt. Hinrichs blickte auf den Taucheranzug, er hing glatt und grau an der Wand. Seine Hand fuhr prüfend über das derbe Gummi, fuhr hinauf bis zum Schulterstück, und der Hüne sah ihm nachdenklich zu. Und plötzlich sagte er: Er war der älteste Meister in der Firma, und du weißt, wie die Alten sind. Er hat sich zuviel zugetraut.""

Peter Bodes winkt ab, nein, so etwas würde ihm niemals passieren. Bei einer Sprengung im Wasser bleiben? Ungeheuerlich. Die anderen schütten entgeistert die Köpfe.

"Das waren halt noch andere Zeiten",

sagt Peter Kreft, rührt stoisch in seiner Kaffeetasse. Bomben bergen bleibt aber ein gefährliches Geschäft. Das wissen auch die beiden Kampfmittelräumer. Und Peter Bodes kommentiert trocken:

"TNT entwickelt eine Verbrennungsgeschwindigkeit von 6000 Metern pro Stunde."

Dann steht er auf, angelt sich ein blaues mannsgroßes Wollfließ mit ausgestülpten Armen und Beinen vom Haken. Peter Bodes schlüpft mit nackten Füßen voran in die Sommerhaut für Taucher. Die Gose-Elbe hat höchstens zehn Grad. Er zieht den Anzug über die Schultern, verzieht kurz das Gesicht zu einer Grimasse:

"Ist aber noch feucht von gestern vom Einsatz."

Dann nimmt er den rechten der zwei Taucheranzüge vom Haken. Stemmt zuerst das eine Bein mit aller Kraft ins rechte Beinloch, dann das andere in die linke Öffnung. Zieht das sperrige Material über den Körper und presst die Hände durch die schmalen Plastikmanschetten. Nach wenigen Minuten steht Peter Bodes schwarz und glänzend wie ein Seerobbe vor seinen Kollegen. An Deck weht eine leichte Brise. Die roten Ballons schaukeln noch immer im Wind auf der Wasseroberfläche. Signalmann Frank Braun, der Hüne, steht schon achtern, schirmt mit der rechten Hand die Sonne von den Augen ab. In der anderen Hand hält er Helm und Reserveluftgerät. 20 Kilo Taucherlast.

"Die Geräte wiegen heute viel weniger, aber das Prozedere ist immer noch dasselbe",

sagt Peter Bodes und schlägt das Buch noch einmal in der Mitte auf. Im Stehen liest er seinen Kollegen vor:

""Zum Schluss setzte ihm der Hüne den aus Kupfer getriebenen Helm auf, der Helm war herrlich und schwer und leuchtete in der Sonne; das Kopfstück wurde mit den Schulterstück verschraubt, die Bolzen wurden angezogen und die Fenster eingesetzt, und jetzt war er allein und stimmlos und getrennt von der Welt. Sein Gesicht sah ernst und gespannt aus.""

Signalmann Frank Braun stülpt anschließend Peter Bodes den gelb-schwarzen Helm über. Der ist aus glasfaserverstärktem Kunststoff. Die Luft strömt aus einem Schlauch über eine Maske aus Silikon. Peter Bodes schaut starr geradeaus. Atmet ruhig die gefilterte Atemluft ein und aus. Aus seinem Helm ragen drei Schläuche: Luft-, Telefon- und Lichtkabel. Peter Kreft:

"Der alte Helmtauchanzug, da haben sie sich reingesetzt. Da konnten sie sich austarieren, im Wasser stehen, wo sie wollten, wenn sie an der Spuntwand arbeiten mussten. Hier brauchen sie immer eine Leine, wo sie sich hinhängen müssen. Aber die jungen Leute schwärmen nun mal von der Technik."

Mit Argusaugen wacht Peter Kreft über jeden Handgriff, den der Signalmann ausführt.

"Unter Wasser kann man schlecht nachbessern",

sagt er und gibt schließlich seinem Kollegen einen liebevollen Klaps auf den Tauchhelm. Peter Bodes nickt, umfasst das Eisengeländer, steigt die Treppe hinab in das trübe Wasser der Gose-Elbe. In Sekundenschnelle zerfließen die Konturen des Tauchers in der braunen Brühe. Nichts mehr ist von Peter Bodes zu sehen. Einziges Lebenszeichen: die fußballgroßen Luftblasen, die in regelmäßigen Abständen auf der Wasseroberfläche zerplatzen. Peter Kreft schaut seinem Kollegen kurz hinterher, eilt dann ins Steuerhäuschen, dort steht das Funktelefon. Ein schwarzer quadratischer Kasten mit Mikro und Lautsprecher. Taucher und Telefonist halten ständig Kontakt. Vor 50 Jahren ist das genauso. Nur kommen die Signale über das Ziehen an der Leine:

"’Ich habe jetzt ungefähr 60/70 Zentimeter Wasser unterm Kiel.’ - ’Ja, verstanden.’ - ’Ich bin überrascht, hier ist relativ wenig Schlamm.’ – ’Wie weit ist deine Sicht, Peter?’ – ’Nachdem ich hier im Schlamm sitze, ist die Sicht vielleicht zehn Zentimeter, nicht mehr, aber es ist ziemlich hell und das erleichtert die Sache.’ - ’Gut so, hau rein!’ – ’So, ich bin jetzt am Objekt dran und da gucken wir mal, was das ist.’ - ’Verstanden.’ - ’Also, die Bedingungen für Untersuchungen sind relativ gut, aber das hier, das kann man liegenlassen, ist ein Schrottteil.’"

Auf Deck zieht Signalmann Frank Braun behutsam die drei Schläuche aus dem Wasser. Am anderen Ende taucht der Kopf von Peter Bodes auf. Er greift nach dem Eisengeländer, hievt den nassen glänzenden Körper hoch, lässt sich aufs Deck fallen. Das munitionsähnliche Objekt war ein alter Autoreifen, sagt Bodes, lächelt milde. Peter Bodes:

"Von Sicht kann man nicht reden, aber es ist nicht total dunkel. Man kann schemenhaft etwas erkennen. Nur tasten, da entwickelt man auch ein Gefühl."

Und sammelt Erfahrung. Junge Taucher, sagt der Kampfmittelräumer trocken, werden halt manchmal nervös. Identifizieren Ofenrohre oder eingebuddelte Badewannen als vermeintliche Blindgänger. Wenn sein Kollege Peter Kreft in drei Jahren in Rente geht, muss er sich nach einem neuen Partner umschauen.

"Das wird nicht leicht",

sagt Peter Bodes. Bückt sich, hebt das Buch vom Schiffsdeck auf und beginnt darin zu blättern.

"Na ja, das beste Alter für einen Taucher, das kann ich gar nicht nennen. Sicherlich wäre es schön, wenn es jugendliche Taucher gäbe mit 50-jähriger Erfahrung. Das wäre sicherlich das Beste. Aber mit 50 Jahren zählt man eigentlich schon im Tauchbetrieb zu den älteren Semestern. Das ist so wie im Leben: Man hat natürlich die Erfahrung, man wünscht sich dann einen Körper, der noch fitter ist."

Der Taucher kämpft im Wasser gegen die Strömung, gegen die Dunkelheit, und gegen die Zeit, wenn wirklich eine Bombe auf Grund liegt. Peter Bodes geht in die Hocke, stemmt beide Hände in die Seiten, drückt den Rücken durch, bis die Wirbel knacken.

"Unsere Arbeit geht auf die Rückenmuskulatur",

sagt der 50-jährige seufzend. Dann findet er endlich die Stelle im Buch, nach der er sucht:

""Er hatte ein klopfendes Geräusch im Ohr, es war der Puls einer Kopfader, der klopfte und zählte, es wurde immer stärker und furchtbarer, und der Mann umklammerte die Signalleine. Er nahm einen zunehmenden Druck auf sein Trommelfell wahr, er machte Schluckbewegungen, sammelte Speichel auf seiner Zunge und schluckte ihn hinab, und als der Druck dauerte, presste er sein Gesicht gegen das Helmfenster und atmete heftig durch die Nase aus. Er tat es so lange, bis es in seinem Ohr deutlich knackte und das Trommelfell ein wenig entspannt war; das Klopfen wurde jetzt erträglicher.""

Peter Bodes schaut verstohlen auf seinen zehn Jahre älteren Kollegen. Die Taucher robben sich auf dem Grund langsam durch den Schlamm, ertasten immer im Liegen die Objekte. Das geht zwar auf die Gesundheit, sagt Bodes, aber so schlimm wie dem Mann im Strom geht es keinem von uns. Peter Bodes:

"Ich glaube nicht, ein Berufstaucher hat annähernd solche Probleme, den Druckausgleich herzustellen. Das ist ein automatischer Vorgang, der während des Tauchganges eigentlich ständig erfolgt. Und es scheint mir wohl, dass hier der Taucher gesundheitlich angeschlagen ist."

Gesundheitlich angeschlagen und zu alt für den Job. Peter Kreft hört erst still zu, dann platzt es aus ihm heraus:

"Das könnte auch auf mich passen",

sagt er und lächelt grimmig. Die Verfilmung mit Hans Albers gefällt ihm noch besser als das Buch.

"Ich kann nachvollziehen, dass der Alte sein Taucherbuch fälscht",

sagt Peter Kreft und schaut nachdenklich auf die glitzernde Wasseroberfläche. Den wirtschaftlichen Druck bekommt er zum Glück nie zu spüren. Aber über das Altwerden im Beruf, darüber macht er sich Gedanken. Schon seit graumer Zeit. Er weiß, irgendwann kommt der Abstieg nach dem Zenit:

"Das letzte Jahr, als die Taucherärztin mir Freude strahlend eröffnete: Herr Kreft, mit 60 hören wir auf zu tauchen, das war für mich ein Schock. Muss ich ganz ehrlich sagen, denn ich bin 1967 angefangen zu tauchen, da war ich noch nicht ganz 20 und seitdem bin ich unter Wasser. Man hat das Gefühl, da wird einem irgendwie die Lebensgrundlage entzogen. Und dann grübelt man doch schon und schläft zwei, drei Nächte nicht. Aber mittlerweile, wenn es denn so sein soll. Dann ist es halt so. Sie merken ja, der Körper lässt nach. Man merkt, wo die Schwächen anfangen, die Stärken schwinden und das ist ein Lebensprozess."

Aussichtspunkt Steinwerder am Alten Elbtunnel. Peter Kreft lehnt am Eisengeländer, schaut auf die Kräne von Blohm und Voss im Dock Elbe 17. Das Trockendock ist nach Kriegsende eines der größten in Europa. Es riecht nach Salz, Diesel und Moder. Gegenüber die Landungsbrücken. Dahinter der Michel. Die beiden Wahrzeichen sieht auch der alte Taucher Hinrichs, wenn er abends mit der Fähre übersetzt. Peter Kreft schnaubt, zum Glück musste der Mann im Strom dafür die ganzen Container nicht sehen. Der 60-jährige schaut ein wenig verdrießlich auf die Elbe. Kramt dann das Buch von Siegfried Lenz aus der Jackentasche, blättert nach den besseren Hafen-Zeiten:

""Über dem Strom lag leichter Nebel. Und es war windstill, und kein Geräusch drang von der Werft herüber. Nur das Nebelhorn eines aufkommenden Schiffes war zu hören, es lief den Strom hinauf, es näherte sich blind und langsam dem Hafen: auch während des Nebels floss Gewinn in die Stadt, glitt Umsatz und Reichtum stromaufwärts. Einst war der Gewinn in den Hafen gelangt, auf Koggen, Fregatten, Briggs und Korvetten, nun kam er mit Tankern herein, mit schnellen Frachtern und schneeweißen Fruchtdampfern. Die ganze Herrlichkeit der Welt ruhte in ihren erschreckend großen Bäuchen.""

Auf der Elbe fährt stromaufwärts ein Containerschiff. 165 Meter lang, 30 Meter breit. Auf dem Deck stapeln sich weiße, orangene, rote Container. Tief liegt das Schiff im Wasser, spaltete am Bug die glitzerne Oberfläche auseinander. Peter Kreft:

"Heute ja, da kommt ein Containerdampfer und bringt das, was zehn große Schiffe damals gebracht haben wie die Cap San Diego. So gesehen ist der Hafen von der Kleinschifffahrt tot."

Kreft dreht seinen Kopf nach rechts, die Insel nebenan soll bald frei geräumt werden. Die Unternehmen müssen den Containern weichen. Die Herrlichkeit der Welt ruht heute in rechteckigen Stahlbehältern.

"Wenn damit das Geld zu verdienen ist, nur ich habe immer die Befürchtung im Hinterkopf, dass sind sehr kurzlebige Aktivitäten, aber da ist wahrscheinlich der Lauf der Zeit, des Jahrhunderts, dass alles schneller wird und alles schneller zu Ende ist."

Zehn Minuten später sitzt Peter Kreft wieder in seinem knallroten Gefährt. Dann kommt der Anruf, der 60-jährige zuckt zusammen: Bombenalarm. Kreft presst das Ohr an die Handy-Muschel, kann es nicht glauben. Wieder meldet das Team aus Ochsenwerder einen Fund. Diesmal ist sich Signalmann Frank Braun sicher: kein Reifen, kein Ofenrohr, nein, eine Bombe. Peter Kreft drückt aufs Gaspedal, kurvt mit 80 Kilometern pro Stunde über die Straßen Richtung Südost. Alleine auf Hamburg warfen die Alliierten im Zweiten Weltkrieg über 100.000 Bomben ab.

"Gut möglich, dass das eine davon ist",

sagt Kreft. In 20 Minuten erreicht er Hamburg-Ochsenwerder. Schweiß steht auf seiner Stirn.

"Ist nur die Hitze", sagt er. "Innerlich bin ich ganz cool. Ist ja nicht mein erstes Bömbchen."

Wie viele denn in seinem 40-jährigen Taucherleben? Die Frage beantwortet er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Mit Statistiken halten sich Minentaucher nicht gerne auf.

Fünf Minuten später trifft Peter Bodes ein, dann drei Streifenwagen. 15 Männer stehen schließlich am Ufer, starren auf den einen roten Ballon, unter dem die Bombe liegt. Die beiden Minentaucher hören sich in aller Ruhe an, was der Signalmann erzählt. Frank Braun breitet die Arme auseinander.

"Keine kleine Bombe", sagt Peter Bodes. "Bestimmt 500 lbs. schwer."

Umgerechnet sind das knapp 250 Kilogramm.

"’Wir haben folgende Lage: Wir haben jetzt vermutlich einen Bombenblindgänger. Da das Objekt versucht, abzurutschen, bringen wir jetzt noch einen Strupp dran, dann gehe ich rüber, tauche und sagen Ihnen, was es ist und was für weitere Maßnahmen wir treffen müssen. Ja?’ - ’Ja.’"

Die Polizisten nicken geduldig. Peter Bodes und sein Kollege Peter Kreft steigen ins Beiboot, setzen mit Signalmann Frank Braun über zum Bergungsschiff. Alle anderen müssen aus Sicherheitsgründen am Ufer zurückbleiben. In der Kajüte legt der Taucher Wollflies und Taucheranzug an. Auf Deck schnallt ihm der Signalmann die Reserveluftflaschen auf den Rücken. Fünf Minuten dauert die Prozedur, bis alle Kabel richtig liegen. Bevor sich Peter Kreft den Taucherhelm anlegen lässt, hält er noch einmal kurz inne. Vor seinen Füßen liegt der Mann im Strom. Er hebt das Buch auf, blättert ein paar Seiten um.

""Dann tauchte er in das Luk ein. Langsam ließ er sich hinab auf den Boden des vorderen Luks, schritt es aus, fühlte und spürte, und seine linke Hand glitt unentwegt über die Ladung, die linke Hand machte ihn sehend: er sah, obzwar er nichts sehen konnte, den grauen Berg von 15-cm-Granaten, liebevoll gestapelt, behutsam verteilt mit der unendlich gewissenhaften Sorgfalt, die man nur für 15-cm-Granaten aufbringt.""

Der Signalmann legt den Helm an, ein freundschaftlicher Klaps. Peter Kreft läuft ins Steuerhaus zum Funktelefon. Peter Bodes lässt sich langsam ins Wasser gleiten bis auf den Grund des Stroms.

Siegfried Lenz: Der Mann im Strom
Hoffmann und Campe, Sonderausgabe 2002