Der liberale Irrtum
"Wir sind äußerst entspannt, wenn manche Leute stinkreich werden." Mit diesen Worten brachte Peter Mandelson, einst britischer Wirtschaftsminister unter Tony Blair, einen weit über Großbritannien hinausreichenden Konsens zum Ausdruck.
Zunehmende Ungleichheit der Einkommen war in Ordnung, solange sie durch den "Trickle Down"-Effekt auch zu besseren Lebensaussichten der Ärmeren führt.
Die Wall-Street-Variante dieser Haltung – "Gier ist gut!" – legitimierte jene Exzesse, die zur Entstehung der Finanzkrise beigetragen haben. Als Konsequenz stellt sich nun die Frage, ob zusätzlich zur besseren Finanzmarktregulierung nicht eine weiter reichende ökonomische Neuausrichtung notwendig ist – konkret, ob das Ideal der sozialen Gleichheit wieder eine größere Rolle in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik spielen sollte.
Als Schrittmacher der Debatte fungieren vor allem zwei aktuelle Bücher: Einerseits "Fault Lines" des aus Indien stammenden US-Ökonomen Raghuram Rajan, andererseits "The Spirit Level" der beiden britischen Epidemiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett.
Rajan, Finanzprofessor an der Universität Chicago und früherer Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds, vertritt in "Fault Lines" die These, dass die Finanzkrise aus der zunehmenden Einkommensungleichheit in den USA resultiert. Den international weitaus intensiver diskutierten Beitrag haben Wilkinson und Pickett mit ihrem Buch "The Spirit Level" geleistet, auf Deutsch: "Die Wasserwaage". Seine Kernaussage, die sich auf reiche Demokratien, aber nicht auf Entwicklungsländer bezieht, lautet: Für das Wohlergehen einer Gesellschaft ist nicht die Höhe des Pro-Kopf-Einkommens entscheidend, sondern das Ausmaß der sozialen Ungleichheit.
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass menschliches Denken und Streben nicht länger um individuellen Wohlstand kreist, sobald die Existenz gesichert ist, sondern um die Frage "Wo stehe ich im Verhältnis zu anderen?" Betroffen seien keineswegs nur die unteren Schichten. Das Ringen um sozialen Status setze auch die Mittel- und Oberschicht unter Druck. Diese Erklärung klingt plausibel – aber sie bleibt eine These. Dennoch leiten Wilkinson und Pickett daraus ab, dass die Politik sich künftig darauf konzentrieren sollte, Ungleichheit zu verringern. Dabei sei es letztlich egal, wie mehr Gleichheit erreicht werde.
Dieser Schlussfolgerung muss jedoch widersprochen werden. Es stimmt zwar, dass mehr Gleichheit auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden kann – aber die Wege sind nicht alle gleich gut. So konkurriert, weil man jeden Euro nur einmal ausgeben kann, konventionelle Umverteilung mit Maßnahmen zur Stärkung der Chancengleichheit.
Dabei muss einerseits der Zusammenhang zwischen materieller Ungleichheit und sozialer Mobilität berücksichtigt werden: Ist die materielle Ungleichheit zu groß, dann wird das Ideal der sozialen Chancengleichheit ein frommer Wunsch bleiben. Sind die materiellen Grundlagen für individuelle Aufstiegschancen jedoch grundsätzlich vorhanden, dann sind öffentliche Infrastruktur, richtige Anreize und gezielte Förderung wichtiger als mehr Umverteilung.
Die Politik steht andererseits vor einer Abwägung: Investiert sie in die Bildung, die individuellen Fähigkeiten der Benachteiligten kann sie die Einkommensungleichheit stärker reduzieren als durch eine passive Umverteilung der Einkommen – es dauert aber länger, bis die Maßnahmen wirken.
Für Deutschland, das bei der Ungleichheit im Mittelfeld der reichen Demokratien liegt, ist der langfristig wirkungsvollere Weg die richtige Wahl. Wir brauchen nicht mehr Umverteilung, sondern eine nationale Strategie der Chancengerechtigkeit. Um sie zu finanzieren, insbesondere höhere Bildungsinvestitionen für Kleinkinder und Grundschüler, sollten Subventionen gekürzt werden. Falls nötig, müssen auch sehr hohe Einkommen und Erbschaften stärker als bisher herangezogen werden.
Auf die Annahme des "Trickle Down"-Effekts, dass starke Einkommenszuwächse am oberen Ende automatisch durch die Gesellschaft sickern, also ein paar "Stinkreiche" allen zugutekommen, sollte sich die Politik besser nicht verlassen.
Nils aus dem Moore, Jahrgang 1977, ist Referent für wirtschaftspolitische Kommunikation und Wissenschaftler des Kompetenzbereichs Öffentliche Finanzen im Berliner Büro des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) sowie Senior Associate der Stiftung Neue Verantwortung (SNV) in Berlin. Zuvor leitete er zweieinhalb Jahre das Wirtschaftsressort bei Cicero, Magazin für politische Kultur. Er veröffentlicht regelmäßig Kommentare zu wirtschaftspolitischen Themen in Tageszeitungen und führt seit März 2010 die Kolumne "Die unsichtbare Hand" in Cicero. Herr aus dem Moore absolvierte ein Doppelstudium der Journalistik und der Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Dortmund, der Haute Ecole Galilée in Brüssel und der Freien Universität Berlin sowie ein Redaktionsvolontariat bei der Tageszeitung Die Welt.
Die Wall-Street-Variante dieser Haltung – "Gier ist gut!" – legitimierte jene Exzesse, die zur Entstehung der Finanzkrise beigetragen haben. Als Konsequenz stellt sich nun die Frage, ob zusätzlich zur besseren Finanzmarktregulierung nicht eine weiter reichende ökonomische Neuausrichtung notwendig ist – konkret, ob das Ideal der sozialen Gleichheit wieder eine größere Rolle in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik spielen sollte.
Als Schrittmacher der Debatte fungieren vor allem zwei aktuelle Bücher: Einerseits "Fault Lines" des aus Indien stammenden US-Ökonomen Raghuram Rajan, andererseits "The Spirit Level" der beiden britischen Epidemiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett.
Rajan, Finanzprofessor an der Universität Chicago und früherer Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds, vertritt in "Fault Lines" die These, dass die Finanzkrise aus der zunehmenden Einkommensungleichheit in den USA resultiert. Den international weitaus intensiver diskutierten Beitrag haben Wilkinson und Pickett mit ihrem Buch "The Spirit Level" geleistet, auf Deutsch: "Die Wasserwaage". Seine Kernaussage, die sich auf reiche Demokratien, aber nicht auf Entwicklungsländer bezieht, lautet: Für das Wohlergehen einer Gesellschaft ist nicht die Höhe des Pro-Kopf-Einkommens entscheidend, sondern das Ausmaß der sozialen Ungleichheit.
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass menschliches Denken und Streben nicht länger um individuellen Wohlstand kreist, sobald die Existenz gesichert ist, sondern um die Frage "Wo stehe ich im Verhältnis zu anderen?" Betroffen seien keineswegs nur die unteren Schichten. Das Ringen um sozialen Status setze auch die Mittel- und Oberschicht unter Druck. Diese Erklärung klingt plausibel – aber sie bleibt eine These. Dennoch leiten Wilkinson und Pickett daraus ab, dass die Politik sich künftig darauf konzentrieren sollte, Ungleichheit zu verringern. Dabei sei es letztlich egal, wie mehr Gleichheit erreicht werde.
Dieser Schlussfolgerung muss jedoch widersprochen werden. Es stimmt zwar, dass mehr Gleichheit auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden kann – aber die Wege sind nicht alle gleich gut. So konkurriert, weil man jeden Euro nur einmal ausgeben kann, konventionelle Umverteilung mit Maßnahmen zur Stärkung der Chancengleichheit.
Dabei muss einerseits der Zusammenhang zwischen materieller Ungleichheit und sozialer Mobilität berücksichtigt werden: Ist die materielle Ungleichheit zu groß, dann wird das Ideal der sozialen Chancengleichheit ein frommer Wunsch bleiben. Sind die materiellen Grundlagen für individuelle Aufstiegschancen jedoch grundsätzlich vorhanden, dann sind öffentliche Infrastruktur, richtige Anreize und gezielte Förderung wichtiger als mehr Umverteilung.
Die Politik steht andererseits vor einer Abwägung: Investiert sie in die Bildung, die individuellen Fähigkeiten der Benachteiligten kann sie die Einkommensungleichheit stärker reduzieren als durch eine passive Umverteilung der Einkommen – es dauert aber länger, bis die Maßnahmen wirken.
Für Deutschland, das bei der Ungleichheit im Mittelfeld der reichen Demokratien liegt, ist der langfristig wirkungsvollere Weg die richtige Wahl. Wir brauchen nicht mehr Umverteilung, sondern eine nationale Strategie der Chancengerechtigkeit. Um sie zu finanzieren, insbesondere höhere Bildungsinvestitionen für Kleinkinder und Grundschüler, sollten Subventionen gekürzt werden. Falls nötig, müssen auch sehr hohe Einkommen und Erbschaften stärker als bisher herangezogen werden.
Auf die Annahme des "Trickle Down"-Effekts, dass starke Einkommenszuwächse am oberen Ende automatisch durch die Gesellschaft sickern, also ein paar "Stinkreiche" allen zugutekommen, sollte sich die Politik besser nicht verlassen.
Nils aus dem Moore, Jahrgang 1977, ist Referent für wirtschaftspolitische Kommunikation und Wissenschaftler des Kompetenzbereichs Öffentliche Finanzen im Berliner Büro des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) sowie Senior Associate der Stiftung Neue Verantwortung (SNV) in Berlin. Zuvor leitete er zweieinhalb Jahre das Wirtschaftsressort bei Cicero, Magazin für politische Kultur. Er veröffentlicht regelmäßig Kommentare zu wirtschaftspolitischen Themen in Tageszeitungen und führt seit März 2010 die Kolumne "Die unsichtbare Hand" in Cicero. Herr aus dem Moore absolvierte ein Doppelstudium der Journalistik und der Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Dortmund, der Haute Ecole Galilée in Brüssel und der Freien Universität Berlin sowie ein Redaktionsvolontariat bei der Tageszeitung Die Welt.

Nils aus dem Moore© Nils aus dem Moore