Der Kulturschützer

Von Sonja Kloevekorn · 09.05.2013
Der Chefdramaturg des Mecklenburgischen Staatstheaters in Schwerin möchte dem Publikum Spektakel bieten. Doch Ralph Reichel hat noch eine weitere Mission: Er hat das "Aktionsbündnis Kulturschutz" gegründet, um den rabiaten Stellenabbau in den Theatern zu verhindern.
Schauspieler: "Wie ward der edle Timon so verwandelt?"

Schauspieler: "Zwei Huren stützen dich."

Schauspielerin: "Ist dies der Schmuck Athens, von dem die Welt so rühmlich sprach? An den Galgen Scheusal! Häng dich auf totes Fleisch!"

Schauspieler: "Lasst mich allein, lasst mich, lasst mich in Ruhe!"

Auf der Probebühne des Schweriner Staatstheaters sind vier Schauspieler an Händen und Taillen mit langen Plastikketten gefesselt. Sie spielen eine Szene aus Shakespeares "Timon von Athen". Konzentriert beobachtet und gelegentlich unterbrochen werden sie dabei von Regisseur Ralph Reichel.

Ralph Reichel: "Ja, schöner Effekt! Du darfst einfach nur spielen, du willst da raus, du willst da raus, du musst auf dem Punkt bleiben und dann ziehen die los und dann kriegst du irgendwann den Punkt mit, wo du sagen kannst und jetzt, jetzt raus."

Das selten aufgeführte Stück erzählt die Geschichte einer Privatinsolvenz: Der angesehene Geschäftsmann Timon gerät durch Fehlinvestitionen in Finanznot und wird daraufhin von seinen Freunden fallengelassen. Der aktuelle Bezug dieser Geschichte aus dem 5. Jahrhundert vor Christus zum krisengeschüttelten Griechenland von heute liegt auf der Hand. Der 45-jährige Regisseur verstärkt ihn noch, indem er Interviews von Griechen dem Text hinzufügt.

Ralph Reichel: "Um aus diesem abstrakten "die da unten, die sitzen den ganzen Tag in der Sonne und trinken Bier und gucken in den Pool" rauszukommen. Was sind das für Menschen? Also gibt man denen ein Gesicht."

Mit auf der Bühne stehen auch zwei Mitglieder der Berliner Oriental Swing Punk Band Budzillus.

Ralph Reichel: "Es gibt ein sehr erfolgreiches Stück von denen, das heißt "Es geht weiter, immer weiter!" Das war für mich bei der Konzeption sehr motivierend, das hat einfach diesen Spaß, egal, was passiert, egal was wir in Europa machen, es geht immer weiter."

Ralph Reichel ist ein intellektueller, ein politischer Künstler. Und mit seinem angegrautem Dreitagebart, der schwarzgerahmten Brille und dem lässig zerknittertem Hemd sieht er auch so aus. Geboren wird er 1968 in Wurzen bei Leipzig. Sein Vater ist Germanist und Dramaturg. Im Elternhaus gehen junge Autoren und Regisseure ein und aus:

"Mein Vater war am Theater und war für mich auch durchaus eine Vorbildfigur, weil er trotz extrem vieler Druckvarianten nie in die Partei reingegangen ist, sich nie unterworfen hat. Manchmal Sachen mitspielen musste, wie das halt war in einer Diktatur, aber niemals die Schritte gegangen ist, über die man sich im Nachhinein schämen müsste und trotzdem seinen Weg gefunden hat."

Mit 17 geht Ralph Reichel als Assistent an die Berliner Volksbühne und das Deutsche Theater. Nach drei Jahren beginnt er ein Studium der Theaterwissenschaft und macht erste eigene Inszenierungen mit Studenten. Prägend für ihn sind aber vor allem die politischen Erfahrungen der Wendejahre:

"89 hatte ich dann meinen Studienplatz, nachdem ich vorher schon am Theater gearbeitet habe, in Leipzig und habe dort an der Theaterhochschule das erste Jahr überwiegend mit Politik verbracht, also habe auch den Studentenrat mit zwei anderen Jungs gegründet. Wir haben dort ganz viel politisch erlebt, erfahren, begriffen."

2012 fordert die mecklenburgische Landesregierung, 80 von 320 Stellen im Schweriner Theater zu streichen. Obwohl Ralph Reichel als Regisseur, Chefdramaturg und Persönlicher Referent für Öffentlichkeitsarbeit zeitlich voll ausgelastet ist, gründet er das "Aktionsbündnis Kulturschutz". Die Aktivisten machen Flashmobs, spenden dem Landtag Bücher über Kulturgeschichte, fordern Autofahrer auf, für den Erhalt des Theaters zu hupen und verteilen Flyer in den Nobelrestaurants der Stadt:

"Und wir haben auch eine riesengroße Demonstration mit mehreren Tausend Leuten auf dem Marktplatz gemacht, wo Leute von Theatern von Berlin bis Hamburg da waren. Und es wurde klar, dass in dieser Stadt so eine große Unterstützung für die Kultur da ist, dass daran nicht mehr vorbei zu gehen war."

Der Begriff Kulturschutz leitet sich von einem Beschluss ab, den der Bundesvorstand der SPD 2007 abgegeben hat und der erklärt, dass Kultur wie Natur zu schützen sei und dies in der Verfassung festgeschrieben werden soll. Und das von der CDU regierte Bundesland Sachsen hat das schon 1994 in seine Landesverfassung aufgenommen. Die mecklenburgische Landesregierung von SPD und CDU zeigt sich davon bislang unbeeindruckt und hält an den Sparvorgaben fest.

"Die absurde Aufgabe der Politik ist immer, dass eine Beratungsfirma sagen soll, wie man mit einem Drittel weniger Personal dasselbe kulturelle Angebot realisieren kann. Und die Aufgabenstellung an sich ist absurd."

Ralph Reichel lässt sich davon nicht bremsen. Zu groß ist die Solidarität der Kulturschaffenden und zu begeistert ist er von seinen vielen Projekten. Fast alle betreffen das Theater – bis auf eines: Im Sommer wird der 45-Jährige zum ersten Mal Vater. Gerade läuft auch der Umzug in die neue Familienwohnung, jedoch ohne ihn. Kisten auspacken kommt später, den Regisseur ruft die Probe.

Schauspieler: "Wer bist du? Ist der Mensch dir so verhasst und bist doch so scheint es selbst ein Mensch."

Schauspieler: "Menschenfeind bin ich, hass' die Menschheit!"