Der Lyriker Walt Whitman

Wegbereiter der Beat-Bewegung

28:48 Minuten
Ein coloriertes Porträt des Dichters Walt Whitman. Er sitzt mit einem Hut mit breiter Krempe auf einen Stuhl und schaut in die Kamera. Seine Hände sind in den Manteltaschen.
Vom Selbst, das im Kollektiv aufgeht: Der Lyriker Walt Whitman setzte sich unter anderem mit der Gesellschaft der USA auseinander. © Imago / Stocktrek Images
Von Michael Reitz · 31.05.2019
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Er gehört zu den wichtigsten Dichtern der USA: Walt Whitman - am 31. Mai 1819 geboren - verwarf die alte Reimform, sprengte formale und inhaltliche Grenzen und predigte Solidarität und Mitmenschlichkeit. Bis heute inspiriert er Lyrikerinnen und Lyriker.
"Ich feiere mich selbst und singe mich selbst,
Und was ich mir anmaße, sollst du dir anmaßen,
Denn jedes Atom, das mir gehört, gehört genauso gut dir."
(Walt Whitman)
"Ich stelle mir Whitman immer als einen glücklichen Vulkan vor, der glaubt, den Song Amerikas, den Sound Amerikas gefunden zu haben", sagt der Lyriker Mathias Göritz.
"Ich schlendere und lade meine Seele ein,
Ich bücke mich, schlendere behaglich und betrachte einen Halm
des Sommergrases."
(Walt Whitman)

Walt Whitman als Inspiration für Protestsänger

"Leaves of Grass", zu Deutsch "Grashalme" oder "Grasblätter", ist das berühmteste Buch Walt Whitmans. Die erste Fassung erschien 1855.
Der Dichter sprengte formal und inhaltlich Grenzen und beeinflusste damit nicht nur spätere Lyrikerinnen und Lyriker, sondern auch viele Musiker wie beispielsweise Woody Guthrie, der 1940 den Folksong "This land is your land" schrieb.
"Ich glaube, dass die ganze Beat-Bewegung ohne Walt Whitman gar nicht hätte starten können und sicherlich auch die amerikanischen Protestsänger, die Blue-Grass-Bewegung, die Countrymusik."
In Guthries Song wird dem einfachen US-Bürger vermittelt, wie stolz er auf sein Land sein kann. Aber nicht wie ein fanatischer Nationalist, sondern eher wie jemand, der sich als Teil eines großen Ganzen versteht – so wie die Halme einer Wiese.
Das Kuriose an dem Werk "Leaves of Grass": Whitman veröffentlichte zunächst nur ein schmales Bändchen. In den folgenden Jahrzehnten schrieb er zahlreiche Erweiterungen, so dass es bis zu seinem Tod auf mehrere hundert Seiten anschwoll. Es ist auch eine Ansammlung von alltäglichen Protokollen eines wachen Beobachters.
"Das ist das, wozu Lyrik gut ist, dass wir das, was wir alltäglich kennen, plötzlich in einer neuen Perspektive wahrnehmen", so der Leipziger Lyriker Jan Röhnert.

Auch im 21. Jahrhundert ist Whitman aktuell

Zeitgenössische Lyriker berufen sich auf ihn. Literaturwissenschaftler sehen in ihm einen der wichtigsten Autoren der Moderne. Walter Grünzweig ist Whitman-Experte und Professor für amerikanische Literatur und Kultur:
"Ich arbeite gerade an der Übersetzung der Erstausgabe von 'Leaves of Grass' 1855, die erste Übersetzung übrigens, und ich merke, er hat, glaube ich, tatsächlich sich selber gesehen als jemand, der Amerika buchstäblich repräsentiert, auch mit seinem Körper."
Whitman brach schon in seinen ersten Gedichten mit der bis dahin meist üblichen Form des Reims. Für den Berliner Lyriker Tom Schulz ist das nachvollziehbar:
"Ich glaube, dass es sicherlich auch damit zu tun hat, mit einer Form, die viele Jahrhunderte sehr präsent war, also eine lyrische Strophenform, dass die irgendwann überkommen ist, dass man einfach spürt, man muss ästhetisch was anderes machen."

Grashalme als Gesang

Im ersten Gedicht der "Leaves of Grass" heißt es unter dem Titel "Das Selbst sing ich":
"Das Selbst singe ich, die schlichte Einzelperson, (…) Physiologie vom Kopf bis zu den Zehen singe ich."
Diese wenigen Zeilen enthalten eine Programmatik: Die "Grashalme" oder "Grasblätter", wie sie in der aktuellen Übersetzung von Jürgen Brôcan heißen, sind ein Gesang. Warum das so zentral ist, erläutert Maximilian Mengeringhaus, Literaturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin:
"Gesang ist etwas Gemeinschaftliches. Man kann sagen, dass vielleicht der Roman im Gegensatz dazu, wenn wir das als Beispiel für Prosa nehmen, die vielleicht einsamste Literaturform ist, weil jeder sich mit dem Roman selber alleine an den Caféhaustisch setzt oder auf seine Couch legt. Der Gesang wird laut vorgetragen, er funktioniert tatsächlich nur in Gemeinschaft von Menschen."

Vor Lebenslust überquellender Tatmensch

In den "Leaves Of Grass" spricht ein vor Lebenslust überquellender Tatmensch, der im Gegenüber keine Bedrohung, sondern eine Erweiterung seiner eigenen Persönlichkeit sieht, so Matthias Göritz:
"Die Essenz ist aber tatsächlich die, jedem Amerikaner eine Stimme zu schenken, jedem ein Lied zu widmen, was nicht nur in der romantischen Tradition das Eine findet, sondern in der Vielheit tatsächlich auch existieren lernt und das auch akzeptiert und das eben nicht nur akzeptiert, sondern das wirklich feiert als das singuläre Ereignis – dieser Grashalm, dieses einzelne Leben ist das, was wir haben."
Damit wird Walt Whitman zu einem Dichter der gesellschaftlichen Diversität, der Gleichberechtigung aller Lebensstile und der Geschlechter, erläutert Tom Schulz:
"Er spricht sich für eine Vielfältigkeit aus, also auch für eine Vielfältigkeit der Lebensformen. Und dass auch – so würde ich ihn verstehen –, dass eine Ameise oder eine Biene genauso ein wertvolles Lebewesen ist wie der Mensch."

Ein geradezu revolutionärer Dichter

Doch in Whitmans Langgedicht finden sich nicht nur Überschwang, Optimismus oder kritikloser Fortschrittsglaube. Es geht auch um die dunklen Seiten einer damals schon globalen Entwicklung, in der Mensch selbst zum auszubeutenden Rohstoff wird.
In manchen Passagen wird Whitman zu einem geradezu revolutionären Dichter. Nichts von dem, was zum Leben gehört, wird ausgespart, auch wenn es schmutzig, armselig und abgerissen ist.
Was Walt Whitman für heutige Dichter nach wie vor interessant macht, sei die Übereinstimmung von Form und Inhalt, so Tom Schulz:
"Wenn man über die Grashalme spricht: Das sind Gedichte, die zwischen dem Gedicht und der Prosa stehen. Wenn man das Buch aufschlägt, wird man nicht sagen, oh, das sind ja aber schöne in Strophen geschriebene Gedichte."
Denn Whitman hält sich nicht an Normen wie Metrik oder Gleichlaut. Er ist ein Prosaschriftsteller, der in Gedichten erzählt.
Mit seiner Flexibilität stieß Walt Whitman eine Tür auf, die später für eine einflussreiche lyrische Richtung wichtig werden sollte, so der Literaturwissenschaftler Walter Grünzweig:
"Meiner Ansicht nach ist der Expressionismus nicht ohne Whitman zu denken. Ich bin in vielen Fällen darauf gekommen, dass Whitman bei fast allen expressionistischen Autoren eine zentrale Rolle spielt. Und vielleicht ist das auch ein notwendiger Prozess und auch eine Voraussetzung dafür, ein erfolgreicher Lyriker zu werden, Whitman zu rezipieren und dann das zu bewältigen und seine eigene Stimme zu finden."

Die beiden Pole der amerikanischen Poesie

Walt Whitmans Werk entstand in einer Zeit, in der die Beschreibung der Welt immer schwieriger wurde. Mit herkömmlichen literarischen Mitteln, so seine Auffassung, war ihr nicht mehr beizukommen. Kein metrisches Maß, keine Reimformation schienen geeignet, die Wirklichkeit adäquat wiederzugeben. Und das gilt heute mehr denn je.
Für den Lyriker Matthias Göritz wird er auch deshalb zum Prototyp des urbanen Dichters, weil er sich keinen Illusionen mehr hingibt.
"Ich bin jetzt in den letzten Jahren immer wieder zu Whitman zurückgekommen. Für mich ist Walt Whitman der größte amerikanische Dichter des 19. Jahrhunderts, zusammen mit Emily Dickinson. Das sind die beiden Pole der amerikanischen Poesie."

"Wir bräuchten ein globalisiertes Whitman-Gedicht"

Was kann uns Walt Whitman heute noch bedeuten oder sagen? An der Schwelle zur Hypermoderne und der zunehmenden Vereinzelung der Menschen war er jemand, der immer die Solidarität und das Mitmenschliche geradezu predigte. Der den Alltag nicht als öde und bedrohend empfand, sondern als Inspirationsquelle.
Walt Whitman ist ein Poet des Allumfassenden mit Blick auf die gesamte Gesellschaft und auf die Welt. Für den Dichter Matthias Göritz ist Walt Whitman jemand, der Widersprüche zur Sprache brachte, die auch heute noch aktuell sind: "Heute bräuchten wir eigentlich ein globalisiertes Whitman-Gedicht. Wir bräuchten Leaves of Grass für alle."

Autor: Michael Reitz
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Martin Eichberg
Redaktion: Dorothea Westphal

Manuskript zur Sendung als PDF-Dokument und als barrierefreies Text-Dokument
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