Der Krieg von ganz unten

10.11.2011
Der schwedische Historiker Peter Englund erzählt in seinem Buch "Schönheit und Schrecken" die Geschichte des Ersten Weltkriegs aus Sicht von Kavalleristen, Matrosen und Krankenschwestern. Zu Hilfe nahm er dafür Briefe und Tagebücher von 19 Menschen, die den Krieg erlebten.
Krieg ist Sommerabend, warme Luft und leise Musik in der Ferne - wenn das Schulmädchen Elfriede Kuhr im westpreußischen Schneidemühl lachende Soldaten unter begeisterten Hurra-Rufen der Bevölkerung mit dem Zug zum Erobern ferner Länder abfahren sieht. Krieg ist Verheißung und Verlockung - wenn der Versicherungsangestellte Alfred Pollard sich in London in der Freiwilligenannahmestelle nach vorne drängt, um Erster zu sein. Krieg ist Abstumpfung - wenn Herbert Sulzbach aus einer Frankfurter Bankiersfamilie an der Front in Frankreich erlebt, wie die Liste der Verwundeten und Gefallenen immer länger wird und keiner mehr weint. Krieg ist erst fröhlich und dann zerfetzte Leiber.

Elfriede Kuhr, Alfred Pollard und Herbert Sulzbach sind drei von 19 Menschen, mit deren Briefen und Tagebüchern der schwedische Historiker Peter Englund den Ersten Weltkrieg erzählt. Ein südamerikanischer Abenteurer in Diensten des Osmanischen Reiches gehört noch dazu und ein amerikanischer Chirurg, der in Paris mit wissenschaftlichem Interesse die Zerschossenen wieder zusammenflickt. Vor allem aber sind es die ganz normalen, meistens sehr jungen Soldaten aus Deutschland und Ungarn, aus Russland und Großbritannien, Frankreich und Italien und Belgien, die uns durch vier Jahre des Gemetzels geleiten.

Es ist ein vollkommen unsinniges Gemetzel. Anders als im Zweiten Weltkrieg sind Gut und Böse hier nicht auszumachen; stehen sich nicht nationalsozialistischer Verbrecherwahn und Kampf für Menschenwürde gegenüber - sondern Mächten, denen es nach vier Jahrzehnten ohne größeren Krieg in Europa mal wieder nach dem militärischen Kräftemessen gelüstete.

Peter Englund erklärt uns mit seinen Geschichten und Geschichtchen nicht, wie es zu diesem ersten Massenschlachten mit modernsten technischen Mitteln, mit U-Booten und Luftschiffen gekommen ist - und mit am Ende 15 Millionen Toten. Die Politiker und die Regenten und die Generäle mit ihren Strategien und ihrem Machtkalkül interessieren ihn nicht. Ihn interessieren die Kavalleristen und Matrosen, die Artilleristen und Krankenschwestern, die Kampfflieger, die Ambulanzfahrerin und das Schulmädchen. Es ist der Krieg von ganz unten. Sein Buch ist Geschichtsschreibung mit den Mitteln des Kriegsreporters, der Peter Englund in Bosnien, in Afghanistan und im Irak selber war. Unkommentiert, mit Analyse nur in den knapp 40 Seiten Anmerkungen; ansonsten ausschließlich nüchtern beschreibend im Reporterstil - und umso fesselnder. Und immer wieder mit knappen Auszügen aus Tagebüchern und Briefen der 19.

Die mehr als 600 Seiten bestehen aus 221 Miniaturen: von Elfriede Kuhrs Hurra-Erlebnissen in Schneidemühl am 4. August 1914 bis zum 13. November 1918, wenn der ungarische Kavallerist Pál Kelemen sich in das elterliche Haus in Budapest schleichen muss - die Offizierabzeichen unter dem Mantel verborgen. Jede Episode dauert höchstens wenige Seiten. Der Leser springt von Jerusalem nach Saloniki, von Paris nach Schneidemühl, von der Westfront nach Kairo und ins osmanisch-russische Grenzgebiet. Da können die Leser bei 19 Protagonisten leicht den Überblick verlieren - oder aber an Erkenntnis gewinnen.

Wie einzigartig unsinnig, wie irrsinnig dieser Krieg war; in dem sich die da unten, die Kämpfer in den Schützengräben, so vollkommen ähnlich waren: normale, nette, mehr oder weniger angenehme Menschen. Ohne jedes hehre Ziel oder fanatische Ideologie - außer: siegen wollen. Die da gegeneinander geschossen und einander gemetzelt haben, hätten als Urlauber friedlich miteinander in Moskau einen Wodka trinken können, in London einen Gin, in Paris einen Champagner oder in Schneidemühl ein Bier. Stattdessen ...

Krieg war, wenn in Schneidemühl einem Leutnant von seinen Soldaten die Uniformmütze vom Kopf geschlagen wird - und sich ein Soldat neben das Schulmädchen Elfriede Kuhr auf einen Stuhl fallen lässt und sagt: "Der Krieg ist tot! Es lebe der Krieg!" Und Krieg war auch, wenn Adolf Hitler, aus dessen "Mein Kampf" das bizarr-düstere Schlusswort stammt, sieben Jahre später zum 10. November 1918 schreibt: "Ich aber beschloss, Politiker zu werden."

Besprochen von Klaus Pokatzky

Peter Englund: Schönheit und Schrecken - Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt
Rowohlt Verlag, Berlin 2011
704 Seiten, 34,95 Euro