Der Luxus, keine Bestseller produzieren zu müssen

Von Sigrid Brinkmann · 02.05.2011
Meir Shalev kommt aus einer Familie von, wie er sagt, sozialistischen "Landsoldaten" und vergeistigten Städtern. Er verdient sein Geld als Zeitungskolumnist und gewinnt dadurch Unabhängigkeit. Heute beginnt Meir Shalev eine Lesereise durch Deutschland.
Ein Vormittag im Zentrum von Jerusalem. Ich treffe Meir Shalev in der schmalen Rabbi-Kook-Straße, wo das Verlagshaus der Tageszeitung Yediot Achronoth steht. Im sechsten Stock hat Meir ein kleines Büro. Sein leuchtend blaues Mountainbike lehnt an der Wand, gleich neben einem Plakat mit Abbildungen von mindestens 50 Kuharten. Er trägt ein ausgewaschenes Sweatshirt, eine Outdoor-Hose und Schuhe, mit denen man über lehmige Felder laufen kann. Die kleine Nickelbrille ist neu und das dunkelrote Gestell ein schöner Farbtupfer im asketischen Gesicht des 62-Jährigen.

Meir Shalev: "Ich träume davon, Jerusalem endgültig zu verlassen. Ein Bein in Tel Aviv zu haben und eins im Dorf in der Jesre’el-Ebene, das wär's, aber meine Frau, die in Tel Aviv geboren wurde, macht da nicht mit. Sie lebt lieber hier."

Wenigstens die Tochter, die als Designerin in Tel Aviv lebt, wird regelmäßig besucht. Und außerdem hat sie gerade ein Kind geboren, das die Großeltern natürlich sehen wollen. Meir Shalev schreibt jeden Mittwoch eine Kolumne für die Yediot Achronoth.

Meir Shalev: "Manchmal ist dieser regelmäßige Termin schon ziemlich lästig, aber ich möchte mich auch einbringen und zeigen, dass mich das Leben in diesem Land etwas angeht. Außerdem lässt mir mein Verleger völlige Themenfreiheit. Ich kann über die gerade keimenden Pflanzen in meinem Garten schreiben, genauso wie über die jüngsten Verhandlungen mit den Palästinensern. Ich möchte nie von meiner Literatur leben müssen. Auf diese Weise verdiene ich mir den Luxus, keine Bestseller produzieren zu müssen."

Natürlich ist dies ein Understatement, denn Meirs Bücher erzielen hohe Auflagen und werden in über 20 Sprachen übersetzt. Viele seiner Figuren sind das, was man Originale nennt. Seine russischen Großeltern, die eine der ältesten israelischen Landarbeitersiedlungen, den Moschav Nahalal, mit begründeten, auch seine Onkel und Tanten hatten allesamt einen Spleen. In seinem jüngsten Roman "Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger" erzählt Meir vom lebenslangen, aussichtslosen Kampf seiner Oma mit dem Staub. Jeden Tag drang er aufs Neue durch alle Ritzen des Hauses. Die zionistischen Pioniere in Nahalal verstanden ihren Eigensinn nicht. Meir hingegen schon. Etwas mehr als zwei Jahre lebte er als Kind mit seinen Eltern in Nahalal.

"Ich war klein, nicht wie ein Ochse gebaut, dazu ein Brillenträger, und ich steckte meine Nase lieber in Bücher als dass ich aufs Feld ging. Die Leute haben mich schräg angeguckt, und vielleicht fühlte ich mich deshalb stärker zu meiner Großmutter hingezogen."

Meir Shalev hat die Landarbeit lieben gelernt. Er ist mit Pflanzen ebenso vertraut wie mit Insekten. Er erkennt Wanzen, die sich in Silberimmortellen- Stauden als trockene Blätter tarnen und Heuschrecken, die sich starr wie ein Stein neben trockenen Zweigen unsichtbar machen. Die Gesellschaft der Insektenforscher hat ihm längst einen Preis verliehen.

Im Alter von 50 Jahren hat Meir Shalev sich schließlich ein kleines Haus gekauft, nur fünf Kilometer entfernt von Nahalal:

"Es ist das erst Mal seit meiner Kindheit – und ich habe an vielen verschiedenen Orten gelebt -, dass ich spüre, ein echtes Zuhause zu haben. In meinem Garten wachsen Blumen, die sonst nur wild vorkommen. Ich sammle die Samen bei meinen Wanderungen, lasse sie keimen und pflanze sie dann aus. Jetzt steht die Blütezeit bevor, und dass ich ausgerechnet jetzt zu einer Reise nach Amerika aufbrechen muss, das macht mich echt wütend."

Heimatverbundenheit ist in Israel nichts Untypisches. Über seinem mit Zeitungen überladenen Schreibtisch hängen eine Luftaufnahme des Moschavs Nahalal und ein großes Foto, auf dem man einen Mann und ein Kind ausgelassen über einen grünen Hügel rennen sieht:

"Das bin ich mit meinem Sohn in der Judäischen Wüste. In jenem Winter hatte es stark geregnet, und überall spross Gras. Wir mussten uns das einfach ansehen. Mit uns im Jeep fuhr ein ziemlich bekannter deutscher Lyriker, dessen Namen ich jetzt nicht verrate. Ich sagte zu ihm: Du siehst hier ein echtes Wunder. Dass die Wüste so grün ist, kommt einmal in hundert Jahren vor. Er schaute ein wenig gelangweilt und meinte dann: 'Sieht aus wie in Bayern.' (Lachen) In unserer Familie ist das eine feste Redewendung geworden. Wann immer einer sagt: Oh, guck doch mal, wie schön das ist, gibt es einen, der antwortet: Ja, genauso wie in Bayern."

Service:
In München beginnt Meir Shalev am 2. Mai seine Lesereise. Am 3. Mai liest er in Heidelberg, tags darauf in Wiesbaden. Am 5. Mai kommt Shalev nach Berlin, am 6. Mai tritt er in Münster auf. Sein neues Buch heißt "Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger". Es ist wie alle anderen Bücher von ihm im Diogenes Verlag erschienen.
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