Der Kampf um Identität

Von Camilla Hildebrandt · 22.02.2010
Die oppositionellen Eltern von Victoria Donda verschwanden während der argentinischen Militärdiktatur. Sie wuchs bei einem regimetreuen Paar auf. Erst mit 27 Jahren entdeckte sie ihre wahre Herkunft. Ihren revolutionären Geist habe sie von ihrer Mutter geerbt, sagt Donda.
Victoria Donda: "Meine Mutter verschwand im März 1978. Sie brachten sie zunächst in ein Folterlager in der Provinz, danach in die Technikschule der Marine, eins der wichtigsten Folterzentren. Denn sie war schwanger. Meinen Vater entführten sie drei Monate später. Viel mehr weiß ich nicht über ihn."

Aus dem Song "Obras cumbres" von Charly García:
"Die Freunde aus dem Viertel, die könnt ihr uns nehmen,
Genauso wie die Sänger im Radio, die Leute in den Zeitungen, den Menschen, den du liebst (...)
Aber die Dinosaurier, die werden eines Tages wirklich verschwinden, aussterben."

… singt Charly García, einer der bekanntesten Rocksänger in den 70er-Jahren über die Praxis der "Dinosaurier" - der Militärjunta – Regimekritiker einfach "verschwinden" zu lassen. Er riskierte mit diesem Lied sein Leben. Ähnlich wie Victoria Dondas Eltern.

"Sie waren in der linken Organisation Montoneros. Meine Mutter arbeitete in den Armenvierteln, brachte den Kindern Lesen und Schreiben bei und ihren Müttern Nähen. Mein Vater war im organisatorischen Bereich. Sie waren für das Militär, das 1976 die Macht übernahm, suspekt, weil sie für ein Land kämpften, das für alle ist."

In der Technikschule der Marine, kurz ESMA, kommt im Herbst 1977 Victoria zur Welt. Keine zwei Wochen später wird sie der Mutter entrissen und dem militärfreundlichen Paar Raúl und Graciela übergeben. Erst mit 27 habe sie schließlich herausgefunden, wer sie wirklich ist, erzählt sie heute ganz ruhig. In ihrem Buch schreibt die junge, schmale Frau mit den dunklen Augen und langen, schwarzen Haaren:

"Mein wahres Leben beginnt nicht mit 27 Jahren, ebenso wenig, wie man alles, was mir zuvor passierte, nicht einfach als eine glatte Lüge bezeichnen kann. In dem Sinne ist das nicht nur meine Geschichte (...) , sondern die Argentiniens, und somit eine Geschichte der Intoleranz, Gewalt und der Lügen, deren Folgen auch heute noch spürbar sind."

Zu Analías Schulzeit – so nannten ihre Adoptiveltern sie - wurde eine sehr einseitige Version der Geschichte gelehrt: die der ruhmreichen Armeehelden und der gott- und vaterlandslosen Aufständischen. Auch sie selbst zweifelte diese Version nicht an, bis sie mit 13 von einem Pater ihrer Schule ein Buch von Che Guevara geschenkt bekam:

"Das war für mich plötzlich eine ganz andere Art, das Leben zu sehen, das heißt die Armen waren nicht immer arm, und für die geringe Anzahl der Reichen gibt es einen Grund. Ja, so fing das damals an."

Nach der Schule beginnt die junge Frau Jura zu studieren und sich politisch zu engagieren. Der revolutionäre Geist ihrer wahren Mutter Cori, sagt sie heute lachend, habe sich damals schon gezeigt:

"Auch wenn ich mich noch nicht in ihr wiedererkennen konnte: Hier war Cori zugange, die einfach aus Prinzip jede Behauptung, die endgültig klang, erst einmal in Frage stellte, aber ihrerseits wiederum Behauptungen aufstellte, für die es keine Relativierung gab."

Dank der Aufklärungsarbeit der "Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo" erfährt Victoria Donda - damals noch Analía - von ihrer wahren Identität. Seit 1977 protestiert diese Organisation gegen das Unrecht des Verschwindenlassens und fordert die Bestrafung der Schuldigen.

"Sie suchen außerdem ihre Nichten und Neffen, denn in Argentinien gibt es rund 500 Kinder, die sozusagen entführt wurden. Wir glauben heute, dass die wahre Identität der Kinder wiederzuerlangen bedeutet, die Identität des gesamten Volkes wiederherzustellen."

Aus dem Song "Acústico, en vivo" von Mercedes Sosa:
"Man sagt, dass das Reisen das Herz stärkt
Denn neue Wege gehend vergisst man das Vergangene
Hoffentlich passiert das bald
Denn so könnte mein Schmerz ruhen
Bis zum nächsten Mal ..."

Fast zur gleichen Zeit, als Victoria mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird, beginnt in Argentinien auch eine neue Phase der Aufarbeitung. Präsident Nestor Kirchner beschließt 2003, die Amnestiegesetze und Gnadenerlasse aufzuheben, die vor allem die Militärs geschützt hatten. Victoria Donda erfährt so, dass ihr vermeintlicher Vater Raúl im Folterlager gearbeitet hatte. Und ihr eigener Onkel, der Bruder ihres wahren Vaters, hatte damals ihre Eltern verraten.

"Wo Massaker passieren, kennt es keine Grenzen. So war es auch bei uns. Adolfo war der einzige Bruder meines Vaters, der ältere und einer der Hauptverantwortlichen im Folterlager. Er war anwesend, als meine Mutter mit mir schwanger gefoltert wurde."

Victoria Donda ist heute mit 33 Jahren die jüngste Abgeordnete im argentinischen Parlament und die Vorsitzende der Kommission für Menschenrechte. Sie kämpft wie ihre Eltern für eine sozialere Gesellschaft. Ob sie noch Kontakt zu Graciela und Raúl hat, ihren Adoptiveltern?

"Für mich war er trotzdem mein Vater und wird es auch weiter sein, denn er hat mich mit Liebe erzogen. Die Wahrheit ist, dass man Gefühle nicht werten kann. Ihn zu hassen, würde mir eher weh tun. Es gab schon so viel Hass in meinem Leben, dass ich entscheide, ihn zu lieben und das argentinische Gesetz ihn dafür richten soll, was er getan hat."

Service:
Victoria Dondas Buch "Mein Name ist Victoria - Verschleppt von der Militärjunta" ist im Knaur-Verlag erschienen und kostet 16,95 Euro.
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