Der Lebensweg eines Malers

28.07.2010
In "Tintorettos Engel" nimmt Melania Mazzucco die private Seite des venezianischen Malers Jacopo Robusti, genannt Tintoretto, in den Blick. Behäbig und etwas umständlich entwirft sie die Geschichte seiner Kindheit und Jugend, berichtet von Zurückweisungen und Kränkungen, von Skandalen, Erfolgen und anderem.
Ein alter Mann liegt fiebernd in seiner Kammer und lässt 15 Tage lang sein Leben an sich vorüberziehen – am 16. Tag, dem 1. Juni 1594, stirbt er. Er heißt Jacopo Robusti, genannt Tintoretto, und zählt zu den bedeutendsten Malern Venedigs.

Dass er es zu Ruhm und Einfluss bringen würde, war vom Schicksal nicht vorgesehen: Sein Name galt als abschätzige Anspielung auf den Beruf seines Vaters, eines Färbers, sein Widersacher Tizian behinderte seinen Aufstieg, wo er nur konnte, und Tintoretto musste sich jahrelang als Madonnenmaler durchschlagen. Aber er war zäh, und er hatte eine Mission: die traditionellen Formen und Farbgebungen zu überwinden, die biblischen Stoffe auf ungewohnte Weise zu interpretieren und eine neue Dynamik in seine Bilder zu bringen.

15 Jahre lang hat die römische Schriftstellerin Melania Mazzucco, Jahrgang 1966, Verfasserin zahlreicher Romane und Wahlvenezianerin, mit Tintoretto zugebracht. Sie hat Venezianisch gelernt und Berge von historischen Dokumenten gesichtet, Briefe, Rechnungen, Aufträge und Schilderungen von Zeitgenossen konsultiert. Das Ergebnis sind gleich zwei Bücher. Auf Italienisch ist nicht nur der Roman "Tintorettos Engel" erschienen, der ein großer Erfolg war und sich 200.000 Mal verkaufte, sondern auch ein bahnbrechendes Sachbuch über den Maler, das unter Fachleuten auf große Resonanz stieß.

Wie es sich für einen Roman gehört, nimmt Melania Mazzucco in "Tintorettos Engel" die private Seite in den Blick und entwirft einen dichten fiktionalen Kosmos. Mazzucco lässt Tintoretto selbst das Wort ergreifen. Behäbig und etwas umständlich entwirft der Maler die Geschichte seiner Kindheit und Jugend, berichtet von Zurückweisungen und Kränkungen, von Skandalen und Erfolgen, von seiner Liebschaft mit einer deutschen Hure namens Cornelia und seiner Ehe mit der getreuen Faustina, von den dramatischen Folgen der Pest, einem neuen Aufschwung der Hafenmetropole und dem sich allmählich andeutenden Umbruch.

Aber der Kern seines Daseins ist seine erstgeborene Tochter Marietta, Kind der unehelichen Verbindung mit Cornelia, die dennoch in seiner Familie aufwuchs. Marietta, zum Zeitpunkt der Erzählung längst verstorben, war sein Augenstern: Sie stand im Mittelpunkt eines großen Gemäldes, das er für die Kirche Madonna dell'Orto anfertigte, sie wich niemals von seiner Seite, mischte Farben, präparierte Leinwände, trug Hosen und tat nichts, was Mädchen ihres Standes normalerweise tun. Während die anderen Töchter Tintorettos Decken stickten und im Kloster landeten, bildete er Marietta zur Malerin aus. Tintoretta wurde sie genannt, aber die enge Verbindung mit dem Vater entwickelte morbide Züge.

Melania Mazzucco knüpft an die Tradition des Realismus im 19. Jahrhundert an. Das hat etwas Anachronistisches, und in manchen Momenten gleitet sie ab ins melodramatische Fach. Aber sie beherrscht ihren Stoff, operiert souverän auf den verschiedenen Zeitebenen, hält ihr Personal in Schach, schürt die Spannung und liefert nebenbei eine Sittengeschichte Venedigs und ein schillerndes Stadtporträt. Ihr gelingt ein süffiger Roman, aus dem man eine Menge lernen kann. Und Bücher über Venedig gibt es ohnehin nie genug.

Besprochen von Maike Albath

Melania Mazzucco: Tintorettos Engel
Roman
Aus dem Italienischen übersetzt von Birte Völker
Knaus Verlag, München 2010
543 Seiten, 22,95 Euro