Der lange Weg der Entbürokratisierung

Von Bürgernähe keine Spur

Foto des Eingangsbereichs der Bezirkskasse einer Amtsstube irgendwo in Deutschland.
Bürger und Unternehmen stöhnen unter den Lasten, die die Bürokratie verursacht. © imago / Imagebroker
Von Stephanie Kowalewski · 04.09.2018
Komplizierte Formulare, unzählige Vorschriften, undurchschaubare Zuständigkeiten: Die Bürokratie raubt uns Zeit, Geld und Energie. Und trotz der proklamierten Entbürokratisierung sind wir von einer bürger- und kundenorientierten Verwaltung noch weit entfernt.
"Naja, Bürokratie heißt Herrschaft der Verwaltung. Gemeint war das eigentlich zunächst positiv, nämlich Gleichbehandlung und Fairness, eine rationalere Form der Herrschaftsausübung."
Eine geradezu revolutionäre Idee, sagt Jörg Bogumil. Der Professor hat einen Lehrstuhl für öffentliche Verwaltung an der Ruhruniversität Bochum.
"Denn vorher war man als Bürger abhängig vom Wohlwollen des Fürsten oder des Herrschers. Und die Professionalisierung der Verwaltung, Aktenmäßigkeit, Gleichbehandlung, das war ein Fortschritt. Bürokratie ist aber heutzutage eher ein Schimpfwort."
"Das ist eine Katastrophe. Das ist wahnsinnig schwierig und kostet unfassbar viel Zeit."
"Also es ist ein wenig lästig. Wenn man aber sieht, dass so DIN-Normen oder ähnliches, auch unseren Arbeitsplatz sichern, weil es kann dann halt nicht jeder ausführen, ist es natürlich gut."
"Ich glaube, dass unsere Bürokratie zu starr und zu festgefahren ist."
"Also es muss was geregelt sein, sonst herrscht Willkür. Aber so einfach wie möglich. Ich bin Polin und mein Mann ist Deutscher und versteht oft nichts."
Diese Kritik ist so alt wie die Bürokratie selbst, sagt Jörg Bogumil.
"Sie ist in Teilen berechtigt. Es gibt in der Tat immer mehr Vorschriften und es ist schlimmer geworden seitdem wir die Europäische Union haben. Und das ist besonders schlimm in Deutschland, weil wir schon immer ein Land waren, welches Problemlagen immer verrechtlicht hat. Wir sind in einem überbürokratisierten Land. Aber wir haben auch mehr Rechtssicherheit. Und da müssen wir einen gesunden Mix kriegen."
Wartebereich im Rathaus Charlottenburg in Berlin
Beim Behördengang ist vor allem eins wichtig: viel Zeit.© imago/Stefan Zeitz
Den gesunden Mix aus Rechtssicherheit und unbürokratischem Handeln wünscht sich auch Andrea Gerino, die gerade ihre neunjährige Tochter Greta aus der Schule abholt. Greta hat Trisomie 21, auch bekannt als Down Syndrom. Damit gilt sie als geistig behindert und geht doch in die dritte Klasse einer benachbarten allgemeinen Grundschule. Denn Greta hat das Recht, gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung zur Schule zu gehen, sie hat ein Recht auf Inklusion. Aber es ist ein andauernder bürokratischer Kraftakt für die fünfköpfige Familie.

"Ja, zuerst mal die amtsärztliche Untersuchung bei der Schulärztin, dann Gespräche mit der Schule - so Sonderpädagogen, Schulleitung, dann hab ich mit der Schulrätin telefoniert, mehrmals - dann das Sozialpädiatrische Zentrum, wo man Termine macht. Und dann das Sozialamt, um letztlich die Bewilligung für die Integrationshilfe zu bekommen. Und zwischendurch telefoniert mit dem Schulamt, wie es denn jetzt aussieht mit dem Sonderpädagogischen Gutachten. Das Gutachten habe ich überhaupt nicht. Das bekommt man als Eltern nicht. Dafür muss man schriftlich einen Antrag stellen. Das war ein großer Aufreger, es geht ja um mein Kind."

Bei der Inklusion machen es Behörden den Eltern schwer

Letztlich war dann aber nach etlichem Hin und Her klar, dass Greta in eine Regelschule eingeschult werden kann und aufgrund ihrer geistigen Behinderung eine sogenannte Integrationshilfe benötigt, die ihr hilft sich im Schulalltag zurechtzufinden. Da Greta nur Anspruch auf eine ungelernte Kraft hat, sind das meist junge Erwachsene, die ein freiwilliges Soziales Jahr machen.
"Die beantragen wir beim Sozialamt, weil Kinder mit geistiger Entwicklung fallen unter das Sozialamt. Andere Behinderungsbilder gehören zum Jugendamt. Da stellt man einen Antrag. Das ist Eingliederungshilfe nach §53ffSGBXII. Dann man muss noch verschiedene Unterlagen einreichen, die prüfen das dann und dann haben wir die Genehmigung auch direkt bekommen."
Eine passende Integrationshilfe zu finden, ist dann das nächste große Problem, das die Eltern weitestgehend alleine lösen müssen. Inzwischen besucht Greta die dritte Klasse und hat aktuell ihre siebte Integrationshelferin. Um ihrer Tochter den häufigen Wechsel zu ersparen, stellte Andrea Gerino einen Antrag auf eine Fach- oder Assistenzkraft, die Greta zumindest theoretisch für den Rest der Grundschulzeit begleitet. Die bekam sie auch genehmigt, aber "der Ganztag gehört nicht mehr dazu".
Das bedeutet, nach dem Unterricht in der offenen Ganztagsschule muss Greta alleine zurechtkommen. Inklusion endet offenbar nach der letzten Schulstunde.
"Für mich unverständlich! OGS gehört sehr wohl zur Bildung dazu. Aber auch im Hinblick darauf, dass der Hilfebedarf ja nicht plötzlich wegfällt, wenn Schule vorbei ist. Es ist immer wieder ein Kampf und es wird ein Kampf bleiben. Also es ist wirklich sehr kräftezehrend und anstrengend und auch frustrierend. Wo man auch nervlich am Ende ist und schlaflose Nächte hat, weil man nicht weiß, wie das funktionieren soll."
Familie Gerino erlebt die Durchsetzung des Rechts auf Inklusion als Kampf mit den Behörden. Statt Hilfe bekommen sie für ihr Empfinden Steine in den Weg gelegt.
"Dass man da von alleine auf die Eltern mit einem behinderten Kind, welches in die Schule muss, zukommt, das habe ich so nicht erfahren. Es ist halt oft so, dass sich Eltern diese Informationen selber beschaffen müssen: über die Homepage der einzelnen Organisationen, Institutionen oder eben bei den einzelnen Ämtern anrufen. Und es wäre schon hilfreich, da einen Ansprechpartner zu haben oder eine Homepage meinetwegen, wo man dann so Dinge nachlesen kann."
Ein Stapel Akten liegt auf einem Schreibtisch in einer Behörde  
Die Bürokratie verursacht Kosten in Milliardenhöhe.© icture alliance / dpa / Patrick Pleul
Das ist ein wesentlicher Kritikpunkt an der gewärtigen Bürokratie – auch von Experten wie Johannes Ludewig. Er ist Vorsitzender des Nationalen Normenkontrollrates, einer Art Bürokratie-TÜV für Deutschland.

Die Bürokratie soll schlanker werden - aber wie?

"Das Problem in Deutschland ist, der ganze Verwaltungsapparat ist sehr stark juristisch geprägt. Die Frage, ob das eigentlich für den Bürger und für die Unternehmen am Ende richtig, praktisch, verhältnismäßig ist, die hat bisher noch nicht so richtig im Vordergrund gestanden und das muss sich ändern. Wir brauchen auch eine Kundenorientierung. Da ist noch sehr viel Raum."
Die Politik hat das Problem längst erkannt. Seit Jahrzehnten schon versprechen alle Parteien in ihren Wahlprogrammen, die Bürokratie schlanker zu machen, Regeln abzubauen und für mehr Dienstleistung in der Bürokratie sorgen zu wollen. Doch die meisten Bemühungen verliefen im Sand und sorgten eher für Unmut bei Bürgern, Unternehmen und kommunalen Verwaltungen, weiß der Hochschulprofessor Jörg Bogumil.
"Da geht es schlicht und einfach darum, dass häufig Politiker Gesetze verabschieden ohne richtig zu bedenken, was die Umsetzung mit sich bringt. Ich will ihnen mal ein Beispiel nennen: Die Bundesregierung hat einfach entschieden, wir führen jetzt den elektronischen Personalausweis ein. Mag ja eine richtige Entscheidung sein. Mit dem ist verbunden, ein elektronischer Fingerabdruck. Niemand hat aber bedacht, dass das in den Bürgerämtern dazu führt, dass die Beantragung eines Passes nicht mehr 10, sondern 20 Minuten dauert. Das führt in einem Bürgeramt wie Bochum dazu, dass die zehn Mitarbeiter neu brauchen, die die Stadt aber finanzieren muss."
Um genau so etwas zu verhindern, wurden 2006 erstmalig ein umfassendes Gesamtkonzept zum Abbau unnötiger Bürokratie erarbeitet und der Nationale Normenkontrollrat etabliert. Das unabhängige Gremium besteht zwar nur aus zehn Personen – aus Wissenschaft, Praxis und Politik – hat aber entscheidende Schritte zum Bürokratieabbau vorangetrieben. So wird jede neue Regel heute durch den Nationalen Normenkontrollrat auf Herz und Nieren geprüft, erklärt der aktuelle Vorsitzende Johannes Ludewig:
"Also bei jedem Gesetz, was neu gemacht wird, wird auch der entsprechende Aufwand durch das Ministerium berechnet, der entsteht. Und zwar immer nach den Kategorien Bürger, Unternehmen, Verwaltung. Unter jedem Gesetz stehen heute solche Zahlen. Und bevor das Ganze ins Kabinett gehen kann, beschlossen werden kann, landet es erst einmal bei uns. Und wir prüfen, ob die Zahlen, die dort stehen, richtig berechnet worden sind."

Die Entbürokratisierung greift nicht weit genug

Bisher hat der Normenkontrollrat rund 2400 Regelungsvorhaben geprüft und bewertet. Es ist ein wirkungsvolles Instrument zur Entbürokratisierung, meinen nahezu alle Experten, doch es greift entschieden zu kurz. Denn es erfasst nur die Bundesgesetze. Für die Länder und ihre Verwaltungsvorschriften ist der Normenkontrollrat nicht zuständig. Das müsste sich dringend ändern, fordert Johannes Ludewig.
"Weil der Vollzug liegt ja in der Regel bei Ländern und Kommunen."
Bislang werden die Folgekosten neuer Regelungen nur in Sachsen und Baden-Württemberg durch solch ein Gremium kontrolliert. Aber wie berechnet man eigentlich den Aufwand, den eine Vorschrift bei der Umsetzung mit sich bringt? Indem man jeden dafür notwendigen Handgriff unter die Lupe nimmt, sagt Johannes Ludewig:
"Wenn sie also ein Formular ausfüllen müssen über Emissionen in ihrem Fabrikgelände, dann müssen sie erst mal die Messdaten aus ihrem Betrieb einsammeln. Wie lange dauert das und wie viele Leute sind daran beteiligt? So und dann müssen sie das in ein Formular eintragen. Also sie holen den Aktenordner aus dem Regal, schlagen ihn auf, nehmen das Formular raus, füllen das aus, machen eine Kopie, damit sie was in den Akten haben, machen die Akte wieder zu, stellen die weg, tun dieses ausgefüllte Formular in einen Umschlag, frankieren, bringen es zur Post. Das sind alles Standardvorgänge, die sie mit entsprechendem Zeitaufwand unterlegen können, mit einem entsprechenden Lohnsatz multiplizieren. Alles zusammen, das ist der Erfüllungsaufwand, der mit einer bestimmten gesetzlichen Auflage eben verbunden ist."
"Von den Gesamtkosten und Aufwandfolgen, die sich aus Gesetzen ergeben, trägt die Wirtschaft 90 Prozent."
Deshalb hat man schon 2006 eine Art Kassensturz gemacht und alle Kosten ermittelt, die den Unternehmen jährlich entstehen, wenn sie nur die gut 9000 Dokumentations- und Meldepflichten erfüllen. Ergebnis:
"Ungefähr 50 Milliarden Euro."
Zu viel! Deshalb sollten diese Bürokratiekosten binnen fünf Jahren um ein Viertel, also 12,5 Milliarden Euro, gesenkt werden. Unter anderem durch mehr Digitalisierung. Zum Beispiel durften Unternehmen jetzt ihre Rechnungen und Quittungen elektronisch statt per Briefpost an die Steuerbehörden übermitteln.
"Und das hat alleine zu diesen 12,5 Milliarden ungefähr drei Milliarden Euro beigetragen."
Viel Kleinvieh macht eben auch viel Mist. Und so wurden die Bürokratiekosten tatsächlich bis zum Jahre 2011 um ein Viertel gesenkt und die Unternehmen haben etwa 15 Millionen Arbeitsstunden eingespart.
"Seitdem wird genau Buch geführt, dass sich das nicht wieder erhöht. Können sie genau im Internet nachlesen, wird veröffentlicht vom Statistischen Bundesamt. Und es gibt praktisch keine nennenswerten Erhöhungen. Also diese Verpflichtung, dass die Bürokratiekosten nicht wieder ansteigen, die gilt bis heute."
Eine Finanzbeamtin steht vor vielen Akten zu Einkommensteuererklärungen im Finanzamt in Eberswalde (Brandenburg).
Die Digitalisierung steht bei vielen Behörden noch am Anfang.© dpa-Zentralbild
Bis heute gab es mehrere sogenannte Bürokratieentlastungsgesetze und zahlreiche Maßnahmen, die helfen sollen, Regelungen zu vereinfachen oder besser – ganz abzuschaffen. Die "Bürokratiebremse" ist so ein Instrument. Sie soll die bürokratischen Belastungen für die Wirtschaft dauerhaft und spürbar entlasten – und zwar nach dem Prinzip "One in - one out" schwärmt der Vorsitzende des Nationalen Normenkontrollrates Johannes Ludewig:
"Dieses one in - one out – das hat es noch nie gegeben in der deutschen Rechtsgeschichte. Besagt ja praktisch, ein Minister, der einen Gesetzgebungsvorschlag macht, der zu zusätzlichen Kosten von 15 Millionen führt, dann muss er bis zum Ende der Legislaturperiode woanders 15 Millionen einsparen. Das ist faktisch eine Deckelung der Kosten. Das ist schon sehr weitgehend."
Aber nicht weitgehend genug. Denn: "Über die Hälfte der Kosten, die kommen aus Brüssel. Und da sind wir der Meinung, das geht nicht. Und wir müssen sehen, dass eben auch die Gesetzgebung die aus Brüssel kommt in diese one in - one out-Regel mit einbezogen wird. Und dann muss man sich eben auch in Brüssel, wo die Bundesregierung ja nun eine wichtige Stimme im Ministerrat hat und auch im Parlament, darum wirklich bemühen."

Die "Bürokratiebremse" soll Unternehmen entlasten

Denn es lohnt sich, betont der Vorsitzende des Bürokratie-TÜVs. Immerhin habe es unterm Strich mehr outs als ins gegeben, was die Wirtschaft um mehr als 330 Millionen Euro entlastet habe.
"Und das man heute diese Transparenz hat, beeinflusst natürlich auch die Ministerien, weil sie wissen, dass das, was sie vorschlagen wollen, heute in Heller und Pfennig ausgedrückt werden muss. Die überlegen sich natürlich viel genauer als früher, ob das in einem richtigen Verhältnis steht zu dem, was man damit erreichen will. Das ist schon eine sehr wichtige psychologisch Bremse."
Bei den Unternehmern kommt davon gefühlt allerdings wenig bis nichts an, sagt Christian Klemm, der in Düsseldorf einen Betrieb für Sanitär, Heiz- und Klimatechnik mit 14 Mitarbeiter betreibt.
"Dass die das alles in ihr Regierungsprogramm schreiben, ist schön. Aber ich kann nirgendwo erkennen, dass sich da richtig was ändert. Besser wäre: zwei raus, eine rein."
Damit spricht der 40-Jährige vielen seiner Kollegen aus der Seele. Und so reißen die Klagen der Unternehmen nicht ab: Die Bürokratie und die damit verbundenen Kosten bremsen den Fortschritt, verhindern Gründungen und lähmen die Wirtschaft – so lautet das Credo der großen wie kleinen Firmen. Besonders die Klein- und Mittelständischen Betriebe ächzen unter tausenden Vorschriften und Normen, sagt Christian Klemm.
"Der Bürokratieaufwand ist für uns Mittelständler sehr hinderlich, wir haben keine Abteilung, die sich damit beschäftigt. Der Chef ist Mädchen für alles. Der kocht auch Kaffee und muss auch die DIN-Normen kennen und raussuchen wo steht’s denn und halt diese Sachen auch rausfinden, ob man denn meldepflichtig an der und der Stelle ist. Also die Auswirkung ist einfach, dass meine Zeit dafür drauf geht und ich für andere Aufgaben weniger Zeit habe oder am Samstag da in Ruhe sitze, und mir die Sachen durchlese."

Die Digitalisierung stockt

Immer öfter muss sich der Firmenchef auch durch 70 Seiten Ausschreibungstext in schwer verständlichem Juristendeutsch ackern, um überhaupt einen Auftrag zu bekommen, stöhnt er.
"Öffentliche Behörden, die bedienen sich gerne solcher umfangreichen Texte, um sich auch abzusichern, dass man halt Fehler, die passieren können, einfach weiter geben kann an den Handwerker nach unten. Bei der Verlegung einer Leitung musste angekreuzt werden, ob denn auch alle Teile, die verwendet werden, aus Ländern kommen, wo keine Kinderarbeit stattfindet. Schlussendlich musste man dann für den Dübel nachweisen, dass der eine Zertifizierung hat. Dass der Sinn dahinter richtig ist, ist klar. Aber bis man dann den Dübel tatsächlich verwenden darf, das ist halt unheimlich aufwändig. Da antworte ich halt, dass ich keine Zeit habe, das auszufüllen und dann lege ich das weg."
Und bekommt keinen Auftrag. Es sei auch ein Unding, ärgert er sich, dass ihn alleine der notwendige Papierkram um einen Auszubildenden einzustellen, rund einen Tag kostet. Dabei ginge das erheblich schlanker und schneller, meint er.
"Aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung würde ich mir schon an vielen Stellen wünschen, dass es PDFs gibt, die man ausfüllen kann am PC und auch übermitteln. Also wir digitalisieren alles, das heißt, wir scannen das für unsere Unterlagen ein, drucken das aus und schicken das per Post weg. Das ist nicht wirklich zielführend, pfiffig und schnell. Das ist eher Digitalisierung 0.1 statt 4.0."
Auch der Nationale Normenkontrollrat wird nicht müde, die Bundesregierung immer und immer wieder auf den großen Missstand hierzulande hinzuweisen. Es ist den Bürgern einfach nicht mehr zuzumuten, dass sie ihr Auto nicht online ummelden könnten, ärgert sich Johannes Ludewig.
"Wir sind rückständig heute gegenüber vielen Ländern in Europa, was die Nutzung der Elektronik in der Verwaltung betrifft, um Dienstleistungen qualitativ besser und einfacher zu machen. Und dieser Rückstand muss unbedingt jetzt in der kommenden Legislaturperiode ernsthaft wirklich angegangen werden."
Das neue Online-Zugangsgesetz soll es nun richten. Es verpflichtet Bund, Länder und Kommunen bis Ende 2022 alle Verwaltungsleistungen digital anzubieten. Dazu muss aber noch ein entsprechender digitaler Portalverbund eingerichtet werden. Das soll den tatsächlichen Gang zur Behörde ersetzten und die Verfahren für den Bürger deutlich einfacher machen, erklärt Johannes Ludewig.
"Der Bürger gibt einmal seine persönlichen Daten in eine Art Bürgerkonto ein. Und wenn er jetzt ein Anliegen hat, beispielsweise er will ein Auto ummelden, dann gibt er - elektronisch wohlgemerkt - die Autorisierung, dass seine Daten dafür benutzt werden können. Und auf Seiten der Behörde liegt jetzt die Aufgabe, das Anliegen auszuführen und nicht, dass der Bürger zu fünf Institutionen laufen muss. Das muss jetzt wirklich ein Ende haben."
Digitalisierung ist dringend notwendig, löst aber bei weitem nicht alle Probleme, betont Jörg Bogumil, Professor für öffentliche Verwaltung an der Ruhruniversität Bochum:
"Wir müssen Bürgern helfen, wie sie durch die Verwaltung finden. Wohnortnah und ohne allzu große Wege und Wartezeiten."
"Ich mach mal Fernsehen aus, gibt es etwas Neues bei dir?"
"Läuft alles."
"Läuft alles, ist gut …"

Das es gut läuft, ist fast die Ausnahme, sagt Martina Taube, seit ihr Vater vor rund einem Jahr einen Hörsturz erlitten hatte. Der warf den alten Herrn völlig aus der Bahn und sie in eine neue Welt voller Anträge, Behörden und auch jeder Menge Ärger. Von dem ganzen bürokratischen Aufwand, der notwendig war und ist, damit der 81-Jährige jetzt hier in dem kleinen Zimmer samt seiner Musikinstrumente leben kann, bekommt er nichts mit. Zum Glück sagt er - und schaut liebevoll zu seiner Tochter.
"Das macht alles meine Tochter. Ich krieg's nicht in die Reihe. Ist schwer für mich. Man, wenn ich die nicht hätte, wäre ich kaputt. Wär gar nix. Muss ich ganz ehrlich sagen. Ohne meine Tochter bin ich verloren."
Eine Hand mit Stift füllt ein Anmeldungsformular aus.
Ohne Formular geht bei vielen Ämtern nichts.© dpa/picture alliance/Marcus Brandt

Jede Menge Ärger statt Hilfe

Bis zu seinem Hörsturz kümmerte er sich weitestgehend alleine um seinen Alltag, spielte Akkordeon in Orchestern, sang in verschiedenen Chören. Das alles ging plötzlich nicht mehr. Nach ein paar Wochen im Krankenhaus war klar, dass ihr Vater nicht mehr alleine leben kann. Martina Taube hängte sich ans Telefon und klickte sich durchs Internet, um zu erfahren, wie sie denn nun das Leben ihres Vaters am besten organisiert:
"Ich find‘s schwierig rauszufinden, was man alles machen muss und was aufeinander folgen muss. Es ist immer so ein Häppchenwerk. Und wenn ich bei null stehe, ist das echt harter Tobak. Kein Spaß. Ich hab zwischenzeitlich fast nichts anderes mehr gemacht. Das hat Zeit in Anspruch genommen. Ganz am Anfang hab ich einen ganz kleinen dünnen Ordner geführt, nur so eine Zettelsammlung."
Das war vor gut einem Jahr. Jetzt sitzt sie an ihrem Esstisch und klopft auf zwei dicke graue Aktenordner, vollgestopft mit Anträgen, Broschüren, Gutachten und Briefen.
"Wenn mir einer am Telefon was gesagt hat, was ich noch nie gehört hab, hab ich immer gesagt: Stopp, muss das Wort aufschreiben. Kannte ich ja alles nicht: Pflegeantrag, Heimnotwendigkeitsbescheinigung, Antrag auf vollstationäre Pflege, Antrag auf Kurzzeitpflege. Dann musste ich immer wissen, wer ist dafür zuständig? Mal das Sozialamt, mal die Pflegekasse. Und in der Pflegekasse sind ganz schrecklich viele Menschen zuständig: die einen für die Krankenkasse selber, der andere für die Pflege, der nächste wieder für den Widerspruch. Das habe ich noch nicht so ganz raus, da rede ich tatsächlich immer mit anderen Leuten."
Das alles ist schon sehr anstrengend, wenn eigentlich alles glatt läuft. Kommen dann aber noch Probleme mit den Behörden dazu, ist es schnell zu viel für einen unbedarften Laien. Ihr Vater, dem Pflegegrad 2 zuerkannt wurde, sollte neu begutachtet werden, erzählt Martina Taube.
"Es gab keine Ankündigung des Termins, ich war nicht Teilnehmer und Papa hat locker flockig irgendwas von Musikmachen erzählt und die waren sehr glücklich und haben ihn zurückgestuft auf Pflegegrad 1. Damit geht eine Maschinerie los."
Denn Menschen mit Pflegegrad 1 haben keinen Anspruch auf Pflegegeld, keinen Anspruch auf Pflegesachleistungen und müssen die Kosten für die stationäre Pflege in einem Heim fast alleine tragen. Da gibt es viel zu regeln für Martina Taube.
"Wir haben Widerspruch eingelegt gegen den Pflegegrad. In dem Heim, die sagen, er hat Pflegegrad 3. Da sind wir sehr gespannt, was demnächst passiert."
"Kein gutes Gefühl", sagt sie, denn es geht bei alledem ja darum, das Beste für ihren pflegebedürftigen Vater zu entscheiden.
"Das ist ja zu meinem normalen Leben als Häppchen noch obendrauf gekommen. Ich hab einen Haushalt zu führen, ich gehe arbeiten, ich hab Kinder. Verzweifelt und wütend zwischendurch, auch ganz oft fassungslos und kraftlos. Weil ich denke und nochmal und wieder muss ich mich kümmern. Kann das nicht einfach nur funktionieren?"
Irgendwie lief es oft nach dem Prinzip Versuch und Irrtum ab, sagt sie nachdenklich, und dass sie dringend kompetente Hilfe gebraucht hätte. Die steht ihr eigentlich auch zu. Jeder, in ihrer Situation, hat ein Recht auf eine Pflegeberatung.
"Und dann hab ich da angerufen und gesagt: ja, ich brauche Pflegeberatung. Wunderbar. Wozu haben sie denn eine Frage? Naja, zu allem! Da müsste ich schon genau wissen, was ich fragen möchte. Ja, aber ich bin ganz neu, ich weiß noch gar nichts. Da hab ich dann irgendwann aufgelegt. Das fühlte ich mich einfach unverstanden. Ich fänd‘ es sensationell, wenn jemand, der alles weiß, zu einem kommt und einen berät. Der einem sagt, pass auf, ich brauche die und die Vorarbeit von dir, und dann können wir zusammen drüber schauen und ich sag dir auch was gar nicht geht."
Aufrufnummern im Bürgerbüro München
Die Digitalisierung könnte viele Behördengänge erübrigen.© imago stock&people
Notwendig ist eine Art Lotse, der den Bürger sicher und zuverlässig als Partner und nicht als Gegner durch die Wirren der Bürokratie schleust. Das wünschen sie alle, die hier zu Wort gekommen sind: Bürger, Unternehmer und Experten wie Jörg Bogumil.
"Was stimmt, ist – was ich auch gut verstehe – dass Unternehmen und andere, die mit Verwaltung zu tun haben, häufig abgeschreckt sind. Häufig verweist die Verwaltung in der Zuständigkeit auf jemand anderen. Und dieses Zuständigkeitsdenken, das auch damit zu tun hat, dass man keine Fehler machen will, das ist das Grundproblem. Wir brauchen mehr kundenorientierte Bürgerbüros, wo der Bürger nicht die Kenntnis haben muss, wer ist in der Verwaltung zuständig, sondern er hat einen Ansprechpartner und der hilft ihm weiter. So etwas gibt es auch in Teilbereichen schon."

Mit dem Lotsen durch den Antragsdschungel

Die Startercenter in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel bieten Menschen, die sich selbstständig machen möchten, genau das an. Gründer müssen laut NRW-Landesregierung bis zu 450 Fragen in rund 20 verschiedenen Formularen beantworten. Da kann leicht etwas schief gehen, weiß Ulrich Engelhardt. Er ist Gründungslotse im Startercenter NRW bei der Handwerkskammer Düsseldorf. Er berät Gründungswillige und hilft ihnen bei allen notwenigen Schritten – und zwar kostenlos.
"Ja, dann sortieren wir das Ganze jetzt erst mal. So, sie haben gesagt, sie haben eine abgeschlossene Gesellenprüfung, und möchten gerne eine Selbständigkeit im Friseurbereich ansetzen. Grundsätzlich gilt für das Friseurhandwerk die Meisterpflicht."
Da Anna Mann keinen Meistertitel hat, braucht sie eine Ausnahmegenehmigung. Die Chancen die zu bekommen, stehen gar nicht schlecht, meint Ulrich Engelhard.
"Wenn das mit der Ausnahmegenehmigung klappt, müssen sie sich bei verschiedenen Behörden registrieren und eintragen lassen. Wenn sie möchten können sie für diesen Zweck den Formularserver NRW benutzen. Sie finden alle Anmeldeformulare. Die meisten Formulare sind erläutert, mit Ansprechpartner mit Telefonnummer und Mailadresse, man kann Fragen stellen. Ist alles mit dabei."
"Ich finde das richtig Hammer! Das ist wirklich für Leute, die komplett neu im Leben starten wollen, super!"
"Auf jeden Fall ein zeitlicher Vorteil, ich sag mal von mindestens einer Woche."
Der Formularserver ist ein großer Schritt in die richtige Richtung, sagt Ulrich Engelhard. Nicht nur dass man alles mit einem Klick an einem Ort findet, auch, dass die Formulare sind um bis zu 30 Prozent schlanker und einfacher geworden, schätzt er. Für Anna Mann jedenfalls ist das eine große Hilfe. Und sie nimmt auch gerne das Angebot an, die Formulare gemeinsam durchzugehen.
"Von der Beratung bin ich super glücklich, weil ehrlich gesagt, man hat einfach Angst sogar vor den Beamten. Hier ist ein Mensch, der mich wahrnimmt, der sein Amt nicht ausnutzt, nicht über einem steht. Nur positiv. So wünscht man sich eigentlich einen Beamten und ein Amt. Auch wenn es beim Finanzamt so gehen würde, wäre es super. Da haben die Leute auch meistens Angst."

Angst vor dem Amt

Wenn Bürger Angst vor Ämtern und Beamten haben, dann stimmt was an der Haltung der Behörden nicht, meint Jörg Bogumil.
"Wir müssen in Verwaltung das Bewusstsein noch mehr verstärken, dass Bürger keine - ich sag mal - Untertanen sind oder Bittsteller, sondern dass sie Rechte haben. Die Art und Weise, wie ich Ansprüche von Bürgern überprüfe, sollte stärker so sein, dass sie weniger misstrauisch gegenüber den Menschen ist. Dann würde Vieles einfacher gehen. Viele Rechtsnormen lassen einen Interpretationsspielraum. Warum nutzt man den nicht im Sinne einer bürger- und kundenorientierten Verwaltung. Zumal die Ergebnisse häufig billiger sind, als die Überprüfung eines möglichen minimalen Missbrauchs."
Solch eine Haltung hätte sich auch Andrea Gerino gewünscht, als sie bei zahlreichen unterschiedlichen Ämtern um die inklusive Beschulung ihrer Tochter Greta kämpfte.
"Natürlich entwickelt sich meine Tochter weiter und wird auch selbständiger, trotzdem braucht sie immer noch eine Integrationshilfe. Und vielleicht sollte man da den Eltern ein bisschen mehr Vertrauen entgegenbringen, dass sie auch feststellen, ok Kind braucht das nicht mehr, dann sage ich jetzt mal Bescheid. Aber rückblickend war ich schon froh, dass es ein Gesetz gibt, wo die Eltern zumindest ein Wahlrecht haben. Aber es ist viel Aufwand und ich glaube es ist noch ein weiter Weg bis zur wirklichen Inklusion und auch etwas Bürokratie abzuschaffen, was nötig wäre. Ja – aber Greta geht es nach wie vor sehr gut in der Schule. Sie geht immer gerne und das finde ich die Hauptsache. Und das macht dann natürlich vieles wett."
So sieht das auch Martina Taube, die sich immer freut, wenn es ihrem Vater so gut geht, dass er zum Akkordeon greift.
"Ich muss lauter spielen, damit ich es mitkriege. Singen geht gar nicht mehr."
"Deswegen finde ich es natürlich gut, dass wir in Deutschland sowas haben. Ich sehe nur, es ist zu viel und kostet unfassbar viel Zeit."
"Wenn wir so allgemeine Zufriedenheitsumfragen machen, schneiden Verwaltungen in Deutschland nicht so schlecht ab. Also nicht zu sehr schimpfen."
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