Der Kanzler der Notverordnungen

Von Bernd Ulrich · 26.11.2010
War er das letzte Bollwerk der Demokratie von Weimar oder ihr Totengräber? Heinrich Brüning, - über zwei Jahre Reichskanzler, eiserner Verfechter einer rigorosen Sparpolitik im Zeichen der Weltwirtschaftskrise -, regierte vor allem mit Notverordnungen und damit am Parlament vorbei. Heute vor 125 Jahren wurde er geboren.
Rudolf Ditzen, besser bekannt unter seinem früh gewählten Pseudonym Hans Fallada, beschreibt in einem Brief vom September 1930 die wirtschaftliche Lage in Deutschland:

"Ob es besser wird, wer weiß. Es sieht trübe aus, und alle Bekannten, Angestellte wie ich, zittern vor jedem Kündigungstag. Gottlob brauche ich das nicht mehr, aber heute sind ja selbst die sichersten Firmen nicht mehr sicher."

Fallada hatte keinen Grund zur Sorge. Seine frühen Romane verkauften sich in der Wirtschaftskrise gut, gerade weil sie die Verelendung und Verarmung der Menschen thematisierten.

Mitverantwortlich für solche Verhältnisse war der seit dem 30. März 1930 amtierende Reichskanzler Heinrich Brüning. Geboren als Heinrich Aloysius Maria Elisabeth Brüning am 26. November 1885 im katholischen Münster, wurde der promovierte Volkswirt im Ersten Weltkrieg zum hochdekorierten Frontoffizier bei den Maschinengewehr-Scharfschützen, einer 1916 gebildeten Eliteformation. Über seinen Dienst in der kaiserlichen Armee wird er in seinen Memoiren schreiben:

"Weder früher noch später in meinem Leben habe ich etwas Gleiches an gegenseitigem Vertrauen, unabhängiger Gesinnung, Anpassungsfähigkeit, Humor und Selbstaufopferung erlebt."

Der Verlust dieser Welt wird ihn sein Leben lang beschäftigen. Auch die Jahre seiner Kanzlerschaft vom 30. März 1930 bis zum 30.Mai 1932 dienen Brüning als Möglichkeit, Verlorenes wiederzugewinnen. Der Historiker und Brüning-Fachmann Rudolf Morsey fasst Verlorenes und Wiederzugewinnendes so zusammen:

"Monarchie, Preußentum, militärische Gleichberechtigung, Ausgleich für territoriale Einbußen und wirtschaftliche Sicherheit. Dafür nahm er die zeitweilige Außerkraftsetzung der parlamentarischen Demokratie und Massenverelendung in Kauf, verbunden mit einer befristeten Not- und Erziehungsdiktatur."

Mit Letzterem ist die schrankenlose Anwendung des Verfassungsartikels 48 gemeint. Er diente ursprünglich eher dem Schutz der Republik als ihrer Beschädigung. Genau dies aber strebte eine nationalkonservative Kamarilla um den 1925 erstmals gewählten Reichspräsidenten und maßlos glorifizierten kaiserlichen Feldmarschall a.D. Paul von Hindenburg an.

Heinrich Brüning schien als Frontkämpfer, als Vorsitzender der Zentrumsfraktion im Reichstag, als Finanzexperte und ausgewiesener Vertreter einer national-konservativen Staatsgesinnung dafür der rechte Mann. Als er im Frühjahr 1930 von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wird, ist dies der Anfang vom Ende des parlamentarischen Systems im Deutschen Reich. Schon wenige Monate später nutzt Brüning zum ersten Mal den Artikel 48, lässt den Reichstag auflösen und Neuwahlen ausschreiben, weil das Parlament ihm die Zustimmung zu seinen rigiden Sparplänen verweigert. In einer Wahlkampfrede führte er aus:

"Der Reichstag war nicht mehr arbeitsfähig, weil er in Interessengruppen zerfiel. Man würde an dem gesunden Sinn des deutschen Volkes verzweifeln, wollte man den letzten Reichstag noch als Ausdruck des Volkswillens ansehen. Einen Reichstag aber zu wählen, der dem Volkswillen entspricht, das liegt bei Ihnen, meine Damen und Herren."

Dem von Brüning beschworenen "Volkswillen" entsprach es, dass die NSDAP in den Wahlen vom 14. September 1930 dramatische Zugewinne zu verzeichnen hatte. Dass Brüning im Übrigen selbst mit seiner Wirtschafts- eine reine Interessenpolitik betrieb, verdeutlichte der Sozialdemokrat Rudolf Breitscheid im gleichen Jahr:

"Nie aber hat, so stellen wir fest, die Interessentenpolitik größere Triumphe gefeiert, als unter der Regierung Brüning. Sie schränkte vor allem die Leistungen der Arbeitslosenversicherung ein und führte einen schweren Schlag gegen die Krankenversicherung. Sie erließ die Gesetze, die der Reichstag ablehnte, auf dem Wege der Verordnungen und erschütterte damit die Grundlagen unseres Staatswesens."

Über 100 Notverordnungen hat Brüning im Laufe seiner Amtszeit erlassen und zäh an seinem brutalen Sparkurs festgehalten. Gehörte Heinrich Brüning zu den Totengräbern der Weimarer Demokratie? Auf jeden Fall hat er sie durch sein Präsidialregime geschwächt und damit Hitlers Wahlerfolgen den Boden bereitet. Und dies in einer Zeit, in der sich die politischen und wirtschaftlichen Eliten und ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nicht allein, aber vor allem in Deutschland nach einer autoritären Führung geradezu sehnten.