Der Künstler als Prophet des Undergrounds

Von Alexandra Mangel |
Den Maler Sigmar Polke kennt die Kunstkritik als ironischen Popkünstler, der in Düsseldorf in den 60ern zusammen mit Gerhard Richter den "Kapitalistischen Realismus" erfunden hat. Eine neue Ausstellung in der Hamburger Galerie der Gegenwart zeigt jetzt einen anderen, wilderen Polke, den der 70er Jahre nämlich - einen Polke zwischen Sex, Drugs & Rock 'n' Roll!
Gleich mit dem ersten Saal betritt man das neongrell flimmernde Herz der Ausstellung: Zehn Arbeiten auf Papier - jede 3 mal 2 Meter groß - jede ein wild collagiertes, buntes Bilderdickicht - leuchten hier von den Wänden!

Polkes komplette Werkgruppe "Wir Kleinbürger!" aus den Jahren 1974 bis 1976. Das letzte Mal vollständig vor über 30 Jahren in Bern zu sehen und erst seit wenigen Jahren wieder in einer Hamburger Privatsammlung vereint.
Kuratorin Dorothee Böhm:

"Hier geht es um fremde Welten, hier geht es um Superhelden, Göttinnen, hier geht es um Magie, Zauberei, um Demonstrationen, um friedlichen Protest, aber auch um gewaltsamen Protest! Es gibt ein Motiv, den Bombenleger aus dem seinerzeit indizierten 'Anarchist Cook Book', der eben durch eines dieser Tableaus geistert."

Motive finden, auf den Bildgrund projizieren und abmalen, durch Schablonen aufsprayen, mit Chemikalien bearbeiten. So schichtet Polke Bild auf Bild.

Aber nicht mehr der Polke der 1960er, der sich seine Vorlagen aus der Adenauer-Wirtschaftswunder-Ära greift: Würstchen, Bäckerblume, Hausfrauenglück. Die neuen Quellen der 1970er präsentieren die Kuratoren in Vitrinen und an einer prachtvollen Ausstellungswand in opulenter Fülle.

Dorothee Böhm: "Die Bildvorlagen, die er jetzt verwendet, stammen überwiegend aus linken Magazinen, Underground-Comics, und er kompiliert die eben hier zu ganz neuen Bildwelten, die zum Teil so dicht übereinander geschichtet sind, dass man sich nur schwer orientieren kann - man ist als Betrachter immer wieder gefordert, Distanz zu nehmen oder ganz nah ran zu gehen, um Details zu erkennen."

Zum Beispiel die grotesken Figuren im großen Panorama der Drogenvisionen auf Polkes Arbeit "Pille": ein bisschen, als würde man Hieronymus Bosch auf einen LSD-Comic-Trip folgen. Entnommen hat Polke das Szenario dem französischen Underground-Blatt "Actuel". Genaues, wanderndes, detailverliebtes Schauen verlangt auch das Neondickicht auf dem Bild "Supermarkets".

Dorothee Böhm: "... wo die ihrer Bestimmung nach ja eigentlich vereinzelte Comic-Heldenfigur Superman ins X-fache vermehrt wird und mit Einkaufswagen bewehrt durch einen Supermarkt streift, in dem die Warenregale prall gefüllt sind. Ein sehr witziges Element in diesem Bild ist, dass hier mit neonfarbenen Klebeetiketten absurde Waren angeboten werden - also dass hier Glück im Beutel für eine horrende Summe von 27.000, ... nee 72.580 Mark verkauft wird."

Polke nimmt solche Sehnsüchte humorvoll aufs Korn - in der Hoffnung auf alternative Lebensformen. Das macht die Ausstellung klar, indem sie um den Kleinbürger-Zyklus herum Werke von Polkes Künstlerfreunden gruppiert - von der wilden Clique, die in den 70ern auf seinem Gaspelshof am Niederrhein einfällt, von Achim Duchow und Astrid Heibach, Katharina Sieverding und Michael Buthe. Gemeinsame Experimente und Exzesse, Arbeiten und Orgien. Ein ethnologisches Interesse an der kleinbürgerlichen Angst.

Nachrichtensprecher aus der Tonbildschau von Duchow und Heibach:
"Aus St. Louis, Missouri, trafen Berichte ein, dass es über der ganzen Stadt Massen von weißen klebrigen Fasern regnete. Die Gesundheitsbehörden waren in Alarmzustand, keiner wusste eine Erklärung. Wir haben mit vielen Leuten gesprochen, sie behaupten, sie hätten zur gleichen Zeit das Geräusch von Düsenflugzeugen gehört. Könnte das etwas bedeuten?"

Eine Tonbildschau von Achim Duchow und Astrid Heibach, schon 1976 bei Polkes erster Präsentation des Kleinbürger-Zyklus in der Galerie Toni Gerber zu sehen. Camping-Idylle, Blaskapelle und Polizeiaufmarsch klicken durchs Diakarussell. Überraschender verlief damals die Ausstellungseröffnung selbst, die ein Zeitgenosse als "fürchterlichen Rieseneklat" beschrieb. Der scheint zwar nicht fotografisch fixiert zu sein, dafür allerlei anderes wildes Treiben: Fotografische Experimente auf LSD, gemeinsamer Fliegenpilzkonsum, ein sich lasziv in Schlangenhaut räkelnder Sigmar Polke:

"Er war dafür bekannt - das berichten Zeitgenossen und Zeitgenossinnen einhellig - dass er eigentlich immer eine Kamera dabei hatte. Und aus dieser unendlichen Produktion von fotografischen Aufnahmen ist ein ganz umfangreiches Oeuvre entstanden von Fotografien, die er in der Regel gegen jede fotografische Regel abgezogen und in der Dunkelkammer teilweise mehrfach belichtet hat."

Wenn man am Ende des Rundgangs wieder in das Bilderdickicht der zehn großen Kleinbürger-Arbeiten von Polke eintaucht, hat man das soziale Kraftfeld, die Subkultur kennen gelernt, für die Polke in den 1970ern das Modell der bürgerlichen Familie mit Frau und Kindern hinter sich ließ. Eine chaotisch-kreative Gang, die in der Auseinandersetzung mit dem Kleinbürger eins nie verloren hat - den Humor:

"Er wird ja grade in der jüngeren Rezeption immer als der Alchimist oder auch der gelehrte Zitateur der Hochkunst wahrgenommen und wenn man den Blick tatsächlich auf sein Werk der 70er Jahre richtet - was bisher nicht so häufig von der Kunstgeschichte getan wurde - dann entdeckt man einen viel wilderen Polke. Und dieser Atmosphäre haben wir einen eigenen Raum gewidmet und würden gern diese Atmosphäre auch wieder erstehen lassen in der Ausstellung."

Zwischenfrage Autorin: "Also, weniger Magier, mehr Anarchist?"
Böhm: "Ja, so kann man sagen."

Service:
Die Ausstellung "Sigmar Polke. Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen" in der Hamburger Galerie der Gegenwart hat drei Teile: Der erste läuft vom 13. März bis 28. Juni. Dann bleibt der zentrale Raum mit dem Kleinbürger-Zyklus erhalten, der Rest der Ausstellung wechselt aber und behandelt das Thema Pop bis Oktober.Dann kommt der dritte Teil zum Thema Politik - insgesamt bis 31. Januar 2010.