Der Jahrhundertspion

Von Vera Schneider · 25.05.2013
Der österreichische Offizier Alfred Redl hatte jahrelang österreichische Militärgeheimnisse an Italien, Russland und Frankreich verraten. Seine Enttarnung im Jahr 1913 war ein Skandal. Zu seiner Legendenbildung trug auch seine angebliche Homosexualität bei.
Wien, 24. Mai 1913. Ein Herr in unauffälligem Zivil betritt das Hauptpostamt und holt einen Brief ab. Er ahnt nicht, dass die Sendung geöffnet wurde und Verdacht erregt hat: Postlagernd aufgegeben an der russischen Grenze, große Geldscheine im Kuvert. Alles deutet darauf hin, dass der Empfänger ein Spion ist.

Detektive heften sich an die Fersen des Unbekannten. Zunächst kann er sie abhängen, doch sie nehmen die Spur unbemerkt wieder auf und verfolgen ihn bis ins Hotel. Was sie dort über seine Identität erfahren, verschlägt ihnen die Sprache. Es handelt sich um Oberst Alfred Redl, den hoch angesehenen Generalstabschef des VIII. Armeekorps in Prag. Sofort wird eine Untersuchungskommission ins Hotel geschickt.
Der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch hat die Ereignisse der folgenden Nacht rekonstruiert:

"‚Ich weiß, weshalb die Herren kommen‘, bringt [...] [Redl] langsam hervor. ‚Ich habe mein Leben verwirkt und bin eben im Begriffe, Abschiedsbriefe zu schreiben.' [...] Auf die Frage nach dem Umfang seines Verrates, nach dessen Details und Dauer hat er zur Antwort, alle Beweise würden sich in seiner Prager Dienstwohnung im Korpskommandogebäude finden. Die Kommission gibt sich damit zufrieden. Bevor sie das Zimmer verläßt, fragt einer: ,Eine Schusswaffe haben Sie, Herr Redl?‘
Oberst Redl: ‚Nein.‘
Das Mitglied der Kommission: ‚Sie dürfen um eine Schusswaffe bitten, Herr Redl.‘ Redl: ‚Ich bitte – gehorsamst – um einen – Revolver.‘"


In den frühen Morgenstunden des 25. Mai 1913 tötete sich Alfred Redl mit einem Schuss in den Mund. Die Durchsuchung seiner Prager Wohnung ergab, dass er seit Jahren Kopien militärischer Dokumente an Russland, Frankreich und Italien geliefert hatte. Auch die Enttarnung zahlreicher österreichischer Spione ging auf sein Konto. Als Vizechef des k. u. k. Nachrichtendienstes saß er an der Quelle.

In seiner Autobiografie "Die Welt von gestern" schrieb Stefan Zweig über den Fall:

"Ein Schauer des Entsetzens ging durch die Armee. Alle wussten, daß im Kriegsfall dieser eine Mensch das Leben von Hunderttausenden gekostet hätte und die Monarchie durch ihn an den Rand des Abgrunds geraten wäre; erst in dieser Sekunde begriffen wir in Österreich, wie atemnahe wir im vergangenen Jahr dem Weltkrieg schon gewesen."

Die Hausdurchsuchung in Prag brachte noch mehr ans Licht: parfümierte Liebesbriefe und Aktfotos von jungen Männern. Der Topspion war homosexuell.
Vertuschungsversuche seitens der Militärspitze behinderten die Aufklärung und förderten die Legendenbildung. Homosexualität war damals noch strafbar; man vermutete eine Erpressung.

Der größte Spionageskandal in der Geschichte der Donaumonarchie blieb rätselhaft – und wurde zum attraktiven Sujet für Literatur, Theater und Film. Der ungarische Regisseur István Szabó etwa zeichnete 1985 das Porträt eines ehrgeizigen Emporkömmlings. Redl als Machtmensch, gespielt von Klaus Maria Brandauer:

"Wir, die Offiziere der Monarchie, müssen mit gutem Beispiel vorangehen, damit die Bevölkerung Vertrauen in uns hat und weiß, dass der Kaiser und die Monarchie sie beschützen wird. Meine Frage lautet: Braucht die Monarchie euch persönlich? Jeden Einzelnen von euch persönlich? Hier und auf diesem Posten? Gebt euch die Antwort selbst. Ich warte."

Alfred Redl musste als Projektionsfläche für wechselnde Feindbilder herhalten: In den Augen der Moralwächter verkörperte er den sittlichen Verfall der Donaumonarchie. Doch es mehrten sich Stimmen, die ihn als Sündenbock einer maroden Armee und als Märtyrer in einer homophoben Gesellschaft bezeichneten.

Die Historiker Verena Moritz und Hannes Leidinger brachten 2012 mit einem akribisch recherchierten Buch Licht in das Dickicht der Mythen. So wiesen sie nach, dass Alfred Redl vom russischen Geheimdienst nicht erpresst wurde, sondern von sich aus seine Dienste anbot. Denn er brauchte das Geld für seine Liebhaber und seinen luxuriösen Lebensstil. Zu jener Welt mit teuren Autos und Champagner-Gelagen hätte der Sohn eines Lemberger Bahnbeamten sonst niemals Zutritt gehabt – trotz seiner steilen Militärkarriere.

War der "Jahrhundertspion" Alfred Redl Täter oder Opfer? Egon Erwin Kisch sah es so:

"[...] die Staaten selbst sind die Auftraggeber dieses Verbrechens, das die Staaten selbst bestrafen, mit dem Tod durch den Strang oder der Verbannung nach der Teufelsinsel oder mit dem Befehl zu Selbstmord."