Der Künstler und die Macht

Von Dieter Kranz · 11.09.2010
Seit es Kunst gibt, befindet sie sich in einem Spannungsverhältnis zur Gesellschaft. Goethe, der als eine Art Kulturminister am Weimarer Hof auf doppelte Weise involviert war, schrieb sein 1790 uraufgeführtes Schauspiel "Torquato Tasso" auf der Basis eigener Erfahrungen: Die Unvereinbarkeit von Kunst und Macht behandelt er so vieldeutbar, dass unter verschiedenen politischen Systemen jede Zeit sich darin wieder erkennen kann. Dem Anspruch des Künstlers "Erlaubt ist, was gefällt" wird die Einschränkung "Erlaubt ist, was sich ziemt" entgegengesetzt.
Im Bremer Theater schuf der blutjunge Peter Stein 1969 eine Inszenierung des "Torquato Tasso", die damals als eine aufsehenerregend aktuelle und viel diskutierte Programm-Aufführung der 68er verstanden wurde, mit Bruno Ganz als Tasso. Unter sozialistischen Bedingungen gab 1975 der Regisseur Friedo Solter am Deutschen Theater Berlin eine Antwort auf Peter Stein. Walter Ulbricht war gerade entmachtet worden. Gewisse Liberalisierungstendenzen erweckten Hoffnungen. Mit Christian Grashof als Tasso und Fred Düren als Herzog von Ferrara wurde eine für diese Zeit symptomatische Deutung mit einer Balance zwischen Kunst und Macht versucht. Der Dichter, der als Partner ernst genommen werden will, hatte ebenso recht, wie der Staatsmann, der einem exaltierten und introvertierten Künstler von der politischen Verantwortung fernhält. Über die "Tasso"-Rezeption hinausgehend bezieht die Lange Nacht auch Künstler ein wie Gustaf Gründgens, Wilhelm Furtwängler, Bertolt Brecht und Walter Felsenstein, die den Konflikt zwischen Kunst und Macht am eigenen Leibe erfahren haben.



Torquato Tasso bei Wikipedia

Peter Stein bei Wikipedia



Torquato Tasso mit kostenlosem MP3-Hörbuch

Johann W. von Goethe
Torquato Tasso
2 Audio-CDs
Außerdem: Vortrag 'Über das Theater von Heute'. 108 Min.. Sprecher: Gustaf Gründgens u. a. Deutsche Grammophon, Literatur Gustaf Gründgens - Theaterstücke Hörspiele Monologe die Audiothek
2004 Universal Music, Deutsche Grammophon


Johann W. von Goethe
Zweimal Torquato Tasso
2 Audio-CDs u. 1 DVD-Video
Ein Schauspiel. Eine Hörspiel-Fassung d. ORF Salzburg, 1961 u. Video-Aufzeichnung der Bremer Inszenierung, 1969. Mit Will Quadflieg, Ewald Balser, Aglaja Schmid u. a. Hörbühne, in deutscher Sprache.
2006 Edition Mnemosyne
Torquato Tasso - Text beim Projekt Gutenberg

Auszug aus dem Manuskript:

Goethes Schauspiel "Torquato Tasso" wurde im Revolutionsjahr 1789 vollendet, erlebte seine Uraufführung aber erst fast 20 Jahre später. Offenbar haben die Zeitgenossen das Werk nicht gerade mit Enthusiasmus aufgenommen. Und vermutlich erregte gerade das Anstoß, was für uns heute den Reiz und die Qualität des Werks ausmacht. Goethe gegenüber Eckermann:

"Ich hatte das Leben Tassos und ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammenwarf, entstand in mir das Bild des Tasso, dem ich als prosaischen Kontrast den Antonio gegenüberstellte, wozu es mir auch nicht an Vorbildern fehlte. Die weiten Hof-, Lebens- und Liebesverhältnisse waren übrigens in Weimar wie in Ferrara".

Der kunstliebende Herzog Alfons II von Ferrara hat den jungen Poeten Torquato Tasso auf sein Lustschloss Belriguardo eingeladen. Als der Dichter ein von ihm als Dank erwartetes Manuskript überreicht, krönt ihn die Schwester des Herzogs, Prinzessin Leonore mit einem Lorbeerkranz, - sehr zum Unmut des Staatssekretärs Antonio, der hinter dieser Ehrung die unausgesprochene gegenseitige Zuneigung zwischen Prinzessin und Tasso spürt. Geschickt taktierend versteht es Antonio, den empfindlichen Dichter aufs äußerste zu reizen. Der Streit eskaliert so weit, dass Tasso den Degen gegen Antonio zieht und deshalb von dem dazwischen tretenden Herzog in Arrest genommen wird. Als Schlichtungsbemühungen scheitern, entschließt sich Tasso, Ferrara zu verlassen, erbittet jedoch seine Dichtung zurück, um noch weiter daran zu arbeiten. Der Herzog gibt das Manuskript nicht heraus und verspricht lediglich eine Abschrift. Der Abschied von der Prinzessin erschüttert Tasso so sehr, dass er sie (das Hofzeremoniell missachtend) unbeherrscht an sich presst und daraufhin auch von ihr zurückgestoßen wird. Gebrochen bleibt er zurück. In Goethes Schauspiel gelingt eine unglaublich facettenreiche, vielschichtige Durchleuchtung dieser Geschichte. Jede eindeutige Aussage darüber greift zu kurz. Diese Qualität der Dichtung schuf die Voraussetzung dafür, dass sich verschiedene Generationen von Künstlern auf sehr unterschiedliche Weise in dem Stück wieder finden konnten.

Allerdings musste erst einmal eine Sensibilität dafür entstehen, worum es eigentlich geht. Denn Jahrzehnte lang und bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts war "Torquato Tasso" (gemäß früherem Theaterverständnis) ohne jeden Realitätsbezug gespielt worden. Wie sich das damals angehört hat, kann man sich vorstellen, wenn man bei Alfred Kerr nachliest. Der damalige Kritiker-Papst forderte 1913 nach einer Aufführung von Max Reinhardt, das müsse alles viel "schöner" klingen, "liedhafter". Auch nachdem klassischer Singsang überwunden war, behielten selbst hoch besetzte Inszenierungen eine merkwürdig abstrakte Kühle, die noch 1961 in einer Produktion des ORF Salzburg zu bemerken war, obwohl unter der Regie von Leopold Lindtberg ein erstklassiges Ensemble mit Will Quadflieg als Tasso und Aglaja Schmidt als Prinzessin Leonore zur Verfügung stand.


Aus den Arbeitsnotizen des Regieteams zur Vorbereitung der Inszenierung des Deutschen Theaters Berlin

Alfons II. - Herzog von Ferrara: Fred Düren
Leonore von Este - Schwester des Herzogs:
Gudrun Ritter
Leonore Sanvitale - Grävin von Scandiano:
Gabriele Heinz
Torquato Tasso: Christian Grashof
Antonio Montecatino - Staatssekretär: Dieter Mann
Sprecher der Zwischentexte: Friedo Solter

Erste konzeptionelle Gedanken zur Inszenierung

Die bürgerliche Literaturgeschichte stilisierte "Tasso" - und leider wirkt diese Voreingenommenheit ähnlich wie bei Lessings "Nathan" auch heute noch - zu einem der Sinnlichkeit entbehrenden Klassiker. Goethe war da anderer Meinung. In einem Gespräch über "Tasso" (6. Mai 1827) äußerte er: "Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall hineinlegen, das Leben schwerer als billig. Ei, so habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, ja euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen; aber denkt nur nicht immer, es wäre alles eitel, wenn es nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre." Und im Gespräch vom 4. Februar 1829 ergänzte er: "Es ist der Reiz der Sinnlichkeit, den keine Kunst entbehren kann, und der in Gegenständen solcher Art, in seiner ganzen Fülle herrscht. Bei Darstellungen, höherer Dichtung hingegen, wo der Künstler ins Ideale geht, ist es schwer, dass die gehörige Sinnlichkeit mitgebe, und dass er nicht trocken und kalt werde. Da können nun Jugend oder Alter günstig oder hinderlich sein, und der Künstler muss daher seine Jahre bedenken und danach seine Gegenstände wählen. Meine ,Iphigenie' und mein ,Tasso' sind mir gelungen, weil ich jung genug war, um mit meiner Sinnlichkeit das Ideelle des Stoffes durchdringen und beleben zu können." In der Rückschau versucht Goethe gleichzeitig zu klären, warum das von seiner Zeit nicht erkannt und daher auch auf der Bühne nicht realisiert werden konnte: "Ich hatte wirklich einmal den Wahn, als sei es möglich, ein deutsches Theater zu bilden. Ja ich hatte den Wahn, als könne ich selber dazu beitragen und als könnte ich zu einem solchen Bau einige Grundsteine legen. Ich schrieb meine ,Iphigenie' und meinen ,Tasso' und dachte in kindischer Hoffnung, so würde es gehen, Allein es regte sich nicht und rührte sich nicht und blieb alles wie zuvor. Hätte ich Wirkung gemacht und Beifall gefunden, so würde ich euch ein ganzes Dutzend Stücke wie die ,Iphigenie' und den ,Tasso' geschrieben haben. An Stoff war kein Mangel. Allein, wie gesagt, es fehlten die Schauspieler, um dergleichen mit Geist und Leben darzustellen, und es fehlte das Publikum, dergleichen mit Empfindung zu hören und aufzunehmen." (30. März 1825)

Weiterlesen