Der mächtigste Mediziner des Dritten Reichs

20.08.2009
"Ehrliche Euthanasie" nannte Karl Brandt die Bekämpfung von Krankheit durch Ausrottung der Kranken. Der Generalkommissar für das NS-Gesundheitswesen und langjährige Begleitarzt Hitlers stilisierte sich bis über sein Todesurteil im Nürnberger Ärzteprozess hinaus als verantwortungsbewusster Idealist.
Euthanasie als effektiven Weg zur Steigerung der Volksgesundheit begreifend, sorgte er sich ernstlich darum, dass die Opfer seiner Gesundheitspolitik im verordneten Gas rasch starben. Zugleich führte Brandt entsetzliche Hepatitis- und Kampfstoffexperimente an KZ-Häftlingen durch.

In Nürnberg zeigte er sich restlos uneinsichtig: "Ich bin ein Opfer." Der britische Historiker Ulf Schmidt stellt in "Hitlers Arzt Karl Brandt" eine schillernde, abstoßende, dabei relativ unbekannte Person aus Hitlers engstem Kreis vor. Ein starkes Buch – zugleich profunde Biografie, scharfsinnige NS-Herrschaftsanalyse und Ethikdrama.

Ulf Schmidt beginnt sein 750-Seiten-Werk mit dem Nürnberger Ärzteprozess 1946 und endet im Juni 1948 mit der Hinrichtung Karl Brandts, die vollzogen wurde, obwohl der Abgeurteilte mittlerweile viele Fürsprecher hatte – von Ernst von Weizsäcker bis Pastor von Bodelschwingh - mehr und prominentere, als die Opfer von Brandts Euthanasiepolitik je gehabt hatten.

Wie der ehrgeizige, aber keineswegs überbegabte Junge aus konservativem Beamtenmilieu zum mächtigsten Mediziner des Dritten Reichs werden konnte und sich später seinem Prozess nicht durch Selbstmord entzog – das ist der eine rote Faden, den Schmidt im Mittelteil gründlich verfolgt.

Andererseits geht "Hitlers Arzt" weit über Brandts Lebensgeschichte hinaus: Schmidt untersucht das gesamte NS-Gesundheitswesen. Er vermittelt die geistige Atmosphäre, in der Mediziner das Inhumane im Dienst der Rassenhygiene etablierten und Mord etwa im Rahmen des Euthanasieprogramms T4 zur (pseudo-)medizinischen Methode wurde.

Besonderes Augenmerk legt Schmidt auf die diffuse "Kultur der distanzierten Kommunikation" im Nationalsozialismus, die Hitlers Vollstrecker dazu anregte, dem "Führer entgegenzuarbeiten" (Ian Kershaw) und sich dabei immer weiter zu radikalisieren – eine überzeugende Erklärung für die innere Gleichschaltung großer Bevölkerungsteile. Der Nürnberger Prozess wird bei Schmidt zum atemberaubenden Wettkampf der Werte und Ideale - jetzt um Leben und Tod der Angeklagten.

Ulf Schmidts Buch hat einige Längen, es ist nicht frei von Phrasen, manche Abschweifung führt zu weit. Doch das sind letztlich geringe Makel. Schmidt gelingt ein umfassendes, überzeugendes Charakterbild Karl Brandts, der seinerseits typische Züge vieler brauner "Idealisten" und Karrieristen hat, die blutigste Verbrechen durch angeblich edle Motive erklärt und entschuldigt sahen.

Ohne moralischer Hetzer zu sein, zeigt Schmidt den verurteilten Brandt schließlich als irrwitzig argumentierenden, bockig-beleidigten Besserwisser, der dem Nazismus pathetisch die Treue hält. Man findet den zunehmend selbstherrlichen Mediziner mit dem Tod keineswegs zu schwer bestraft – und spürt dennoch, dass die eugenischen Verführungen, denen Brandt bereitwillig erlag, nichts Läppisches waren und mit dem Nationalsozialismus nicht verschwunden sind.

Besprochen von Arno Orzessek

Ulf Schmidt: Hitlers Arzt Karl Brandt. Medizin und Macht im Dritten Reich
Aus dem Englischen von Helmut Ettinger, Katia Mai und Carina Tessari
Aufbau Verlag, Berlin 2009
750 Seiten, 29,95 Euro