Der lange Weg zur Demokratie

Von Rafael Seligmann |
Der Marsch der arabischen Gesellschaften in die Freiheit wird lange dauern und nicht ohne Auseinandersetzungen abgehen – ebenso wie es bei uns der Fall war.
In Ägypten und Tunesien soll nach dem Sturz der Diktatoren in einem halben Jahr gewählt werden. Staatsrechtler werden Verfassungsentwürfe fertigstellen. Zuversichtlich erwarten wir Europäer, dass dann in diesen Ländern Demokratie herrscht. Also eine Volksherrschaft mit von demokratischen Parteien getragenen Regierungen, die dafür sorgen, dass die Menschenrechte beachtet und die Staatsorgane kontrolliert werden – unter anderem die Armee und die Geheimdienste. Die Regierungen haben dem Parlament Rechenschaft abzulegen. Glaubensfreiheit ist gewährt. Das Gesetz sorgt für eine Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften. Ein unabhängiges Oberstes Gericht überprüft die Gesetze auf ihre Verfassungskonformität.

Wer dies erwartet, hat sich weder mit der Situation in der Region, noch mit unserer eigenen Geschichte auseinandergesetzt. In den meisten arabischen Staaten fehlen demokratische Traditionen und eine entsprechende politische Infrastruktur. Die bürgerliche ägyptische Wafd-Partei wurde nach der Revolution von 1952 vernichtet. Eine ähnliche Entwicklung ereignete sich in Irak. Zudem haben mehrere arabische Staaten einen hohen Anteil an Analphabeten. In Ägypten können mehr als die Hälfte der Frauen weder lesen noch schreiben. Keine ermutigenden Voraussetzungen für demokratische Verhältnisse.

Entscheidend ist jedoch der Zeitraum der demokratischen Einübung. Hier sollten wir die Lehren aus der Historie beachten. 1789 revoltierten die Franzosen gegen das Ancien Regime. Was als freiheitliche Bewegung begann, mündete rasch in die Schreckensherrschaft der Jakobiner, schließlich übernahm General Bonaparte die Macht, der sein Land und Europa in mörderische Kriege riss. Die Revolution von 1848 führte erneut zu einem Napoleonischen Kaiserreich. Erst als dieses nach der Niederlage gegen den Deutschen Bund 1871 ausgelöscht worden war, gelang es endlich, eine tragfähige Demokratie einzurichten: 82 Jahre nach der Revolution von 1789!

In Deutschland verging von der März-Revolution von 1848 bis zur Etablierung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 mehr als ein Jahrhundert – in Ostdeutschland kamen bis zur Wende nochmals 40 Jahre hinzu. Dazwischen lagen ein autoritäres Kaiser-Reich, der Erste Weltkrieg, die kurze instabile Weimarer Republik und das NS-Regime sowie die SED-Diktatur in der DDR.

Diese Dimensionen und Kosten an Menschenleben können Revolutionen nach sich ziehen. Geschichte wiederholt sich nicht exakt, doch Konflikte können zum Tragen kommen – wenn sich Gesellschaften umwälzen, braucht es seine Zeit. Die Phase dauert Dekaden, ehe sie in eine freiheitliche Demokratie mündet. Jede Gesellschaft hat ihre Besonderheiten.

In den arabischen Ländern kommen zwei spezifische Faktoren hinzu. Zum einen die herausragende Rolle der Streitkräfte. Die Militärs werden ihre Privilegien nicht ohne Widerstand abgeben. Des Weiteren die Position des Islam, der per se keine Trennung von Staat und Gesellschaft anerkennt. Bis dieses unentbehrliche demokratische Verständnis sich durchsetzt, werden manche Konflikte auszufechten sein.

Der Marsch der arabischen Gesellschaften in die Freiheit wird lange dauern und nicht ohne Auseinandersetzungen abgehen – ebenso wie es bei uns der Fall war.

Rafael Seligmann wurde 1947 in Israel geboren. Seit 1957 lebt er in Deutschland. Der promovierte Politologe schrieb die deutsch-jüdischen Gegenwartsromane ‘Rubinsteins Versteigerung’, ‘Die jüdische Mamme’ und ‘Der Musterjude’. Seligmanns Familienroman ‘Schalom meine Liebe’ wurde von der ARD verfilmt. Es folgten der Roman ‘Der Milchmann’ sowie das Buch ‚Hitler. Die Deutschen und ihr Führer’. 2010 erschien seine Autobiografie ‚Deutschland wird dir gefallen’.
Rafael Seligmann, Publizist und Buchautor
Rafael Seligmann, Publizist und Buchautor© Deutschlandradio / Bettina Straub