Der kaputte Riese

Die marode US-Infrastruktur

Straßenreparatur in Downtown Detroit, Michigan, USA.
Straßenreparatur in Downtown Detroit, Michigan, USA © picture alliance / dpa / Benjamin Beytekin
Von Andreas Horchler · 24.10.2016
Brücken brechen zusammen, Wasserleitungen bersten, tiefe Schlaglöcher machen Straßen unbrauchbar. Amerikas Infrastruktur ist in weiten Teilen alt und wird allenfalls notdürftig geflickt.
"Dieses Wasser kommt aus der Leitung. Sehen sie, es ist grün am Boden."
Rhonda Kelso ist verzweifelt. Aus ihrem Wasserhahn kommt eine Brühe, die krank macht.
Flint, Michigan. Das war einmal eine stolze Stadt, die wie der große Nachbar von der Autoindustrie lebte. Und wie Detroit ist auch die 100.000-Einwohner-Stadt pleite. Vor zwei Jahren stellte der Bundesstaat Michigan die Wasserversorgung in Flint um.
Trinkwasser kauften die Menschen bis dahin vom großen Nachbarn Detroit, der Wasser aus dem Lake Huron pumpt. Die Gegend ist umringt von den großen Seen, dem größten Süßwasserreservoir der Welt. Flint sollte und musste sparen und begann, Wasser aus dem hochbelasteten Flint River über die alten Bleileitungen in die Haushalte zu pumpen.

Hautausschläge, Haarausfall und Hirnschäden

Die Folge: Einwohner klagen über Hautausschläge, ihnen fallen Haare aus, sie müssen sich erbrechen. Das schmutzige Flusswasser lässt sich anders als das Wasser aus dem großen See nicht so aufbereiten, dass nur wenig Blei aus den alten Leitungen abgetragen und zum Kunden gespült wird.
Blei verbleibt im Körper, manche Kinder in flint tragen irreparable Hirnschäden davon. Der republikanische Gouverneur Rick Synder hat mit der Umstellung der Wasserversorgung völlig verantwortungslos gehandelt, klagen die Bürger. Die krank machende Wirkung von belastetem Flusswasser und alten Bleileitungen war seit langem bekannt. Eine neue Wasserinfrastruktur? Neue Leitungen?
"Das ist kein kurzfristiges Projekt. Die ganze Infrastruktur herausreißen und ersetzen. Das würde eine lange Zeit in Anspruch nehmen. Ich meine, ich wünschte, man hätte etwas anderes gemacht."
Die kommunalen Kassen sind leer. Bleileitungen ersetzten ist keine Option. Anderswo sind sie verboten, in Amerika nicht. Überall im Land sind sie in der Erde vergraben. Das Wasser wird so aufbereitet, dass es keine Bleipartikel von den Rohren löst. Mit dem Schadstoff-belasteten Flusswasser aus dem Flint River ist das nicht möglich.
Wie überall im Land wird öffentlich gespart, nicht investiert. Im drastischen Fall Flint sind Menschen erkrankt, weil die Infrastruktur alt ist.
Jeden Morgen quälen sich über 100 Millionen Autofahrer durch den Stau:
Staumelder gibt es viele. Aber keinen guten öffentlichen Nahverkehr. Ein Drittel aller Autobahnen ist überlastet. Dazu kommen Fahrbahnsperrungen wegen riesiger Schlaglöcher. Oder eine marode Brücke kann aufgrund akuter Einsturzgefahr nicht mehr benutzt werden. US-Verkehrsminister Anthony Foxx sieht dringenden Handlungsbedarf. Und beschwört die große Vergangenheit.
"Sind wir noch dasselbe Land, das die Golden Gate Bridge, grandiose Bahnhöfe und unser Highway-System gebaut hat? Die eindeutige Antwort ist: Ja!"
"Wenn sie mich fragen, ob wir dieses Erbe für unsere Kinder erhalten, dann ist die Antwort ein klares Nein!"

"Die Republikaner wollen sämtliche Ausgaben kürzen"

Wie konnte die Supermacht soweit zurückfallen? Norman Mineta war in den 90er-Jahren Wirtschafts- und Verkehrsminister unter Bill Clinton. Er gibt den Republikanern im Kongress die Schuld - vor allem ihrer Steuersenkungs-Ideologie.
"Die unterscheiden einfach nicht zwischen nötigen Investitionsausgaben und Konsum-Ausgaben. Sie wollen sämtliche Ausgaben kürzen."
Während früher Sechs-Jahres-Budgets üblich waren, erlauben die Republikaner nur noch kurzfristige Pflaster-Lösungen. Und durchkreuzen damit Obamas Wunsch nach einem großen Infrastruktur-Programm:
"Statt Steuerschlupflöcher zu schützen, die nur dazu führen, dass US-Unternehmen ihre Profite im Ausland horten, sollten wir dieses Geld investieren, um Amerika wiederaufzubauen."
Denn Geld wäre eigentlich ausreichend vorhanden. Viele Pensionsfonds in den USA legen ihre Milliarden im Ausland an. Dabei sieht der Verband amerikanischer Ingenieure in den USA einen Investitionsstau von mehr als drei Billionen Dollar. Mit einem teils öffentlich, teils privat finanzierten Infrastruktur-Programm würde Obama gerne hunderttausende neuer Jobs schaffen. Doch das ist für die Republikaner tabu: Neue Arbeitsplätze schaffen, das sei Sache der privaten Wirtschaft. Der Staat soll lieber sparen.
Der G-Train im Stadtteil Brooklyn, gegen halb elf nachts. Passagierin Katie Laura erzählt, was passierte.
"Es war so ein quietschendes, metallisches Schleifen – dann hielt die Bahn, und lehnte sich etwas zur Seite."
Der Zug entgleiste, weil sich Betonteile von der Decke gelöst hatten und auf den Gleisen lagen. Rund 80 Passagiere mussten durch den Tunnel zur nächsten Station laufen. Ernsthaft verletzt wurde zum Glück niemand.

"Man kann das System nicht ohne Geld betreiben"

Am 27. 10. 1904 wurde die New Yorker U-Bahn eröffnet. Gefeiert von Jazz-Legende Duke Ellington und in unzähligen Filmen. Heute betreibt sie die staatliche Metropolitan Transportation Authority, die MTA. Sie bedient über 1000 Streckenkilometer in New York. Unverzichtbar, aber mehr schlecht als recht, beschwert sich der Verband der Fahrgäste, namentlich Nick Sufuentes.
"Verspätungen, stundenlang im Tunnel stecken bleiben, gefährlich überfüllte Bahnsteige und was wir immer wieder hören: mangelnde Informationen."
6383 U-Bahn Waggons befördern Tag für Tag Millionen Passagiere – an einem durchschnittlichen Werktag sind es inzwischen rund 5 ½ Millionen, rund das Dreifache der Hamburger Bevölkerung. Für die Bürgerbewegung "Citizens Budget Commission" trägt die New Yorker U-Bahn schwer an ihrer Vergangenheit.
"Die MTA hat in ihrer Geschichte in den 70ern und 80ern kaum Mittel gehabt. Da haben sie kaum investiert. Sie hatten gar keine andere Wahl. Manche U-Bahn-Station haben über Jahre keine Reparaturen gesehen. Manche Reparaturen, die zuletzt passierten oder jetzt im Kapitalplan stehen – sie sind die ersten nennenswerten seit dem Bau der Stationen."
Die U-Bahn, Rückgrat der dicht besiedelten Metropole New York. Über ihre Finanzierung aber gibt es Streit zwischen Stadt und Staat um Hunderte von Millionen Dollar. Und der Kapitalplan 2015 bis 2019 gilt zwar seit Anfang 2015, wurde aber erst nach langem Gezerre verabschiedet. Da kann sich MTA Chef Thomas Prendergast schon mal in Rage reden.
"Man kann das System nicht ohne Geld betreiben. Nicht ohne ein vernünftiges Reparaturprogramm. Nicht ohne Ausbau, wenn man seine Status als einer der Nr. 1 Städte in der Welt erhalten will. So weit ist mein Frust inzwischen."
Vernachlässigungen und Verspätungen, Verfall und Versagen – da kann es sogar schon mal vorkommen, dass es die New Yorker Rattenplage bis in einen fahrenden U-Bahn-Zug hinein schafft.

Amerikaner stizen jedes Jahr 90 Minuten im Dunkeln

Phil Blair sorgt sich um die Bäume. Was man ihnen antut, zeigt er an einem Experiment:
"Sie sind ein Baum, breiten sie die Arme aus. Die wollen ihren Kopf abschneiden damit die Stromleitungen durch ihren Hals gehen können."
Die Folge, der Stamm verrottet, der Baum fäll leichter um und reißt ein Stromkabel mit sich.
Der Baum-Henker heißt Stromversorger Pepco. Phil ärgert sich ziemlich über das Unternehmen:
"Wenn in meinem Kühlschrank das Essen verrottet nach drei Tagen Stromausfall interessiert das Pepco nicht."
Fast jedes Jahr muss er ein paar Tage ohne Licht, Klimaanlage, Heizung oder Internet auskommen. Phil ist Rentner, aber immer mehr Nachbarn arbeiten von zu Hause aus. Ein Stromausfall bedeutet für sie mehr als nur eine vergammelte Tiefkühlpizza. Während Japaner nur vier Minuten im Jahr im Dunklen sitzt, sind es in Amerika im Durchschnitt anderthalb Stunden.
William Großman weiß das alles. Er ist bei Pepco für die Stromverteilung zuständig. Großman ist ein ernster Mann, dessen Stimmung sehr vom Wetter abhängt. Sturm und Regen bedeuten wieder umgefallene Bäume, abgerissene Stromkabel, schimpfende Kunden.
"Die Stürme werden immer heftiger, das Wetter immer schlechter, die Vorhersagen sind beängstigend."
Auf diese Aussichten hat die Stadt reagiert. 60 Prozent aller Stromleitungen sollen in den nächsten Jahren unter die Erde verbuddelt werden. Eine Milliarde Dollar wird das Kosten, verteilt auf die Stadt, Pepco und die Haushalte. Der Aufwand ist riesig. Straßen müssen aufgerissen werden, noch mehr Stau in der Stadt des Stillstandes.
Doch der Blackout bei jedem Windstoß kostet die amerikanische Wirtschaft inzwischen 150 Milliarden Dollar im Jahr.
Autofahren im Großraum Los Angeles? Kein Spaß. Die Straßen: ein Flickenteppich. Vier Milliarden Dollar fehlen, um nur die schlimmsten Schäden zu reparieren. Das Geld ist aber nicht da – und das Autofahren wird so schon mal zum Abenteuer. Der Freeway 10 – es rumpelt und rattert ganz gewaltig. Es fühlt sich eher wie in einer Waschmaschine im Schleudergang an als auf einer Straße. Der Straßenbelag sieht aus wie zusammengeflickt, besteht aus verschiedenen Beton und Asphaltarten und immer wieder: Schlaglöcher.

Der Tunnel ist marode

Die Stadt Los Angeles bewertet ihre Straßen nach dem Schulnotensystem A ist super, F miserabel. 40 Prozent der Straßen Los Angeles haben derzeit ein D oder F bekommen und müssten dringen repariert werden. Aber im Straßen und-Verkehrsamt wurde jahrelang Misswirtschaft betrieben, wie Wirtschaftsprüfer Ron Galperin im vergangenen Jahr aufgedeckt hat. Zum Beispiel ist unklar, wie viele Schlaglöcher die Behörde überhaupt schon gefüllt hat:
"In 60 Prozent der Fälle gab es keine Unterlagen darüber ob das Loch gefüllt wurde und wie der Zustand der Straße danach war."
Die Folge des Berichts: das Geld für Reparaturen wurde vorübergehend eingefroren, die Reparaturarbeiten standen still. Die schlechten Straßen sind für Autofahrer aber nicht nur unangenehm, sondern auch teuer. Laut einer neuen Studie kosten unter anderem Schäden durch Schlaglöcher den Autofahrer durchschnittlich über 1000 Dollar an Reparaturkosten im Jahr. Aber selbst wenn es in Los Angeles mal großflächige Reparaturarbeiten gibt, droht das nächste große Problem:
Als die verkehrsintensive Autobahn 405 in LA im Jahr 2011 für dringende Arbeiten geschlossen werden musste, verlor die Stadt eine ihrer wichtigsten Verkehrsadern. In den Medien war die Rede von "Carmageddon". Straßen zu schließen ist hier besonders dramatisch, denn ohne Auto geht in Los Angeles nichts. Das hat mit der jungen Geschichte der Stadt zu tun, erklärt Verkehrsexperte Alan Pisarski:
"Die Stadt wuchs vor allem im Zeitalter des Autos nach den 40er-Jahren. Es gibt kein richtiges Zentrum in der Stadt, sie ist weit auseinander gerissen."
Das ist auch ein Problem für den öffentlichen Nahverkehr. Busse brauchen Stunden von A nach B. - und stehen natürlich auch im Stau.
Das ist die Paradestrecke des amerikanischen Bahnbetreibers Amtrak: Der Nord-Ost-Korridor, von Boston über New York bis nach Washington. Hier fahren die Acela-Züge, bis zu 240 Stunden-Kilometer schnell. Allerdings: Alte Gleise, Brücken und Tunnel bremsen den Zug immer wieder ab. So wie in Baltimore. Hier quält sich der schnellste Zug der USA durch einen schmalen, historischen Tunnel unter der Stadt hindurch. Der Tunnel ist marode, Wasser dringt durch den Backstein, der Unterhalt kostet vier Millionen Dollar im Jahr.
Backstein war Stand der Technik - vor 140 Jahren, kurz nach dem Bürgerkrieg, als der Tunnel gebaut wurde. Mill Ginsbourgh erzählt, Lehm für die Ziegel war billig und reichlich vorhanden:
Ginsbourgh ist Eisenbahn-Fan. Er sitzt mit anderen Interessierten in ihrem Vereinsarchiv, gleich gegenüber des Tunnelportals. Ginsbourgh sagt, massive Bauwerke waren ihr Markenzeichen.
"Aber niemand hat erwartet, einen Tunnel zu bauen, der 200 Jahre halten muss."
Wirft Alexander Mitchell ein.

Die Menschen werden krank

Die stolze Pennsylvania-Railroad gibt es längt nicht mehr, jetzt gehört der Tunnel Amtrak. Der staatliche Betreiber übernahm in den 70er-Jahren, was vom Personenverkehr der Privatbahnen noch übrig war. Amtrak war von Anfang an unterfinanziert - und das spürt man besonders am Nordost-Korridor zwischen Washington und Boston. Hier steigen die Passagierzahlen, der Betrieb deckt seine Kosten. Aber das reicht nicht, beklagte Amtrak-Chef Joseph Boardman im Kongress:
"Meine Sorge ist die Betriebssicherheit der Bahn: Was wir tun für unsere Oberleitungen, unsere Tunnel in New York oder Baltimore, unsere Einfahrts-Brücke nach New York, die nicht mehr immer richtig schließt. Die Finanzierung für den Korridor liegt weit zurück."
Die amerikanische Trinkwasser-Infrastruktur ist in weiten Teilen am Ende ihres Lebenszyklus angekommen. Nein, nicht nur in Flint, Michigan. Fast eine Viertelmillion Rohrbrüche pro Jahr zählt der Wasserverband AWWA. Die Kosten für eine landesweite Sanierung werden auf einen Betrag weit jenseits der Billionen-Dollar-Marke geschätzt. Die US-Hauptstadt Washington hat ihre eigenen Wasserprobleme. Ein Prozent des Leitungssystems wird pro Jahr saniert. Mehr ist nicht machbar.
Die Great Falls am Potomac-Fluß, ein paar Kilometer westlich der Stadt. Imposante Felsen, herabstürzendes Wasser, ein Park mit alten Bäumen. Oberhalb der Wasserfälle entnimmt der Versorger DC-Water das Trinkwasser für die US-Hauptstadt, bereitet es auf, bringt es in die Haushalte der knapp 660.000 Einwohner.
Unten in der Stadt, einen Steinwurf vom US-Kapitol entfernt, arbeitet ein Bautrupp in gelben Uniformen. Projektmanagerin Lopa Singh und ihre Arbeiter ersetzen Hauptleitungen.
"Diese Leitung hier stammt so ungefähr aus dem Jahr 1883."
Alt, aber nicht die älteste Struktur in Washington.
George Hawkins ist Vorstandsvorsitzender von DC Water. Sein Büro ist im Südosten der Stadt. Hier wird das Abwasser in einer modernen Anlage nach Gebrauch wieder aufbereitet. Das Leitungssystem ist alles andere als modern.
"Das Durchschnittsalter einer Hauptleitung in Washington DC beträgt 79 Jahre. Das bedeutet, die Hälfte unseres Leitungssystems ist älter. Wir haben in der Nähe des Weißen Hauses Leitungen, die immer noch in Betrieb sind und vor dem amerikanischen Bürgerkrieg verlegt wurden. Der Bürgerkrieg endete 1865. Es ist also ein sehr altes System."
Die Menschen in Flint, Michigan werden krank. Wegen alter Bleirohre und belastetem Flusswasser.
Nicht einmal im überschaubaren Hauptstadtbezirk scheint eine Erneuerung in einer vertretbaren Zeit machbar. Alte Rohre werden geflickt. Immer wieder, wie die Schlaglöcher, wie die Stromleitungen auf Holzmasten, die bei Stürmen umfallen, wie die Schienen, wenn ein Zug entgleist, wie die Brücken, wenn ein Pfeiler wegbricht.