Der letzte Zirkusdirektor der DDR

Von Tina Hüttl und Wibke Bergemann · 15.11.2009
Der SED-Staat hat es der Zirkusfamilie Probst nicht leicht gemacht. Zweimal wurden sie enteignet und Familienoberhaupt Rudolf Probst für mehrere Jahre ins Gefängnis gesperrt, um ihn zur Verstaatlichung zu zwingen. Doch Rudolf Probst baute den Zirkus immer wieder neu auf.
Unermüdlich tourte er durch die DDR und machte dem DDR-Staatszirkus Konkurrenz. Er trat mit den Löwen auf, seine Frau Monika turnte in der Manege und zwei seiner Kinder, Maike und Rüdiger, gewannen mit ihrer Haustierdressur sogar einen Preis in Monte Carlo. Das klassische Zirkus-Programm, bis heute.

Exotenprobe: "Livio, holt die Leute zusammen, dass wir anfangen können! Ich hab gesagt neun Uhr geht’s los, ihr wisst es. Holt die Tiere alle rein, kommt bitte, dass wir anfangen können!"

Rüdiger: "Es gibt einen guten Spruch: Die erste Generation baut es auf, die zweite erhält’s, und die dritte haut’s auf den Kopf. Und das ist fast die Wahrheit. Weil die erste Generation es so schwer hatte, die zweite Generation es gesehen hat und wusste, es ist soviel besser für uns und die dritte sagt sich: ist doch alles da, muss nichts mehr machen. Dann geht das schnell nach hinten."

In der Manege: "Uwe trink mal aus, dass wir die Tiere ..."

Das große Kunststück - Der letzte Zirkusdirektor aus der DDR

Rüdiger Probst gehört zur zweiten Generation der Zirkusfamilie Probst. Schon am frühen Morgen läuft er über den noch feuchten Rasen hinüber zum blau-weiß gestreiften Zelt, auf der großen Cocker-Wiese mitten in Dresden. Ihr Zirkus ist der einzige, der den Zusammenbruch der DDR überlebt Die Wolken hängen tief an diesem Tag. Dompteur Probst will mit der Probe beginnen.

"Lass mal die Hühnchen in Ruhe – Ich muss die Leute zusammenholen, dann können wir anfangen. Da muss man vorsichtig sein, die Elenantilopen, sind schreckhaft."

Antilopen, Hühner, dann Kamele und Lamas - noch läuft hinterm Zirkus-Zelt alles durcheinander. Probst ist angespannt, er wartet darauf, dass die Mitarbeiter endlich die Tiere hereinbringen.

"Ich hab soviel zu tun in nächster Zeit, ich hab fünf junge Tiger, mit denen ich trainieren muss, die ganzen jungen Büffel – und das zusammenzukriegen, braucht man Platz. Das ist im Winter schlecht möglich. Deswegen muss ich das im Sommer zusammensetzen. Das ist im Prinzip Darbietung fürs nächste Jahr."

Die Feiern zum 65-jährigen Jubiläum des Zirkus stehen an. 50 Jahre davon ist Rüdiger Probst schon dabei, so alt wird er dieses Jahr. Der kleine drahtige Mann mit dem schon fast kahlen Kopf ist im Zirkus geboren. Seit er neun ist, steht er in der Manege des einst größten Privatzirkus der DDR.

"Ich habe angefangen als Artist, als Kunstreiter, aber da das auch schon mit Tieren ist, mit Pferden, war das ein vorgezeichneter Weg. Das Interesse an Tieren habe ich schon immer gehabt."

Für das Festjahr will er eine neue Dressur-Nummer einüben: eine klassische Parade mit exotischen Tieren. Dafür müssen sich die grauen Antilopen im Reißverschlussverfahren hinter den braunen Kamelen, die gescheckten Lamas hinter den gestreiften Zebras einordnen. Das Ganze ergibt eine farbenprächtige Figur. Für die drei Minuten in der Manege, die das Publikum dann sieht, muss Rüdiger Probst mindestens ein halbes Jahr mit den Tieren arbeiten.

Training mit Antilopen:
"Radscha geht, Samu geht, Moritz komm, Moritz! Moritz, komm! Dodo und Dede. Aufpassen! Freundchen, aufhören. Komm mal her. Ihr sollt damit aufhören!"

Das ist nicht so einfach. Heute tanzt die junge Antilope Moritz immer wieder aus der Reihe.

"Die Arbeit mit verschiedenen Tieren macht ja Spaß. Und wenn man viele Arten dabei hat, muss man viel wissen. Man kann ein Kamel nicht dressieren wie einen Tiger, und eine Antilope nicht wie ein Pferd. Man muss die Eigenheiten studieren und demzufolge sich einen Gedanken machen, wie bringe ich denen das jetzt bei."

Wie viele Stunden täglich Rüdiger Probst schuftet, ist nicht zu zählen. Zwischen zehn und zwölf sind es sicherlich - vor allem seit sein Vater, der Zirkusgründer Rudolf Probst, sich vor einigen Jahren ganz aus dem Geschäft zurückzieht und es seinen Kindern übergibt. Immerhin: Die Last der Verantwortung, den Zirkus zu leiten, teilt sich Rüdiger Probst nun mit seiner Schwester Mercedes und seinem Schwager.

"Das ist ein mittelständisches Unternehmen mit 70 Angestellten. Das würde ich nicht gerade Familienbetrieb nennen, es wird von Familie Probst geleitet, ja. Ich steh ja hier drin, ich muss das schon selber machen. Die Vielseitigkeit ist nun mal leider nicht die, dass ich das übertragen könnte."

Rüdiger schimpft mit Mitarbeitern:
"Oh Mann, ich brauche Brot, dass sie sich an den Seiten ruhig stellen! Hopp, Radschan, Samu komm ... Brav fein und nachhause ab ..."

Das Licht in der Manege ist schummrig, noch sind die vielen Scheinwerfer aus. Er blickt auf die Zuschauerränge, die zu DDR-Zeiten immer ausverkauft sind. Heute kämpft er mit der Konkurrenz, vor allem aus dem Westen. Der Zirkusdompteur schimpft auf die Behörden, die mehr als 250 Zirkusunternehmen in Deutschland eine Zulassung erteilen.

Unterhaltung mit Rumänen:
"Was ist jetzt noch zu tun? Arbeiter: Na, meine Dach, bei meinem Wagen die Dach. Und die zwei vom Stall noch. Rüdiger: Na ja, macht ihr das heute fertig, oder was? Und dann seid ihr fertig."

Deutsche Mitarbeiter sind kaum noch bereit, die viele Arbeit und das fahrende Leben mitzumachen. Die wenigsten auf dem Platz sprechen mehr Deutsch als für die Verständigung bei den täglichen Aufgaben nötig ist. Die Akrobaten bei Probst kommen aus der Mongolei, die Köchin aus der Ukraine, und die Arbeiter vor allem aus Moldawien und Rumänien.

Rumänischer Arbeiter: "Und morgen ist Mittwoch. Muss alles vorbereitet für Abbau, alles drum und drann, weil Donnerstag ist Abbau. Gut, macht jetzt den Wagen fertig und dann. Ich bin auch gleich da."

Während der Probe gibt Rüdiger Probst seinen Mitarbeitern schon wieder Anweisungen für die Abfahrt am übernächsten Tag. Um genug Geld einzuspielen, muss der Zirkus rund 90 Städte im Jahr abklappern. Für die Zirkusleute bedeutet das, alle zwei bis drei Tage weiterzuziehen.

Nur zwei Stunden dauert es, das Zelt abzubauen, die über 100 Tiere zu verladen und die 70 Wagen und LKW fertig zu machen. Probst zeigt stolz auf das moderne Chapiteau über ihm, das er und seine Mitarbeiter in sechs Stunden wieder aufbauen können. Denn selbst an den Reisetagen ist abends eine Vorstellung. Und dann steht Rüdiger Probst mit seinen Tieren in der Manege.

" »Also, ich musste das schon immer alleine machen. Und warum sollte mein Vater was ändern. wenn er Sohn hat, der das alles kann? Warum soll er sich da Leute nehmen, und die dann noch bezahlen? So ist das halt im Zirkus." "
Nach der Probe treiben die rumänischen Stalljungen die Tiere aus dem Zirkuszelt. Auf dem Platz herrscht penible Ordnung. Es sieht aus wie in einem kleinen Dorf, in dessen Mitte das Zelt steht. Zu beiden Seiten sind die Wohnwagen schnurgerade aufgereiht, selbst der Abstand zwischen ihnen scheint wie mit einem Maßband vermessen.

Rüdiger Probst nimmt schwungvoll die drei Stufen und betritt einen der alten blau-weiß angepinselten Zirkuswagen: sein Büro. Der alte Anhänger aus Holz schaukelt leicht. Er ist 11 Meter lang - aber sehr eng. Die Sekretärin sitzt eingeklemmt zwischen Faxgerät und Computer.

Im abgetrennten Hinterzimmer gönnt Rüdiger Probst sich eine Zigarettenpause. Er hängt an den alten Wagen, nicht, weil sie bequem sind, sondern aus nostalgischen Gründen. Schon sein Vater ist in ihnen gereist, sagt er.

"Und zu DDR Zeiten, wie mein Vater das hingekriegt hat. Wir haben zum Beispiel Bauwagen als Wohnwagen für die Angestellten gehabt. Wir haben organisiert was möglich war, schön blau-weiß gestrichen und Probst-Schrift drauf. Das war zwar nur ein Bauwagen, aber es ging weiter."


Auf dem Beistelltisch liegt ein Stapel frisch gedruckter Programmhefte des Zirkus. Rüdiger Probst schlägt die erste Seite auf und zeigt ein Foto seines Vaters. Es sind die gleichen, stets etwas zusammengekniffenen Augen, wie er sie auch hat.

1945 - gleich nach dem Krieg gründet Senior Rudolf Probst den Zirkus und baut ihn zum größten Privatzirkus der DDR aus, erzählt sein Sohn. Sobald er vom Vater spricht, wird seine Stimme lauter, wie um dessen Bedeutung zu unterstreichen:

"Mein Vater war einfach clever, das war alles. Der hat sich Gedanken gemacht, wie kann ich Geld verdienen trotz dieses totalitären Regimes, wie kann ich selber meine Familie über Wasser halten, der wollte nichts geschenkt haben, weder Subventionen, noch was anderes."

Ein Privater im Sozialismus - der Staatsführung ist das nicht geheuer, hat sie doch seit 1960 nach und nach die drei großen Zirkusse Berolina, Aeros und Busch verstaatlicht.

"Und er war auch ein Feind des Regimes. Diese Bevormundung und so, das war ihm zuwider. Und solche Leute wollte man nicht haben."

Schon gar nicht, wenn sie Erfolg haben. In der DDR ist Probst beim Publikum äußerst beliebt und kann sich sogar mit dem Staatszirkus der DDR messen. Die Staatsführung reagiert auf ihre Weise.

Zweimal wird der Zirkusdirektor enteignet: 1953 und dann noch einmal 1973. Er verliert sein Geld, sein Zelt, die Tiere und sogar seine Freiheit.

"Die haben meinen Vater eingesperrt, weil sie ihn nicht ruhigstellen konnten. Der hat eben seine Meinung gesagt, da saß er schon im Knast."


Nach der zweiten Enteignung steht die Mutter allein da, ohne Geld und mit drei Kindern. Um den Lebensunterhalt zu verdienen, tingelt sie mit einer kleinen Ponydressur durch Polen. Rüdiger ist mit 14 Jahren der Älteste und muss mit auftreten – bis sein Vater nach zwei Jahren Gefängnis nachkommt.
"Das, was man ihm damals angetan hat, ungerechterweise, dass er ein harter Hund ist, - aber seelisch ist er da nie richtig drüber weggekommen. Und es war nicht, dass er gelitten hat, im Gegenteil, er wurde immer härter und schärfer. Und man muss schon sehen, solche Unikate wie meinen Vater gibt es heute nicht mehr."

"Stehaufmännchen" - so wird der Vater noch heute voller Bewunderung auf dem Platz genannt, auch wenn der alte Probst längst nicht mehr mit auf Tour geht. Als Sohn hat es Rüdiger Probst nicht immer leicht mit diesem strengen und herrischen Mann. Doch es ist der Respekt vor dem Lebenswerk seines Vaters, der Rüdiger Probst heute antreibt, weiterzumachen.

Ortswechsel: Rüdiger Probst überquert den Platz, hinter dem Zelt befinden sich die Stallungen der Tiere.

"Das sind die älteren Tiere, da sind noch drei jüngere dabei, das ist Tiger, Kira, Darwa. Artus, Reike und Rani ..."

Hier ist auch der drei Meter hohe Stahlkäfig, in dem sieben sibirische Tiger auf ihn warten.

"Mit denen trainiere ich jetzt. Ich brauche natürlich meine Mitarbeiter, um diese wahnsinnige Arbeit zu schaffen. Ohne gute wäre ich erschossen, ich würde das gar nicht packen …"
Wie schon sein Vater, der für ihn noch heute das größte Vorbild ist, steht Rüdiger Probst täglich alleine im Raubtierkäfig.

Tiger-Dressur:
"Assima komm her, gutes, feines Mädchen, Tigerin. Komm her... An Platz, so ist fein. Hopp, brav und komm her, brav fein ..."

Die Fläche ist gerade mal so groß wie drei Parkplätze. Die Tiger sitzen im Halbkreis vor dem Dompteur auf ihren Hockern. Auf sein Kommando sollen sie lernen, Männchen zu machen oder auf ein Podest zu springen.

In der Hand hält er zwei lange Spieße, mit denen er den Tigern immer wieder neue Fleischstücke entgegenstreckt. Die Dressur von Tieren funktioniert nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche. Hier mit seinen Tigern wird der sonst angespannte Rüdiger Probst mit einem Mal sehr ruhig und konzentriert.

"Es gibt Tiere, die eignen sich für diese Arbeit. Wie Menschen, der eine ja, der andere nicht. Aber ich bemühe mich, das Beste zu machen. Dann wird einer nicht große Star, dann macht er halt nur mit. Aber dass ich mich von ein Tier trenne, ne, wenn es gesund ist, dann krieg ich das immer irgendwie hin."

Für Rüdiger Probst sind die Tiere das Herz eines guten Zirkus. Er ist stolz auf die großzügigen Freigehege und die gute Pflege.
"Zu Glanzzeiten hatte mein Vater sieben Raubtiernummern, also Tiger, Löwe, reine Löwengruppe, jede Menge."

In der ganzen DDR ist Zirkus Probst für seine Raubtierdressuren bekannt – und deswegen kommen die Leute noch heute, wenn auch längst nicht mehr so zahlreich.

"Zu DDR-Zeiten waren die Menschen froh und glücklich, wenn der Zirkus kam. Wie sagte mein Vater? Zirkus soll eine Lust und kein Laster sein. Wie war es noch mal? Belustigung und keine Belästigung, so war es. Und wenn man 350 Zirkusse in Deutschland zulässt, wird Zirkus irgendwann zu einer Belästigung. Aber das habe ich ja nicht zu bestimmen."

Über die vielen kleinen Zirkusunternehmen aus dem Westen regt Rüdiger Probst sich auf. Sie machen ihm das Leben schwer, denn die wenigen Standorte in den Städten sind hart umkämpft. Auch deswegen ist Probst heute noch ein echter Ostzirkus.

"Wir sind ab und an in den alten Bundesländern, aber hauptsächlich hier. Wir waren in Wolfsburg, Gifford, Hamburg, manche Städte liefen gut. das hat auch mit der Bekanntheit zu tun. Aber welcher Zirkus ist denn noch im Westen bekannt außer Krone und Roncalli?"

Sein zweites Lieblingsthema, über das Rüdiger Probst gerne schimpft, sind die Tierschützer, die ein Verbot von wilden Tieren im Zirkus fordern. Doch einen Zirkus ohne seine Raubkatzen kann und will er sich nicht vorstellen. Auch wenn sie einer der teuersten Posten sind, und er mehr denn je rechnen muss.

"Die Zirkusse waren zu 85-90 Prozent ausverkauft, und dann kam der Knall. Ich bin froh, dass es zur Wende kam. Aber andererseits gab es dann den Kulturschock, dass du dann vor 120 Leuten gespielt hast. Und wir kannten das nicht und haben uns gefragt: Interessiert das den niemanden, was wir hier machen? Naja, ist so."

In der DDR zählt Zirkus zur Kultur. Zirkusartist ist damals ein angesehener künstlerischer Beruf, so wie Schauspieler. Im vereinten Deutschland gilt Zirkus als Gewerbe und wird als Unterhaltung angesehen. Eine Zirkuskultur gibt es hier nicht. Trotzdem: Probst macht weiter.

"Wir haben gar nichts verändert, eigentlich. Wir sind mit der Klasse, die wir haben, und dem Engagement einfach so weiter gefahren und haben unsere Dressuren neu aufgebaut. Und einfach das geboten, was das Publikum sehen wollte. Wir hatten auch das Glück, dass wir durch unsere Beziehungen zu den Ostblockstaaten so gute Artisten hier herbekommen haben. Die kannten die im Westen ja nicht, woher denn?"

Seit einigen Jahren läuft das Geschäft schleppend. Schuld ist nicht nur die zahlreiche Konkurrenz, sondern vor allem Kino, Fernsehen und Computer. Rüdiger Probst weiß: Um die Jüngeren für den Zirkus zu begeistern, haben alle Kinder und Jugendlichen in der Abendvorstellung freien Eintritt. Es hilft wenig. Die Umworbenen bleiben lieber zu Hause. Und das alte Stammpublikum stirbt langsam aus. Da helfen auch die besten Dressurnummern nicht, sagt Probst verärgert.

"Ich sag’ mal so, guter Zirkus ist, wenn ich nach zwei Stunden aufstehe und mir tut der Hintern nicht weh. Dann war man gut unterhalten. Wir haben nie behauptet, dass wir die Besten sind, aber dass wir gut sind, wissen wir."

Ein letzter Blick über die Stallungen, dann auf die Uhr: Er ist schon wieder zu spät zum Mittagessen.

"Manchmal ist es Lust, manchmal eine Last. Ich würde für meine Kinder wünschen, dass sie mehr vom Leben haben. Weil die Freizeit ist so gut wie gar nicht. Ich habe dreimal Urlaub gemacht in meinem Leben, da wusste ich auch nicht, was ich machen soll. Ne, ich bin da rumgetigert, wusste nicht, was ich da sollte."

"Nicht mit den Händen, Alexander. Was möchtest du denn trinken? Apfelsaft. Guten Appetit, lasst es euch schmecken."


Lebensgefährtin Christina und der sechsjährige Sohn Alexander sitzen schon am Tisch. Kochen, Essen, Schlafen – das Leben der Familie findet auf dreizehn Meter Länge statt. Travel Supreme President Suite, so heißt der Wohnwagen und so sieht er auch aus: Im Wohnzimmer-Eck steht eine hellbeige Kunstledercouch, auf der die kleine Tochter liegt und schläft. Davor ein Glastischchen mit glänzendem Messinggestell. An der Decke über dem Esstisch hängt der goldene Leuchter mit eingebautem Ventilator, darunter sitzt die Familie:

"Wir sehen uns früh, dann geht der Junge in die Schule bis um 12 Uhr. Dann sind wir zum Mittag noch mal kurz zusammen. Und dann geht das los. Jetzt ist 1,5 bis 2 Stunden Pause. Weil dann geht es ja bis Abends halb 10 wieder. Und dann geht meine Frau in den Imbiss und ich gehe zur Vorstellung und spät abends sieht man sich dann wieder."


Als Kind wird Rüdiger Probst zwischen den Vorstellungen von einem mitreisenden Lehrer unterrichtet. Er träumt davon, Tierarzt zu werden, doch seine Zeugnisse sind nicht gut genug. Sein Sohn Alexander soll es besser haben, findet auch die Mutter Christina.

"Alexander wird Jongleur, Alexander übt jetzt schon! Habe ich schon erzählt! Ich denke mal, das werden die Kinder selbst entscheiden später, ob das ein Leben für sie ist oder nicht. Ob sie das möchten, oder vielleicht doch etwas anderes. Jedenfalls würde ich ihnen alle beruflichen Chancen eröffnen, die es gibt."

Sein Sohn Alexander geht zwar jeden Tag zur Schule, allerdings immer da, wo der Zirkus gerade gastiert. Manchmal bedeutet das, dass der Erstklässler drei verschiedene Schulen in einer Woche besucht. Alexander ist ein aufgeweckter Junge, der von seinen Schwierigkeiten unbekümmert erzählt.

Alexander: "Das ist auch nicht schön, wenn man richtig gute Freunde hat, und dann muss man wieder wegfahren, das ist auch nicht so toll, da versuche ich auch mein Bestes, erst gar nicht Freunde zu kriegen. Dass ich dann nicht weinen muss, weil ich hatte schon eine Freundin und dann musste ich weg und habe die ganze Zeit geweint."

Nach dem Essen spielt Sohn Alexander draußen vor dem Wohnwagen. Noch ist der Zirkus für ihn ein großer Abenteuerspielplatz. Jetzt übt der Sechsjährige nach der Schule das Jonglieren mit Keulen und Reifen. Die Artisten zeigen ihm ein paar Tricks.

"Man muss sich hier genau so ein Auge zumachen und dann richtig gut zielen. Und dann das andere zumachen. Siehst Du, dann passiert so was. Na, toll! Du hast vergessen, das andere zu zumachen. Na, toll!"

Gelegentlich nimmt Rüdiger Probst seinen Sohn sogar schon mit in den Tigerkäfig.

Alexander: "Und einmal ist es mal passiert, dass der Tiger durch den Reifen gesprungen ist und hat mit dem Schwanz den ganzen Feuerreifen umgeschubst, aber Gott sei Dank sind das nur Lichter. Aber das hat fast meinen Papa getroffen."

Mittagsruhe. Niemand ist mehr zu sehen. Rüdiger Probst legt sich für eine halbe Stunde hin.
Es ist 15 Uhr: Einlass. Die ersten Zuschauer treffen im beheizbaren Vorzelt ein und werden von einem Clownpaar aus Russland begrüßt.
Begrüßung durch Clowns:
"Kommen sie bitte, bitteschön. Komm, komm, komm! Gut, dass du gekommen bist, haben ganzen Tag gewartet auf euch. Kommen Sie bitte! Zweimal haben wir angerufen ..."

Es sind Familien, vor allem Großeltern mit ihren Enkelkindern, und einige richtige Probst-Fans.

Groupies: "Ich kenne den Zirkus Probst schon seit 1955 und habe hier schon die Sitzbretter reingetragen als Kind für eine Freikarte. Das hat dann am Ende geklappt, das war eine feine Sache, ich gehe bis heute gerne in den Zirkus. Dieses Jahr waren wir dreimal in der Vorstellung, immer nur Probst, aber zusätzlich auch andere Zirkusse."

Für das Publikum ist Rüdiger Probst bis zu seinem Auftritt nicht mehr zu sehen. Er hat in den Ställen zu tun, wo er die Tiere für die Show vorbereitet.

Popcornstand: "Dino-Popkorn bitte, die grüne, ich hätte gerne ne Bockwurst. Die gibt es draußen.. Hallo, bitte? Einmal Zuckerwatte bitte, am Stock oder im Eimer. Nee, so großes gibt es nicht …"

Im Vorzelt steht seine Lebensgefährtin Christina in ihrem Imbisswagen und verkauft Popkorn und Zuckerwatte. Sein Sohn Alexander steckt im Glitzerfrack. Gemeinsam mit einigen Artisten jongliert er mit Keulen und verbreitet Zirkusstimmung.

Alexander beim Jonglieren: "Für mich sind die Keulen am allerschwierigsten, weil die so lang sind und dann muss man zuschnappen."

Drinnen im Zelt stimmt das siebenköpfige Zirkusorchester seine Instrumente. Von den über 1600 Plätzen in den Zuschauerrängen sind gerade mal 150 besetzt. Dann beginnt die Vorstellung.

Ansager: "Wir danken ihnen für die Aufmerksamkeit und wünschen Ihnen viel Vergnügen im Zirkus Probst …"

Zwei Stunden klassisches Zirkus-Programm: Die Akrobaten aus der Mongolei katapultieren sich gegenseitig mit einer großen Wippe durch die Luft ...
... und bauen sich zu einer fünf-Mann hohen Menschenpyramide auf.

Mercedes Probst, Rüdigers Schwester, zieht mit einer Schar von Zwergponys in die Manege ein. Die Glöckchen um den Hals der Tiere klingeln. Es staubt, wenn sie im Kreis laufen und über kleine Hindernisse springen.

Mercedes Probst ist es auch, die als Marktweib verkleidet drollige Kunststücke mit Ziegen, Wildschweinen und Hühnern vorführt. Ihre Tochter dagegen reitet mit vollem Tempo auf einem schwarzen Andalusier-Hengst ein, macht einen Galoppsprung und kommt kurz vor dem Publikum zum Stehen.

Hinter dem weinroten Samtvorhang wartet Rüdiger Probst auf seinen Auftritt mit den Tigern: den Höhepunkt der Show.

Rüdiger: "Hier ist wichtig, dass ich ein gutes, ausgewogenes Programm habe. Zirkus ist für Oma und Opa und für Vater und Mutter – es bedient alle durch die Bank. Ist für Familie gedacht."

Er trägt einen knall-blauen Hosenanzug. Strasssteine glitzern auf dem breiten, weißen Revers. Falls er aufgeregt ist, zeigt er es nicht. Hat er überhaupt Lust in die Manege zu gehen, wenn so wenig Publikum im Zelt sitzt?

Rüdiger: "Das spielt keine Rolle. Auch die wenigen Leute haben bezahlt. Die Motivation fällt natürlich schwerer, aber das muss sein, das ist wichtig."

Ansager: "Hier in der Manege die stolze Familie Probst! Rüdiger Probst und seine mächtigen sibirischen Tiger!"

Rüdiger Probst tritt durch den Vorhang in das grelle Licht der Scheinwerfer und hinein in den Tigerkäfig. Die Show muss weitergehen.